Die Sache mit Jesus
Am späten Vormittag saß Julia auf der Terasse vor ihrem Hotelzimmer; kleine Buchsbäume säumten deren Umrandung. Sie schlürfte an ihrem café con leche und blickte hinüber zur Altstadt von Granada, die sich in ein paar hundert Metern Entfernung vor ihr erhob.
Schräg hinter den Häusern der Stadt erhob sich der Hügel mit der Alhambra und dahinter thronten schneebedeckt die Gipfel der Sierra Nevada. Da war sie nun, dachte sie, als sie hinter sich, also aus ihrem Zimmer, nein nicht Hotelzimmer, aus ihrer Suite, Susannes Kreischen hörte. »Ui, schaut euch das mal an, Mädels!«
»Was machst du denn für einen Aufstand?« Anna rollte mit den Augen. »Hast du noch nie Seife gesehen?«
»Noch nie in Form eines kleinen Schwans!« Susanne präsentierte stolz die Figur auf ihrer Hand. Julia konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Nein, das hatte sie auch noch nicht gesehen. Wie so vieles hier. Susanne hatte sich bei der Auswahl ihrer Herberge nicht lumpen lassen. Fünf Sterne reichten nicht, um zu beschreiben, was die drei hier genießen durften.
»Cojo su equipaje«, hatte der Hotelpage sofort und unmissverständlich kundgetan, und von da an kam sich Julia vor wie eine Prinzessin im Märchen. 1001 Nacht. Beim Einchecken bekamen sie einen champán, also einen cava, die spanische Variante des Schaumweins, und dazu ein paar Häppchen Tapas. Julia hatte sich sofort in die gambas al ajillo verliebt. »Hast du so etwas Leckeres schon mal gegessen?«
Anna nickte und murmelte etwas von CORDO-Bar, Carlos und so, während sie ihre dátiles con bacon verdrückte und sich ebenso staunend umsah. Überall barocke Eleganz gepaart mit modernen Elementen, ein feiner Klang klassischer Musik angereichert mit einer großen Prise Süden. Durch die weiten Fenster wehte der Wind in das Foyer und ließ die weiten weißen Vorhänge flattern. »Das ist doch alles ganz wunderbar!«
»Ja, maravilloso!« Julia. Glücklich. Sie fühlte sich umschlungen von einer Welt voll Hitze, Leidenschaft und feurigen Don Juans, in deren Kosmos sie vielleicht eines Tages auch eine laszive Carmen werden könnte. Doch jetzt wollte sie sich erst einmal frisch machen und fragte ganz höflich wie unverblümt, wann sie denn endlich auf ihr Zimmer könnten. »Sonst esse ich noch die ganze Tapas-Platte allein auf.«
»Un momento, por favor«, sagte der Rezeptionist, winkte dem Pagen, der sie sodann zu ihren Räumlichkeiten begleitete. Und auf den Plural kam es an. »Aquí están sus habitaciones«, sagte der junge Mann und zeigte sie ihnen; ein Zimmer nach dem nächsten. Jedes mindstens dreißig Quadratmeter groß. »Wir haben tatsächlich drei Räume«, staunte Anna.
»Vier«, steuerte Susanne stolz bei. Die drei Zimmer gruppierten sich um ein Wohnzimmer, das für sich gut und gern die Größe von Julias Wohnung hatte. »So hat jeder seine Ruhe und wir sind doch zusammen. Fabelhaft!«
»Genau. En la sala de estar können Sie zusammen chillen, wie man heute so sagt«, grinste der Page. Es machte ihm sichtlich Spaß, die Freude der drei Gäste zu sehen. »Vergessen Sie nicht la terraza. La vista es hermosa.«
Jetzt saß Julia auf ebendieser Terasse, genoß ebendiese fabelhafte Aussicht auf die schneebedeckten Gipfel der Sierra Nevada und blätterte im Reiseführer. Granada, erfuhr sie, galt als Juwel und schönste Stadt Spaniens. »Wusstest du, dass man die Alhambra als achtes Weltwunder zählt? Da können wir doch gleich heute noch hin.« Sie sah Anna fragend an.
»Wollen wir nicht erst mal ankommen?« Anna suchte offenbar etwas in ihrem Reiseführer. »Wir könnten doch...«
»Shoppen gehen!« Susanne erschien auf der Terrasse und hatte für jede ein Glas dabei. »Hab ich im Kühlschrank gefunden! ¡Salud!« Susanne strahlte mal wieder, was auch an ihrem Shirt lag, das diesmal in verschlungener Glitzerschrift Save water, drink champagne! zum besten gab. »Und danach sehen wir uns ein wenig in der Stadt um. Die Alhambra läuft uns ja nicht weg.«
»Wenn ich das richtig sehe, dann muss man für eine Besichtigung die Eintrittskarten vorbestellen. Da ist immer so viel los, dass man ohne Reservierung gar keine Chance hat reinzukommen.« Anna gab den Fremdenführer. »Mit seinen zwei Millionen Besuchern im Jahr gilt die Alhambra als die meist besuchte Sehenswürdigkeit Spaniens.«
»Und wenn wir es doch einfach mal probieren? Vielleicht haben wir ja Glück. So voll kam es mir auf dem Weg hierher gar nicht vor.« Julia, zaghaft.
»Aber danach gehen wir noch in die Stadt.« Susanne zog einen Schmollmund. »Bitte!«
Eine gute Stunde später erreichten sie die Burg und der Taxifahrer murmelte: »Aquí estamos.« Julia hatte sich getäuscht. Und zwar gewaltig. Zu Hunderten drängelten Touristen vor dem Eingangsbereich der Anlage; die Schlangen an den mit caja überschriebenen Tickethäuschen, an denen man sein billete erstehen konnte, zogen sich ins Nirgendwo. Etliche Reiseführer aus aller Herren Länder wedelten mit Schirmen, Fähnchen oder Mikrofonen. Japaner, Amerikaner, Deutsche. Und enorm viele Besucher aus China. Dazwischen Kinder. Sie sprangen umher. Tauben jagten Essensreste vom Troittoir. »Das hatte ich mir romantischer vorgestellt.«
»Kopf hoch, Julia. Wir könnten uns ja an der Schlange vorbeidrängeln. Das fällt doch bei diesem Getümmel gar nicht auf.« Susanne ließ ihren Kopf nie hängen.
»Untersteh dich, das ist unhöflich. Wir besorgen uns Karten und kommen morgen wieder. Basta.« Anna. Resolut. Sie fühlte sich als Anführerein ihrer ungleichen Gruppe und machte Nägel mit Köpfen. »Und jetzt fahren wir in die Stadt.« Sie tippte dem Taxifahrer auf die Schulter. »¿Podemos continuar, por favor?«
»Sí, claro«, nickte der und es wirkte auf Julia, als sei er der entspannteste Mensch auf der Welt. »Tranquila. No te preocupes.»
»Das mag ich so an Spanien«, sagte Anna.
»Dass es so voll ist wie hier?« Julia. Ungläubig.
»Wie auf der Königsallee am verkaufsoffenen Sonntag.« Susanne schöpfte angesichts der veränderten Tagesplanung wieder Hoffnung. Shoppen schien ihr ein und alles.
»Nein, ich meine das Vordrängeln. Zum guten Ton gehört in Spanien immer auch diese besondere Gelassenheit. Das mag in unseren Ohren manchmal alles sehr ruppig klingen, wenn sie miteinander reden. Aber dieses no te preocupes, das liebe ich.«
Susanne und Julia sahen Anna neugierig an, während der Wagen losfuhr. »No te preocupes. Okay. Und was heißt das?«
»Nun, das kann alles Mögliche bedeuten: mach dir keine Gedanken, alles halb so wild, das nehm' ich dir nicht übel, das kriegen wir schon hin. Dieses No te preocupes kann einen auch manchmal zur Verzweiflung treiben. Weil man sich eben doch Gedanken macht und weiß, dass nicht alles hinzukriegen ist. Aber es ist unfein, sich die Unruhe anmerken zu lassen.«
»Sagt zumindest Carlos.« Julia. Spitz.
Anna ließ sich nicht aus ihrem Konzept bringen, sondern berichtete weiter von ihren Spanienkenntnissen. »Ehrliche Meinungen sind nur was für engste Freunde. Ansonsten gilt: das neue Kleid ist hinreißend, die Wohnung großartig und das Essen natürlich ein Gedicht.«
Und als ob der Fahrer jedes Wort verstanden hätte und Anna bei einer weiteren Lektion Spanischkunde unterstützen wollte, stahlte er sie, während er sie im Zentrum auf der Calle Reyes absetzte, von ganzem Herzen an. »¿Qué tal? Bien, ¿no?«
»Und was soll man da jetzt anworten?«, fragte Julia.
»Nun, er hat gesagt Wie geht's? Gut, nicht? Da sagt man selbstverständlich: »¡Muy bien!«
Granada empfing die drei an einem wunderbaren Frühsommertag. Die Hitze flirrte zwar über den Dächern, aber in den Gassen und Straßen war es angenehm kühl. Von den Heerscharen an Touristen war in der City nichts zu sehen. In den Bars und Cafés unterhielten sich Einheimische. »Am liebsten reden sie über Fußball. Wenn du mit einem Spanier wirklich schnell ins Gespräch kommen möchtest, dann musst du es mit fútbol versuchen.«
»Und wahrscheinlich auch noch mit dem richtigen Verein.« Susanne hatte tatsächlich zugehört. Julia hätte schwören können, dass sie nur die Auslagen der Geschäfte inspizierte.
»Nun ja, einem Katalanen aus Barcelona über die Vorzüge von Real Madrid vorzuschwärmen, ist so, als würdest Du 'nem Dortmund-Fan ein Ticket für Bayern München schenken.«
»Verlorene Liebesmüh!«
Minute um Minute tauchten die drei ein in eine andere Welt. An der Rückwand der Capilla Real, der Königskapelle der Catedral, entdeckten sie einen Gewürzmarkt, auf dem allerlei Gewürze des Orients aus großen Säcken heraus verkauft wurden. Es roch nach Ingwer und Koriander, Safran, Kardamom oder Curry. Ein paar Meter weiter stöberten sie auf dem Mercado de San Augustín und genossen die Wochenmarktatmosphäre, in der fruta, allerlei legumbres,...