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Kurz nach Mitternacht tauchte ein kleines Boot aus dem nächtlichen Nebel auf, der von der Oberfläche des Hooghly River aufstieg wie ein Fluch. Im Vorschiff war im schwachen Schein einer verlöschenden Laterne, die am Mast baumelte, die Gestalt eines in einen Umhang gehüllten Mannes zu erkennen, der mühsam dem fernen Ufer entgegenruderte. Westlich des Maidan lag Fort William unter einer aschgrauen Wolkendecke, umgeben von den Lichtern eines schier endlosen Leichentuchs aus Laternen und Häusern, das sich so weit erstreckte, wie das Auge reichte. Kalkutta.
Der Mann hielt kurz inne, um Luft zu schöpfen und die schemenhaften Umrisse des Bahnhofs Jheeter's Gate zu betrachten, der nun endgültig in der Dunkelheit versank, die das andere Flussufer einhüllte. Mit jedem Meter, den der Mann weiter durch den Nebel glitt, verschwamm der Bahnhof aus Stahl und Glas mit all den anderen Gebäuden, die von vergangener Größe kündeten. Sein Blick glitt zurück über diesen Dschungel marmorner Mausoleen, die in Jahrzehnten der Verwahrlosung schwarz geworden waren, und nackten Mauern, an deren ockerfarbener, blauer oder gelber Haut der Monsun mit Macht gefressen hatte, bis sie verblasst waren wie Aquarellfarben in einem See.
Einzig die Gewissheit, dass ihm nur noch wenige Stunden, vielleicht Minuten, zu leben blieben, ließ ihn weiterrudern, während er tief in dieser verfluchten Stadt die Frau zurückließ, die mit seinem eigenen Leben zu schützen er geschworen hatte. In jener Nacht, als Leutnant Peake in einem alten Boot seine letzte Reise nach Kalkutta antrat, zerrannen die Sekunden seines Lebens im Regen, der im Schutz der Dunkelheit eingesetzt hatte.
Während er versuchte, das Boot ans Ufer zu bringen, konnte der Leutnant die beiden Kinder weinen hören, die im Kielraum versteckt waren. Peake blickte zurück und stellte fest, dass die Lichter der Barkasse knapp hundert Meter hinter ihm aufblitzten und immer näher kamen. Er konnte sich das Grinsen seines Verfolgers vorstellen, während er die unerbittliche Jagd genoss.
Er achtete nicht auf das Gebrüll der Kinder, die vor Hunger und Kälte weinten, sondern verwandte alle Kraft, die ihm geblieben war, darauf, das Boot ans Ufer des Flusses zu bringen, welcher an dem unergründlichen, gespenstischen Labyrinth der Straßen Kalkuttas leckte. Zweihundert Jahre hatten genügt, um aus dem dichten Dschungel, der rings um den Kalighat-Tempel wucherte, eine Stadt zu machen, in die Gott sich niemals hineingewagt hätte.
Binnen Minuten war das Unwetter mit der Wucht eines zerstörerischen Geistes über die Stadt hereingebrochen. Von Mitte April bis in den Juni hinein war die Stadt in der Gewalt des sogenannten indischen Sommers. In diesen Tagen ächzte Kalkutta unter Temperaturen von vierzig Grad und einer Luftfeuchtigkeit von nahezu hundert Prozent. Aber unter dem Einfluss heftiger Gewitter, die den Himmel in eine Wand aus Pulverdampf verwandelten, konnte das Thermometer innerhalb von Sekunden um dreißig Grad fallen.
Der wolkenbruchartige Regen verhinderte die Sicht auf die altersschwachen Stege aus modrigem Holz, die auf dem Fluss schwankten. Peake ruderte immer weiter, bis er spürte, wie der Bootsrumpf gegen die Fischermolen stieß. Erst jetzt bohrte er das Ruder in den morastigen Grund und holte rasch die Kinder, die in eine Decke gewickelt waren. Als er sie auf den Arm nahm, drang das Weinen der Babys durch die Nacht wie eine Blutspur, die das Raubtier zu seiner Beute führt.
Durch den dichten Wasserschleier hindurch war das andere Boot zu sehen, das langsam auf das Ufer zuglitt wie ein Totenschiff. Von Panik getrieben, rannte Peake durch die Straßen, die südlich am Maidan entlangführten, und verschwand in der Dunkelheit jenes Stadtbezirks, den seine privilegierten Bewohner, hauptsächlich Europäer und Briten, die Weiße Stadt nannten.
Es gab nur noch eine Hoffnung, das Leben der Kinder zu retten, aber er war noch weit vom Herzen jenes Viertels im Norden von Kalkutta entfernt, wo Aryami Bosé wohnte. Die alte Frau war die Einzige, die ihm jetzt noch helfen konnte. Peake hielt einen Augenblick inne und spähte in die gewaltige Finsternis des Maidan, auf der Suche nach den fernen Lichtpunkten der kleinen Laternen, die wie Sterne über dem Norden der Stadt blinkten. Die finsteren, unter dem Schleier des Sturms verborgenen Straßen waren sein bestes Versteck. Der Leutnant drückte die Kinder fest an sich und wandte sich wieder in Richtung Osten, um im Schatten der großen Paläste im Stadtzentrum zu verschwinden.
Kurz darauf legte die schwarze Barkasse, die ihn verfolgt hatte, an der Mole an. Drei Männer sprangen an Land und vertäuten das Boot. Die Kajütentür öffnete sich langsam, und ohne auf den Regen zu achten, trat eine dunkle, in einen schwarzen Umhang gehüllte Gestalt hervor und ging über die Planke, die die Männer von der Mole herangeschoben hatten. Auf festem Grund angekommen, streckte sie die in einen schwarzen Handschuh gehüllte Hand aus und deutete dorthin, wo Peake verschwunden war. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, das die Männer in dem Wolkenbruch nicht sehen konnten.
Die dunkle, unheimliche Straße, die durch den Maidan Park und an der Festung entlangführte, hatte sich durch den prasselnden Regen in einen sumpfigen Morast verwandelt. Peake erinnerte sich vage daran, schon einmal in diesem Teil der Stadt gewesen zu sein, als er unter Oberst Llewelyn gegen die Aufständischen in den Straßen gekämpft hatte. Damals allerdings war es heller Tag gewesen und er zu Pferde, eine Armeeeinheit hinter sich, die nach Blut dürstete. Die Ironie des Schicksals wollte es nun, dass er dieses offene Feld überqueren musste, das Lord Clive 1758 hatte anlegen lassen, damit die Kanonen von Fort William frei in alle Richtungen schießen konnten. Nur dass diesmal er der Gejagte war.
Der Leutnant rannte verzweifelt auf die Bäume zu, während er die heimlichen Blicke stummer Beobachter spürte, nächtliche Bewohner des Maidan, die sich in der Dunkelheit verbargen.
Er wusste, dass niemand versuchen würde, ihn zu überfallen und ihm den Umhang oder die Kinder zu entreißen, die in seinen Armen weinten. Die unsichtbaren Bewohner dieses Ortes konnten die Spur des Todes riechen, die er hinter sich herzog, und keine Menschenseele würde es wagen, sich seinem Verfolger in den Weg zu stellen.
Peake sprang über das Eisengitter, das den Maidan von der Chowringhee Road trennte, und rannte die Hauptverkehrsader der Stadt entlang. Die breite Allee folgte dem Verlauf der alten Straße, die vor knapp dreihundert Jahren durch den bengalischen Dschungel in Richtung Süden zum Tempel der Kali geführt hatte, dem Kalighat, der der Stadt ihren Namen verlieh. Das nächtliche Treiben, das sonst in Kalkutta herrschte, war angesichts des Regens erstorben, und die Stadt machte den Eindruck eines verlassenen, schmutzigen Basars. Peake wusste, dass sich der undurchdringliche Wasservorhang, der ihm in der stockfinsteren Nacht Schutz bot, genauso schnell wieder auflösen konnte, wie er gekommen war. Die Stürme, die sich vom Meer her dem Gangesdelta näherten, zogen rasch nach Norden oder Westen weiter, nachdem sie ihre reinigenden Wasserfluten über der bengalischen Halbinsel abgeladen hatten. Zurück blieben Nebelschwaden und von giftigen Pfützen überschwemmte Straßen, in denen die Kinder hüfttief im Wasser planschten und Karren feststeckten wie auf Grund gelaufene Schiffe.
Der Leutnant lief zum nördlichen Ende der Chowringhee Road, bis er merkte, dass seine Beine zitterten und er kaum noch in der Lage war, die Kinder in den Armen zu halten. Ringsum flimmerten die Lichter von Nord-Kalkutta unter dem samtigen Regenvorhang. Peake wusste, dass er dieses Tempo nicht mehr lange durchhalten konnte und dass es noch weit war bis zu Aryami Bosés Haus. Er musste eine Pause machen.
Er versteckte sich unter der Treppe eines ehemaligen Stoffgeschäfts, an dessen Mauern Zettel mit der offiziellen Mitteilung klebten, dass es demnächst abgerissen würde. Er erinnerte sich vage, das Gebäude vor Jahren durchsucht zu haben, weil ein reicher Händler behauptet hatte, dort befinde sich eine berüchtigte Opiumhöhle.
Jetzt sickerte schmutziges Wasser durch die ausgetretenen Stufen. Es sah aus wie schwarzes Blut, das aus einer tiefen Wunde quoll. Das Haus wirkte leer und verlassen. Der Leutnant hob die Kinder hoch und sah in ihre erstaunten Augen. Sie weinten nicht mehr, aber sie zitterten vor Kälte. Die Decke, in die sie gewickelt waren, war klatschnass. Peake nahm ihre winzigen Händchen, um sie zu wärmen, während er durch die Ritzen der Treppe in Richtung der Straßen spähte, die rings um den Maidan lagen. Er wusste nicht, wie viele Mörder sein Verfolger angeheuert hatte, aber er wusste, dass sich nur noch zwei Kugeln in seinem Revolver befanden. Zwei Kugeln, die er so klug wie möglich nutzen musste. Die übrigen hatte er in den Tunnels des Bahnhofs verfeuert. Er wickelte die Kinder in den Teil der Decke, der am wenigsten durchnässt war, und legte sie für einen Moment in eine Mauernische des Geschäfts, wo der Boden trocken war.
Dann zog Peake seinen Revolver und schob langsam seinen Kopf unter der Treppe hervor. Nach Süden glich die verlassene Chowringhee Road einer gespenstischen Bühne, die auf den Beginn der Vorstellung wartete. Der Leutnant kniff angestrengt die Augen zusammen und erkannte die ferne Lichterkette am anderen Ufer des Hooghly River. Hastige Schritte auf dem regennassen Pflaster ließen ihn zusammenzucken, und er zog sich wieder in die Dunkelheit zurück.
Drei Gestalten tauchten aus der Finsternis des Maidan auf, einem blassen Abklatsch des Hyde Parks, den jemand mitten in den tropischen Dschungel verpflanzt...
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