Schweitzer Fachinformationen
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Zürich, 16. Dezember
Ein feuchter Wind pfiff durch die fast menschenleere Langstrasse. Die schweren Schneeflocken lösten sich auf, bevor sie den Boden berührten. Ein Pappbecher rollte über den Gehsteig und wurde vom Luftzug eines vorbeifahrenden Busses der Zürcher Verkehrsbetriebe in die Höhe gewirbelt. Der vermummte Passant ging dicht an den Hauswänden entlang, um sich vor der nassen Kälte zu schützen. Im Volksmund wurde der Kreis 4 auch »Chreis Cheib« genannt. Die Bezeichnung stammte von Tierkadavern, früher als »Cheiben« betitelt, die hier vergraben worden waren. Heute wurde der Name von den Quartierbewohnern mit trotzigem Stolz verwendet, und man dachte dabei an das dort ansässige Rotlichtmilieu. Irgendwann würde es an der Langstrasse aussehen wie in jedem beliebigen Szenequartier, mit den immer gleichen Labels und trendigen Bars, die man überall auf der Welt fand. Die Aussichten der Kontaktbars, der schummrigen Striplokale und des horizontalen Gewerbes waren nicht sonderlich gut. Verschwinden würden sie aber nicht, denn war ein florierendes Rotlichtmilieu nicht seit jeher die Schattenseite jeder reichen City? Und dass Zürich reich war, durfte man von der Schweizer Finanzmetropole mit gutem Recht behaupten. Geld und Verbrechen haben sich schon immer gegenseitig angezogen. An diesem Abend jedoch herrschte aufgrund des Katzenwetters Katerstimmung.
Dem ganz in Schwarz gekleideten Mann kam das schlechte Wetter gelegen, auch die seit dem Ausbruch des Coronavirus omnipräsente Maske passte ideal zu seinem Vorhaben. Die Pandemie war zwar weitgehend unter Kontrolle, trotzdem war der Atemschutz geblieben und gehörte nun in Zürich zum Straßenbild, wie man es seit Längerem aus den asiatischen Großstädten kannte. Ob es sich dabei um eine Hygienemaske, einen Halsschlauch oder eine selbstgenähte Kreation handelte, spielte für ihn keine Rolle. Hauptsache, das Gesicht war bis unter die Augen verdeckt. Denn in einer Zeit, in der Selbstverwirklichung und staatliche Kontrolle die wildesten Blüten trieben, war es fast unmöglich, nicht irgendeiner tanzenden Tiktokerin, einem Selfie-Jäger oder einer dieser halbrunden Sicherheitskameras vor die Linse zu laufen. Von den unzähligen weiteren neugierigen Augen und Ohren einer der kleinsten Großstädte - oder der größten Kleinstädte - der Welt einmal ganz zu schweigen. Schlechte Voraussetzungen für jemanden, der vorhatte, ein Verbrechen zu begehen. Doch dann war die Maske gekommen und das Problem hatte sich wie von selbst erledigt. Dazu war jetzt noch eine Schlechtwetterfront vom Atlantik her über der Schweiz aufgezogen, die es ihm erlaubte, seinen Körper unter einem bis über die Knie reichenden Mantel und das Gesicht zusätzlich unter der Krempe eines klassischen Borsalino zu verbergen.
Perfekt.
Er drückte den Bügel seiner schwarzen Gesichtsmaske über der Nase zusammen, zog den weichen Hut tief ins Gesicht und lief mit zügigen Schritten durch die Langstrasse. Er versuchte so unauffällig wie möglich zu gehen, was ihm seltsamerweise schwieriger vorkam, als er gedacht hatte. Konnte das geübte Auge eines Polizisten einen Verbrecher an seinem Gang erkennen? Die schuldbewusste Miene als Kleinkind, das etwas angestellt hat, lernen die meisten im Laufe des Lebens zu verbergen. Aber gibt es einen Gang, der einen verrät?
Der ganz in Schwarz gehüllte Mann nahm seinen Hut in die Hand und schüttelte sowohl den nassen Schnee als auch seine wirren Gedanken ab. Es galt nun, sich auf die Aufgabe zu konzentrieren. Er ließ die berühmt-berüchtigte Lugano Bar rechts liegen und vergrub sich tief in seinen dicken Mantel. Er überquerte die Straße und begab sich ins Innere des Bermudadreiecks, das von der Brauer-, der Hohl- und der Langstrasse begrenzt wurde. In diesen düsteren Nebengassen befanden sich die einschlägigen Bars und Bordelle. Die City war hier ein Haifischbecken und keine Postkartenidylle.
»Hallo, Süßer, soll ich dich ein bisschen aufwärmen?«, säuselte eine Prostituierte aus einem schummrigen Hauseingang heraus. Er schüttelte den Kopf. Heute nicht, morgen nicht, grundsätzlich nicht. Dennoch blieb er kurz stehen.
»Ist viel zu kalt. Gehen Sie doch nach Hause«, sagte er mit freundlicher Stimme.
»Die Miete muss auch im Winter bezahlt werden«, lautete die ehrliche Antwort.
Er hob die Hand zum Gruß und machte sich wieder auf den Weg. Wenn die kleine Gasse, die er anvisierte, verwaist wäre, würde er umdrehen, in seinem warmen Wohnzimmer die Serie »Breaking Bad« auf Netflix weiterschauen und irgendwann in einen tiefen Schlaf fallen. Wenn aber der Kerl, der regelmäßig Drogen im Quartier, ja sogar auf den Schulhöfen verkaufte - präziser: verkaufen ließ -, auch heute sein schmutziges Geld eintriebe, dann würde die Serie warten müssen. Der Dealer hatte bislang nie länger als einige Tage hinter Schloss und Riegel gesessen, weil sein Strafverteidiger mit Geschichten von der ach so schlimmen Kindheit seines Mandanten die Richter jedes Mal zu einem milden Urteil hatte bewegen können.
Der in Schwarz gehüllte Mann sah den getunten BMW mit den übergroßen Felgen schon von Weitem. Keine wirkliche Überraschung. Auf Kriminelle war nun mal Verlass. Vor allem, wenn es um Geld ging. Das bekam man gerne pünktlich, egal, ob es mit ehrlicher Arbeit oder einer skrupellosen Tat erwirtschaftet worden war. In gewissen Kreisen bezahlte man allerdings nicht per herkömmlicher Banküberweisung - das hinterließ Spuren und war leicht zu verfolgen. Auch das hiesige Bankkundengeheimnis war löchrig geworden wie ein Schweizer Käse. In halbseidenen Kreisen war daher Bargeld nach wie vor das bevorzugte Zahlungsmittel. Und die Scheine nahm man natürlich gerne persönlich in Empfang, zählte nach und gab dem Überbringer vorzugsweise gleich noch den nächsten Auftrag mit auf den Weg.
Für den Dealer, den der Unbekannte im Visier hatte, war heute Zahltag. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Die vermummte Gestalt zögerte, als zwei Männer aus einem Hinterhof traten und ohne sich umzusehen in Richtung Bahnhof verschwanden. Es waren Junkies, die tagsüber für den Dealer gearbeitet hatten. Er wartete einen Augenblick, bevor er gemächlich zum BMW hinüberging.
Es dauerte nicht lange, bis zwei weitere Gestalten aus dem Innenhof direkt auf ihn zukamen.
»Noch nie so eine geile Karre gesehen? Und jetzt hau ab, du Verlierer«, höhnte einer von ihnen mit einer hohen Männerstimme.
Der Halunke erinnerte den Vermummten an Don Johnson in seiner Blütezeit als Hauptdarsteller von »Miami Vice«. Das aufgehellte Haar war nach hinten geföhnt und wirkte wie onduliert. Die Schulterpolster seines gefütterten beigen Mantels waren so breit wie die Autofelgen des getunten BMW. Der Möchtegern-Beau trat bedrohlich auf den Mann in Schwarz zu. Sein Schatten, ein bulliger, testosterongeladener Schläger, tat es ihm gleich, wie es Schatten nun mal tun. Die beiden machten keinen netten Eindruck.
Ohne Hektik nahm der Fremde einen Elektroschocker der Marke »Protect« aus seiner Manteltasche und drückte ihn dem Bodyguard an den muskelbepackten Hals. Die Aktion führte er mit einer so selbstverständlichen Ruhe aus, dass der überraschte Schläger keinerlei Gegenwehr zeigte. Er fiel zu Boden wie ein Tuch und blieb zuckend liegen.
»Bist du verrückt geworden?«, schrie Don Johnson, nachdem eine lange Schrecksekunde verstrichen war.
Als Antwort bekam er eine Ohrfeige. Perplex starrte der Dealer den vermeintlichen Autonarren an. Dieser packte ihn mit beiden Händen am Kragen und schob ihn vor sich her in den Innenhof. Dabei stiegen dem Vermummten der Geruch von Angst und kaltem Zigarettenrauch in die Nase.
»Haben wir nicht neulich besprochen, dass du einem rechtschaffenen Beruf nachgehen sollst? Man verkauft keine Drogen und erst recht keine opiumhaltigen Schmerzmittel an Kids!« Die Stimme des ungebetenen Gastes ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass er verärgert war.
Der Halunke blickte sein Gegenüber erschrocken an. Doch dann formten sich seine Lippen zu einem süffisanten Grinsen. »Ah, du bist das. Ich habe dir schon vor zwei Wochen gesagt, dass du dich verpissen sollst. Machst du hier einen auf Gutmensch? Verschwinde lieber, bevor dich meine Leute in die Finger kriegen.«
Er lachte unsicher. Eine zweite Ohrfeige brachte ihn zum Schweigen. Der Schönling versuchte erfolglos, sich aus dem Griff des Fremden zu befreien. Dieser hob ihn scheinbar mühelos in die Höhe, bis die Füße des Dealers in der Luft zappelten. Die Föhnfrisur behielt dabei auf bemerkenswerte Weise ihre Form.
»Du hast zwei Optionen«, sagte der Unbekannte und drückte fester zu. »Du gehst sofort auf den Polizeiposten, erzählst von unserer Begegnung, deklarierst dein ganzes schmutziges Geld und gibst die Schlüssel deines lächerlichen Autos ab. Nicht einmal ein räudiger Straßenköter uriniert heutzutage an so eine spätpubertäre Karre. Dann gestehst du alles und wanderst ohne weitere Tricksereien einige Jahre ins Gefängnis. Oder .«
»Du bist ja total übergeschnappt!«, keuchte der Dealer. Seine Stimmfarbe war um eine Oktave gestiegen.
»Oder wir beenden alles hier und jetzt«, drohte der Fremde.
»Verdammt gute Idee, du Sitzpinkler«, zischte der zappelnde Verbrecher und betätigte den Abzug seiner Glock, die er wie immer hinten im Hosenbund versteckt und unbemerkt gezogen hatte. Der Knall der Pistole hallte wie ein Peitschenschlag durch den Innenhof, ein Hund kläffte aufgeschreckt. Der Fremde krümmte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht. Er ließ den Dealer zu Boden sinken, hielt aber den Arm mit der Waffe wie mit einem Schraubstock...
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