Schweitzer Fachinformationen
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An ihrem ersten Tag im Haus am Kap versuchten Irene und ihre Mutter ein wenig Ordnung in ihr neues Zuhause zu bringen. Dorian entdeckte unterdessen seine neue Leidenschaft: die Geographie oder, genauer gesagt, das Zeichnen von Karten. Mit Stiften und einem Heft bewaffnet, die Henri Leconte ihm bei der Abreise geschenkt hatte, zog sich Dorian auf ein kleines Plateau zwischen den Klippen zurück, einen hervorragenden Ausguck, der ihm eine spektakuläre Aussicht bot.
Das Dorf und die kleine Fischermole beherrschten das Zentrum der breiten Bucht. Östlich davon erstreckte sich ein endloser weißer Sandstrand, eine perlweiße Wüste am Meer, auch als »der Strand des Engländers« bekannt. Und dann folgte die Nadel des Kaps, die sich wie eine spitze Kralle ins Meer bohrte. Das neue Zuhause der Sauvelles befand sich an seiner äußersten Spitze, die den Ort von dem breiten Golf trennte, der von den Einheimischen wegen seines tiefen, dunklen Wassers die Schwarze Bucht genannt wurde.
Draußen auf dem Meer, eine halbe Meile vor der Küste, konnte Dorian im sich auflösenden Dunst die kleine Leuchtturminsel erkennen. Der Leuchtturm ragte dunkel und geheimnisvoll aus den Nebelschwaden auf. Wenn er zur Landseite blickte, sah Dorian seine Schwester Irene und seine Mutter auf der Veranda des Hauses am Kap.
Ihre neue Unterkunft war ein zweistöckiges weißes Holzhaus, das hoch oben auf den Felsen klebte: eine Terrasse über dem Nichts. Gleich hinter dem Haus begann der dichte Wald, und über den Wipfeln der Bäume war das majestätische Anwesen von Lazarus Jann zu erkennen, Cravenmoore.
Cravenmoore erinnerte eher an ein Schloss, ein kathedralenartiges Hirngespinst, Ausgeburt einer überspannten, gequälten Phantasie. Seine verschachtelten Dächer waren mit einem Labyrinth aus Bögen, Strebepfeilern, Türmchen und Kuppeln übersät. Das Gebäude erhob sich über einem kreuzförmigen Grundriss, von dem mehrere Flügel abgingen. Dorian betrachtete eingehend die unheimliche Silhouette von Lazarus Janns Wohnsitz. Ein Heer von Wasserspeiern und Engeln wachte über dem Fassadenfries wie eine Schar versteinerter Gespenster in Erwartung der Nacht. Während er sein Heft zuklappte und sich auf den Rückweg zum Haus am Kap machte, fragte sich Dorian, was für ein Mensch sich einen solchen Ort zum Leben aussuchte. Er würde es bald herausfinden, denn an diesem Abend waren sie zum Essen nach Cravenmoore eingeladen. Eine freundliche Geste ihres neuen Wohltäters, Lazarus Jann.
Irenes neues Zimmer wies in Richtung Nordwesten. Von ihrem Fenster aus konnte sie die Leuchtturminsel und die Lichtflecken sehen, die die Sonne auf den Ozean malte, Seen aus gleißendem Silber. Nach den beengten Monaten in der winzigen Wohnung in Paris kam ihr ein eigenes Zimmer beinahe wie ein anstößiger Luxus vor. Es war ein berauschendes Gefühl, die Tür schließen zu können und einen Platz ganz für sich allein zu haben.
Während sie zusah, wie die untergehende Sonne das Meer kupferrot färbte, hing sie der Frage nach, was sie zu ihrem ersten Abendessen mit Lazarus Jann anziehen sollte. Sie besaß nur noch einen kleinen Teil ihres einstmals gut gefüllten Kleiderschranks. Bei der Vorstellung, im Herrenhaus von Cravenmoore empfangen zu werden, kamen ihr all ihre Kleidungsstücke wie armselige, beschämende Fetzen vor. Nachdem sie die einzigen beiden Kleider anprobiert hatte, die alle Voraussetzungen für einen solchen Anlass erfüllten, wurde sich Irene eines weiteren Problems bewusst, mit dem sie nicht gerechnet hatte.
Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr schien ihr Körper an gewissen Stellen an Umfang zuzunehmen und an anderen zu verlieren. Als sich die fast Fünfzehnjährige nun im Spiegel betrachtete, fielen Irene die Launen der Natur stärker ins Auge als je zuvor. Ihre neue, kurvenreiche Figur passte nicht mehr zu den schlichten Schnitten ihrer angestaubten Garderobe.
Ein glutrotes Band zog sich am Horizont über die Blaue Bucht, als Simone Sauvelle kurz vor dem Einbruch der Dunkelheit leise an ihre Tür klopfte.
»Herein!«
Ihre Mutter schloss die Tür hinter sich und erfasste mit einem raschen Röntgenblick die Situation. Sämtliche Kleider ihrer Tochter lagen auf dem Bett ausgebreitet. Irene stand in einem schlichten weißen Hemd am Fenster und beobachtete die fernen Lichter der Schiffe im Ärmelkanal. Simone betrachtete Irenes schlanken Körper und lächelte.
»Die Zeit vergeht, und wir bemerken es gar nicht, nicht wahr?«
»Mir passt keines mehr davon. Tut mir leid«, antwortete Irene. »Ich hab's probiert.«
Simone trat ans Fenster und ging neben ihrer Tochter in die Hocke. Die Lichter des Dorfes im Zentrum der Bucht malten schimmernde Aquarelle auf das Wasser. Die beiden betrachteten eine Weile das eindrucksvolle Schauspiel des Sonnenuntergangs über der Blauen Bucht. Simone streichelte ihrer Tochter übers Gesicht und lächelte.
»Ich glaube, hier wird es uns gefallen. Was meinst du?«, fragte sie.
»Und wir? Werden wir ihm gefallen?«
»Lazarus Jann?«
Irene nickte.
»Wir sind eine bezaubernde Familie. Er wird uns lieben«, antwortete Simone.
»Bist du sicher?«
»Wäre gut, meine Kleine.«
Irene deutete auf ihre Kleider.
»Zieh eins von meinen an«, sagte Simone lächelnd. »Ich denke, sie werden dir besser stehen als mir.«
Irene errötete leicht.
»Dass du immer übertreiben musst«, warf sie ihrer Mutter vor.
»Warten wir's ab.«
Der Blick, mit dem Dorian seine Schwester bedachte, als diese in einem Kleid von Simone am Fuß der Treppe erschien, war preiswürdig. Irene heftete ihre grünen Augen auf Dorian und gab ihm mit drohend erhobenem Zeigefinger einen gutgemeinten Rat:
»Sag nichts.«
Dorian nickte stumm, unfähig, seinen Blick von dieser Unbekannten zu wenden, die mit derselben Stimme sprach wie seine Schwester Irene und ihr aufs Haar glich. Simone bemerkte seine Miene und verkniff sich ein Lächeln. Dann legte sie mit feierlichem Ernst ihre Hand auf die Schulter des Jungen und ging vor ihm in die Hocke, um seine dunkle Haartolle glattzustreichen, ein Erbe seines Vaters.
»Du bist von Frauen umzingelt, mein Junge. Gewöhn dich daran.«
Dorian nickte erneut, halb resigniert, halb erstaunt. Als die Wanduhr acht schlug, waren alle bereit für die große Begegnung und in ihre besten Kleider gewandet. Und außerdem halbtot vor Angst.
Eine sanfte Brise wehte von See und strich durch den dichten Wald rund um Cravenmoore. Das verborgene Wispern der Blätter begleitete die Schritte von Simone und ihren Kindern auf dem Pfad, der durch den Wald führte, ein regelrechter Tunnel, der in das dunkle, unergründliche Dickicht geschlagen war. Das bleiche Antlitz des Mondes lugte hinter dem Leichentuch aus dunklen Schatten hervor, das über dem Wald lag. Die Rufe der Vögel, die in den Kronen der gewaltigen, hundertjährigen Bäume nisteten, vereinten sich zu einer beunruhigenden Litanei.
»Dieser Ort macht mir Gänsehaut«, bemerkte Irene.
»Ach was«, fiel ihre Mutter ihr ins Wort. »Es ist einfach nur ein Wald. Vorwärts.«
Dorian, der die Nachhut bildete, betrachtete schweigend die Schatten des Waldes. Die Dunkelheit formte bedrohliche Schemen und befeuerte seine Phantasie, die in ihnen Dutzende von teuflischen, auf der Lauer liegenden Kreaturen sah.
»Bei Tageslicht ist hier nichts weiter als Gestrüpp und Bäume«, wiegelte Simone Sauvelle ab und pulverisierte den flüchtigen Zauber, dem Dorian nachhing.
Einige Minuten später, nach einer nächtlichen Wanderung, die Irene endlos vorkam, standen sie vor der eindrucksvollen, verwinkelten Silhouette von Cravenmoore, das wie ein Märchenschloss aus dem Nebel auftauchte. Die Fenster des riesigen Anwesens von Lazarus Jann waren von goldenem Licht erleuchtet. Das Heer von Wasserspeiern zeichnete sich vor dem Himmel ab. Etwas abseits war die Spielzeugfabrik zu erkennen, ein Seitentrakt der Villa.
Simone und ihre Kinder blieben am Waldrand stehen, um die überwältigende Größe der Residenz des Spielzeugfabrikanten auf sich wirken zu lassen. In diesem Augenblick flatterte ein Vogel - ein Rabe, wie es schien - aus dem Gebüsch und flog eine neugierige Runde über dem Park, der Cravenmoore umgab. Der Vogel kreiste über einem der steinernen Brunnen und ließ sich schließlich zu Dorians Füßen nieder. Nachdem er aufgehört hatte, mit den Flügeln zu schlagen, wiegte er sich langsam hin und her, bis er schließlich reglos sitzen blieb. Der Junge ging in die Hocke und streckte langsam seine rechte Hand nach dem Tier aus.
»Sei vorsichtig«, warnte ihn Irene.
Dorian hörte nicht auf ihren Rat und strich dem Raben übers Gefieder. Der Vogel rührte sich nicht. Der Junge nahm ihn in die Hände und breitete seine Flügel aus. Ein Ausdruck der Verblüffung überschattete sein Gesicht. Nach einigen Sekunden wandte er sich zu Irene und Simone um.
»Er ist aus Holz«, murmelte er. »Es ist eine Maschine.«
Die drei warfen sich schweigende Blicke zu. Simone seufzte und sagte dann zu ihren Kindern:
»Wir wollen einen guten Eindruck hinterlassen, ja?«
Diese nickten. Dorian stellte den Holzvogel wieder auf den Boden. Simone Sauvelle lächelte, und auf ihr Nicken hin stiegen die drei die geschwungene Freitreppe aus weißem Marmor hinauf, die zu dem mächtigen Bronzeportal führte, hinter dem sich die geheime Welt des Lazarus Jann verbarg.
Die Türen von Cravenmoore öffneten sich vor ihnen, ohne dass sie den eigentümlichen bronzenen Türklopfer in Gestalt eines Engelsgesichts betätigen mussten. Ein...
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