Schweitzer Fachinformationen
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Man riecht es, bevor man es sehen kann. In Schottland erkennt man meist am Geruch, dass man sich in der Nähe des Meeres befindet. Am ersten Januar des Jahres laufen wir am Strand von Portobello entlang - Sean, die Hündin und ich. Es ist so kalt, dass Eis die Wellen säumt, wenn sie am Ufer auslaufen, und in der Luft liegt eine klirrende Kälte. Die Promenade ist voller Menschen. Die meisten sind für einen Tag aus Edinburgh gekommen und atmen die Frische eines noch ganz jungen neuen Jahres ein. Die Hündin rennt immer wieder ins Wasser, wobei sie sich nicht weit genug hinauswagt, um schwimmen zu können. Stattdessen springt sie niesend im Seichten herum, wo die Wellen nach ihren Pfoten schnappen - sie jagt Bälle, die sie wieder verliert, sobald sie von der Gischt erfasst werden und außer Riechweite geraten. Es ist früher Nachmittag, die Sonne geht bereits unter. Das Licht verwandelt sich in ein gespenstisches Orange, am Himmel sieht man eine dunkelviolette Formation aus Schneewolken.
Wir wandern durch den Sand und beobachten, wie die abgehärteten Kinder in der Eiseskälte Sandburgen bauen, während sich noch immer leicht angeheiterte Studenten bis auf die Unterwäsche ausziehen, um ein frostiges Neujahrsbad zu wagen. Die Hündin schießt davon und kommt zufrieden zurückgerannt. Ihre Zunge hängt seitlich aus dem Maul, Brustkorb und Pfoten sind von Sand überzogen. Gedankenverloren suche ich nach etwas, was ich vom Strand mitnehmen könnte. Stränge von Blasentang wirken wie abgetrennte Finger voller Pusteln. Andere sehen wie Haarsträhnen aus, wenn man einmal von den Seepocken absieht, die sie miteinander verbinden. Und dann die Muscheln: die nachtblauen Sicheln aus Miesmuscheln mit einem Farbverlauf, der fast ins Weiße geht; oder die vollkommen runden Herzmuscheln mit ihrem eng gefalteten Wellenmuster - wie kleine, delikate Pasteten. Einmal waren hier nach einem Sturm Tausende von Seesternen an Land gespült worden und verendeten kläglich in der frischen Luft. Die Mündung des Flusses Forth öffnet an dieser Stelle seine Lippen. Das Meer liegt irgendwo weiter draußen, außer Sichtweite.
Alles, was ich lese - Lieblingsgeschichten aus meiner Kindheit oder neu entdeckte Bücher -, handelt vom Wasser. Wie einen Talisman trage ich eine Ausgabe der Odyssee in meiner Tasche, die ich oft morgens neben einem beschlagenen Fenster im Bus an irgendeiner Stelle aufschlage, und sogleich werde ich wieder tief in die meeresartigen Strömungen von Geschichten und Abhandlungen gezogen. Ich stürze mich darauf, als sei ich eine Welle, die unablässig gegen einen Schiffsbug schlägt. Ich entdecke Stevensons Entführt mit seiner unglückseligen Seereise, die sich in ein Landabenteuer verwandelt, sowie gewaltige Anthologien mit Seemannsliedern, gesammelt von dem geheimnisvollen alten Seemann und Geschichtenerzähler Stan Hugill. Ich lese Boswells Tagebuch einer Reise nach den Hebriden mit Samuel Johnson. In Boswells Biografie stolpere ich über ein Zitat von Johnson, das ich mir gleich merke: »Jeder Mann hält wenig von sich, wenn er kein Soldat geworden oder nie in See gestochen ist.«
Ich bin noch nie in See gestochen. Inzwischen bin ich Mitte zwanzig, also in einem Alter, das man damit verbringen sollte herauszufinden, wer man ist, zum Beispiel indem man reist und sich in Abenteuer stürzt. Ein Freund ist nach Australien gezogen, eine Freundin nach Kanada. Auf Facebook kann ich sehen, dass meine früheren Kommilitonen inzwischen Marathon laufen oder ihren Traumjob ergattern. Ich tue nichts dergleichen. Ich habe keine klaren, ausgeprägten Träume, auf die ich hinarbeiten kann. Während nächtlicher Panikattacken suche ich im Internet nach möglichen Berufen, die allerdings ganz andere Fähigkeiten erfordern würden, als ich sie habe. Könnten mich Jura, Medizin oder das Unterrichten dorthin bringen, wo es sich zu sein lohnt? Zuerst finde ich die Vorstellung, jemand Neues zu werden, spannend und aufregend. Doch dann mache ich jedes Mal einen Rückzieher. Stattdessen fahre ich fort zu lesen, zu schreiben und zu arbeiten, wobei sich nichts von diesen Tätigkeiten auch nur im Geringsten so anfühlt, als würde ich mich auf eine weiterführende Reise begeben.
Mir kommt es so vor, als würde ich am liebsten für immer in dem Zustand einer erweiterten Kindheit ausharren - das Leben so lange nur spielen, bis mich das Erwachsenenalter formt, ohne dass ich es merke. Zu welchem Zeitpunkt endet die Kindheit, oder könnte sie auch für immer weitergehen?
In der Odyssee schickt Athene Odysseus' Sohn Telemachus auf eine Seereise zu Menelaus, damit er herausfindet, was mit seinem Vater geschehen ist. Diese Reise bezeichnet sie später als ein Geschenk. Es wird ein Abenteuer werden, das ihn formt und ins Erwachsenendasein führt. Odysseus verbringt zwanzig Jahre fern der Heimat, zuerst im Krieg und dann auf dem Meer. In Entführt sind es David Balfours Seereise und die anschließende Wanderung durch die Highlands, die ihn von einem Jungen in einen Mann verwandeln.
Hat Johnson recht? Ist eine Seefahrt tatsächlich die ultimative Herausforderung, die große, gefährliche Probe, die Prüfung zur Mündigkeit, der sich jeder stellen muss, wenn er es nicht eines Tages bereuen will? In See zu stechen, das ist, wie in den Krieg zu ziehen: etwas zeitlich Begrenztes, etwas physisch Überwältigendes und ein Test, der einen für immer verändert, sofern man ihn überlebt.
Es ist eine Erfahrung, von der man vorher weiß, dass sie schrecklich sein kann, und doch ist man schockiert, wenn sie es dann tatsächlich ist. Danach schaut man anderen Menschen, die dasselbe durchgemacht haben, in die Augen, und auch wenn sie völlig Fremde sein mögen, besitzen sie etwas, das man mit ihnen teilt. Man blickt ihnen in die Augen und erkennt sie. Sie wiederum wissen, dass man etwas erkennt, was man nie erklären könnte. Den Schmerz und die Hilflosigkeit. Dass man sich etwas Größerem überlässt. Gefahr. Die Schönheit und Poesie des Erlebten.
In See stechen, das klingt so aufregend und so essenziell. Sollte die Kunst vielleicht auch in See stechen? Wenn man nicht in den Krieg zieht oder in See sticht, was für eine Art Mann ist man dann eigentlich? So scheinen die Dichter früherer Zeiten zu fragen.
Oder was für eine Art Frau? Wie ist das mit Penelope, die mit einem Neugeborenen in Ithaka zurückgelassen wurde und zwanzig Jahre lang wütende Männer abwehren musste, die sie heiraten und die Schätze ihres verloren gegangenen Mannes an sich bringen wollten? Penelope ist an das Land gebunden, sie webt und weint und fragt sich, welche Abenteuer oder Gefahren ihr Mann wohl zur gleichen Zeit auf dem Meer erlebt.
Während der Wintermonate brandet das Meer durch mein Bewusstsein. Ich bin nach Schottland zurückgekehrt, nach Edinburgh - um hier zu leben, in der Nähe meiner Familie, in der Nähe des Meeres, nachdem ich in der Hitze und dem Lärm einer geschäftigen Londoner Nachrichtenredaktion und außerdem unter den Mühen gearbeitet hatte, die eine weite Pendelstrecke mit sich bringt. Ich brauche mehr Meer, habe ich den Leuten gern erklärt, und mehr Himmel. Ich suche nach etwas Neuem und zugleich nach einem Zuhause, obwohl ich bisher doch nicht die geringste Ahnung habe, was ich eigentlich wirklich will.
Von der Promenade in Portobello mit ihrem Eisengeländer, das in der fröhlichen Farbe von Pistazieneis gestrichen ist, gehe ich zum Strand hinunter, um dem Meer ins Angesicht zu blicken. Heute gleicht es einem Spiegel. Es erstreckt sich ruhig in Richtung Horizont. Weitab kann ich Robben erkennen, ferne graue Erhebungen wie Kieselsteine, die immer wieder mit dem Rücken aus dem Wasser auftauchen. Wenn man dorthin blickt, wo der Fluss zum Meer wird, beruhigt sich die eigene Wahrnehmung, und man glaubt schon fast, sich selbst in diese Weite legen zu können. Für einen Moment scheint man wirklich am Anfang von etwas Bedeutsamen zu stehen. Außerdem kann man eine Herzmuschelschale aufsammeln und in die Tasche stecken.
Inzwischen lese ich nicht nur mit einer neuen Lust über das Meer, sondern habe auch begonnen, darüber zu schreiben. In Tagebüchern notiere ich mir die Gezeiten, die Namen der Muscheln, die ich gefunden habe, und auch die Namen der Boote in den Häfen. Außerdem kehre ich in Gedanken immer wieder zu meiner Großmutter zurück. Einmal ist sie mit meinem Großvater auf einer Kreuzfahrt in der Karibik gewesen und hat mir eine Postkarte geschickt. Die Postkarten meiner Großeltern folgten immer einem bestimmten Muster: Auf der Vorderseite gab es eine Collage aus kleinen Bildern mit leuchtenden tropischen Stränden, glasklarem Wasser und strahlend weißen Hotelanlagen - alles unglaublich glamourös -, während hinten zwei verschiedene Handschriften kurze Texte geschrieben hatten, beide waren meiner Handschrift seltsam ähnlich. Großpapa war für die obere Hälfte zuständig, während Großmama die untere mit ihrer Nachricht bekritzelte. Auf dieser besonderen Postkarte stand:
Denken an Dich, während wir über den herrlich blauen Ozean unter einem klaren, sonnigen Himmel fahren. Alle Liebe von Deinem Großpapa.
Habe mein Auge an der Gepäckablage angestoßen und jetzt eine Prellung. Großmama.
Ich glaube nicht, dass es lustig gemeint war. Nein, dies wird tatsächlich ihre wichtigste Neuigkeit von dieser Reise gewesen sein. Was sie wohl gesehen hätte, wenn sie mit ihrem zugeschwollenen Auge zyklopenartig auf das Meer hinausgeblickt hätte?
In diesem Winter - zwanzig Jahre nach dem Felstümpel in Elgol - haben wir noch...
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