Schweitzer Fachinformationen
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An jenem Morgen wurde Blanca meine erste Leserin. Mein erstes Publikum. Ich erzählte ihr, so gut ich es vermochte, meine Geschichte von Prinzessinnen und Hexern, Zaubersprüchen und vergifteten Küssen in einem verwünschten Universum, wo zum Leben erwachte Paläste wie infernalische Bestien durch die Ödnis einer finsteren Welt krochen. Als die Heldin am Ende der Geschichte mit einer verfluchten Rose in den Händen in den eisigen Tiefen eines schwarzen Sees versank, bestimmte Blanca für immer den Lauf meines Lebens, als sie eine Träne vergoss und tief bewegt, völlig losgelöst vom äußeren Anschein eines Mädchens aus gutem Hause, murmelte, dass sie meine Geschichte ganz wunderbar gefunden habe. Ich hätte mein Leben dafür gegeben, dass dieser Moment niemals vorüberginge. Als Antonias Schatten vor unsere Füße fiel, wurde ich in die prosaische Realität zurückgeworfen.
»Wir müssen los, Fräulein Blanca. Ihr Vater mag es nicht, wenn wir zu spät zum Essen kommen.«
Das Dienstmädchen zerrte sie von mir weg und führte sie die Straße hinunter. Ich blickte ihr nach, bis ihre Gestalt sich in der Ferne verlor, und sah, wie sie mir zuwinkte. Ich hob meine Jacke auf und zog sie wieder an. Blancas Wärme und ihr Geruch waren noch immer zu spüren. Ich lächelte in mich hinein, und auch wenn es nur für einige Sekunden war, begriff ich, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben glücklich war und von nun an, da ich zum ersten Mal von diesem Gift gekostet hatte, nichts mehr sein würde wie vorher.
Als wir an diesem Abend bei Brot und Suppe saßen, sah mich mein Vater ernst an.
»Du wirkst verändert. Ist was passiert?«
»Nein, Papa.«
Ich ging bald zu Bett, um der trübseligen Stimmung zu entgehen, die mein Vater verbreitete. Während ich im dunklen Zimmer lag, dachte ich an Blanca und an die Geschichten, die ich für sie erfinden wollte, und mir wurde klar, dass ich weder wusste, wo sie wohnte, noch wann ich sie wiedersehen würde. Wenn überhaupt.
Die nächsten Tage verbrachte ich damit, nach Blanca Ausschau zu halten. Nach dem Frühstück, sobald mein Vater eingeschlafen war oder die Tür zu seinem Schlafzimmer schloss, um sich seinem persönlichen Vergessen anheimzugeben, verließ ich das Haus und ging zum tiefer gelegenen Teil des Viertels, um durch die engen, finsteren Gassen rings um den Paseo del Borne zu streifen, in der Hoffnung, Blanca oder ihrem unheimlichen Dienstmädchen zu begegnen. Bald kannte ich jeden Winkel und jeden Schatten dieses Labyrinths aus Straßen, deren Mauern sich einander zuzuneigen schienen, um sich zu einem Tunnelgeflecht zu schließen. Ausgehend von der Basilika Santa María del Mar, bildeten die Gassen der mittelalterlichen Zünfte ein Wegenetz, das sich zu einem Gewirr aus Durchgängen, Bögen und unwahrscheinlichen Kehren verzweigte, in das nur wenige Minuten am Tag Sonnenlicht drang. Wasserspeier und Wandreliefs markierten die Kreuzungen zwischen verfallenen Palästen und Gebäuden, die sich übereinanderschoben wie Felsen an einer Steilküste aus Fenstern und Türmen. Wenn ich bei Einbruch der Dunkelheit erschöpft nach Hause kam, war mein Vater gerade wach geworden.
Am sechsten Tag, als ich schon zu glauben begann, dass ich die Begegnung nur geträumt hatte, ging ich durch die Calle de los Mirallers zum Seiteneingang der Kirche Santa María del Mar. Dichter Nebel hatte sich über die Stadt gesenkt und wehte durch die Straßen wie ein weißer Schleier. Das Kirchenportal stand offen. Im Eingang zeichneten sich die Umrisse eines Mädchens und einer Frau in weißen Kleidern ab, die gleich darauf in der Umarmung des Nebels verschwanden. Ich rannte hin und betrat die Basilika. Der Luftzug sog den Nebel ins Innere des Gebäudes. Ein gespenstisches Tuch aus Dunst schwebte über den Bankreihen des Mittelschiffs, das vom Schein der Kerzen erleuchtet wurde. Ich erkannte Antonia, das Dienstmädchen, das mit bußfertiger Miene in einem der Beichtstühle kniete. Todsicher war die Beichte dieser Hexe so schwarz und klebrig wie Teer. Blanca saß mit baumelnden Beinen in einer Bank und wartete, den Blick gedankenverloren auf den Altar gerichtet. Als ich mich näherte, fuhr sie herum. Ihr Gesicht erhellte sich bei meinem Anblick, und ihr Lächeln ließ mich schlagartig die endlosen elenden Tage vergessen, in denen ich versucht hatte, sie zu finden. Ich setzte mich neben sie.
»Was machst du hier?«, fragte sie.
»Ich wollte zur Messe«, improvisierte ich.
»Um diese Uhrzeit ist keine Messe«, stellte sie lachend fest.
Ich hatte keine Lust, sie weiter zu belügen, und senkte den Blick. Es brauchte keine Worte.
»Ich habe dich auch vermisst«, sagte sie. »Ich dachte, du hättest mich vergessen.«
Ich schüttelte den Kopf. Die nebelhafte, von Flüstern erfüllte Atmosphäre machte mir Mut und ich beschloss, ihr etwas zu sagen, das ich mir ursprünglich für meine Geschichten von Magie und Heldenmut ausgedacht hatte.
»Ich könnte dich niemals vergessen«, sagte ich.
Es waren Worte, die hohl und lächerlich hätten klingen können, insbesondere aus dem Mund eines achtjährigen Jungen, der womöglich nicht wusste, was er da sagte, aber das war, was ich empfand. Blanca sah mich mit einer sonderbaren Traurigkeit an, die so gar nicht zu einem kleinen Mädchen passte, und drückte ganz fest meine Hand.
»Versprich mir, dass du mich niemals vergisst.«
Antonia, das Dienstmädchen, nun offensichtlich ihrer Sünden ledig und bereit, neue zu begehen, beobachtete uns unwillig vom Ende der Bankreihen aus.
»Fräulein Blanca?«
Blanca wandte den Blick nicht von mir ab.
»Versprich es.«
»Ich verspreche es.«
Erneut nahm das Dienstmädchen meine einzige Freundin mit. Ich sah, wie sie durch das Mittelschiff davongingen und durch das rückwärtige Portal verschwanden, das auf den Paseo del Borne hinausführte. Diesmal allerdings mischte sich ein Hauch von Durchtriebenheit in meine Melancholie. Etwas sagte mir, dass das Dienstmädchen eine Frau mit schwachem Gewissen war und regelmäßig zur Beichte musste, um für ihre Verfehlungen zu büßen. Die Kirchenglocken schlugen vier Uhr, als ein Plan in meinem Kopf Gestalt anzunehmen begann.
Von da an erschien ich jeden Tag um viertel vor vier in der Kirche Santa María del Mar und setzte mich in eine Bank in der Nähe der Beichtstühle. Es waren keine zwei Tage vergangen, als ich sie wiedersah. Ich wartete, bis das Dienstmädchen im Beichtstuhl niederkniete, und ging dann zu Blanca.
»Jeden zweiten Tag um vier Uhr«, raunte sie mir zu.
Ohne Zeit zu verlieren, nahm ich sie bei der Hand und spazierte mit ihr durch die Basilika. Ich hatte eine Geschichte für sie vorbereitet, die genau hier, zwischen den Säulen und Seitenkapellen der Kirche, spielte, mit einem entscheidenden letzten Kampf zwischen einem bösen, aus Asche und Blut geformten Geist und einem heldenhaften Ritter in der Krypta unter dem Altar. Es sollte die erste Folge einer ganzen Reihe von Abenteuer-, Schauer- und Liebesgeschichten mit dem Titel Die Gespenster der Kathedrale werden, die ich mir für Blanca ausdachte und die mir in meiner unermesslichen Eitelkeit eines aufstrebenden Schriftstellers nicht weniger als genial erschienen. Ich wurde gerade rechtzeitig mit der Geschichte fertig, um zum Beichtstuhl zurückzukehren und das Dienstmädchen abzupassen, das mich diesmal allerdings nicht sah, weil ich mich hinter einer Säule versteckte. Zwei Wochen hindurch trafen Blanca und ich uns jeden zweiten Tag dort. Wir teilten Geschichten und Kinderträume, während das Dienstmädchen den Pfarrer mit der ausführlichen Schilderung ihrer Sünden quälte.
Am Ende der zweiten Woche bemerkte der Beichtvater meine Anwesenheit und zählte sogleich zwei und zwei zusammen. Ich wollte mich gerade davonschleichen, als er mir bedeutete, herzukommen. Sein Erscheinungsbild, das an einen abgehalfterten Boxer erinnerte, überzeugte mich, seiner Aufforderung Folge zu leisten. Zitternd vor Angst, weil man mir offensichtlich auf die Schliche gekommen war, kniete ich im Beichtstuhl nieder.
»Ave Maria Purissima«, hauchte ich durch das Gitter.
»Sehe ich aus wie eine Nonne, du Rotzlöffel?«
»Verzeihung. Ich weiß nicht, was man sagt.«
»Hat man dir das nicht in der Schule beigebracht?«
»Der Lehrer ist Atheist und behauptet, ihr Priester wärt ein Werkzeug des Kapitals.«
»Und wessen Werkzeug ist er?«
»Das hat er nicht gesagt. Ich glaube, er hält sich für einen Freigeist.«
Der Priester lachte.
»Wo hast du gelernt, so zu reden? In der Schule?«
»Durch Lesen.«
»Durch Lesen von was?«
»Alles, was ich in die Finger kriege.«
»Liest du auch das Wort des Herrn?«
»Der Herr schreibt?«
»Wenn du so weitermachst, wirst du noch in der Hölle schmoren, du kleiner Klugscheißer.«
Ich schluckte.
»Muss ich Ihnen jetzt meine Sünden beichten?«,...
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