Martin/a
Einige Bäume in diesem verwilderten Garten waren wohl mehr als zehnmal so alt wie das Haus in der Mitte dieses kleinen Urwaldes. Das Haus, was mich vor über einem Jahr auf merkwürdige Weise angezogen hatte. Es war leider nicht alt, was ich eher bevorzuge bei Häusern. Dafür hatte es das andere Extrem. Es war lichtdurchflutet, modern, einladend offen. Es war ungewöhnlich freizügig, aufmunternd und dazu von der Straße aus sichtbar. Was vielleicht damals das Prägnanteste war, weil hier alle Häuser hinter turmhohen Mauern verborgen blieben, besonders in diesem Stadtteil von Harare.
Die Mauer hatten wir dann doch schnell um das gesamte Grundstück gezogen. Aber diese dann auch ebenso schnell mit Kletterpflanzen bewachsen lassen, weil wir alle den Anblick und damit verbunden Grund wenigstens aus unserem Blickfeld verbannen wollten. Dass wir eine Grenze haben mussten, glaubte ich nicht. Dennoch fügte ich mich dem allgemeinen Verständnis, dass man nur so unliebsame Gäste einer genaueren Kontrolle vor dem Eintritt unterziehen konnte. Denn das Bewusstsein, dass wir keine normalen Nachbarn waren und diese Tatsache schon oftmals brenzlige Situationen verursachte, war Erinnerung genug. So wirkte die fast drei Meter hohe Wand aus Efeu wie der Schutzwall einer - unserer - verborgenen, heilen Welt.
Den Tag, an dem ich mit der alten Dame das Haus zum ersten Mal betrat, erlebte ich oft wieder und wieder, da es mein Leben dramatisch schön veränderte. Vor gut zwei Jahren hatten Ambuya und ich hier im Garten per Handschlag beschlossen unsere Wünsche, Pläne und Träume in die Tat umzusetzen, was mit einer Begehung des Hauses anfing. Und was war das für ein Haus. Groß, lichtdurchflutet und modern, wie ich es hier nie erwartet hätte. Ihr Mann, welcher sechs Jahre zuvor verstarb, war ein großer Bewunderer von klarer Architektur und Inneneinrichtung, die er nach einem Arbeitstrip aus Schweden und damit verbundenen Besuch bei Ikea mitgebracht hatte. Das brachten all diese Klarheit, Kühle und allen voran Licht in diesen Räumlichkeiten voll zum Ausdruck. Er hatte tatsächlich mal mit dem Gedanken gespielt, Ikea nach Simbabwe zu holen. Nun sei daraus nichts geworden, aber mit dem Haus und der Einrichtung hat er einen nicht unwesentlichen Beitrag geleistet und eine Tür zu einer anderen Kultur geöffnet. Es kam tatsächlich vor, dass Besucher, die entweder Hilfe suchten oder einfach aus Neugierde das Haus und deren Bewohner kennenlernen wollten, hier erst mal nur staunten.
Als der Einbau von Großküche und Sanitäranlagen stattfand, hatten wir manchmal noch Tür und Tor Besuchern geöffnet. Mit großen Augen und weit geöffneten Mündern betrachteten diese dann die Fenster, die hier nicht vergittert, sondern groß und bis zum Boden reichend waren. Der ungewöhnliche Fußboden bestand aus hellem Holz und eben nicht, wie man hier überall sah, dunkelbraun oder dunkelrot und auf Hochglanz polierter Steinfußboden. Da die Rote Erde alles dunkelrot färbt, macht das wohl Sinn, aber wir wollten es anders. Und es klappte. Die Rote Erde Afrikas blieb im Garten, da jeder, der das Haus betrat, seine Schuhe auszog. Und irgendwas passiert mit dem Menschen, der plötzlich in Socken oder barfuß hier aus dem kleinen Empfangsraum in die Halle eintritt. Erst war jeder etwas unbeholfen, kurz danach ungezwungener und dann plötzlich fast so neugierig wie ein kleines Kind. Die Schaukeln und ein Baumhaus, welche den ältesten Baum schmückten, verheißen ein Willkommen von Kindern und die Hängematten, wie Windspiele in anderen Bäumen, gaben das Gesamtbild von Ruhe und Ausgeglichenheit wieder, was unsere Gäste brauchten.
Ambuya und ich wollten einen klaren Unterschied schaffen zwischen der rationalen Welt hier drinnen und der ungezwungenen vor der Tür. Dort draußen sollte der Natur, dem Spieltrieb und der Stille freien Lauf gelassen werden, damit für jeden ein einfacher Weg offen steht sich der doch manchmal klinischen Atmosphäre im Haus spontan zu entziehen. Obwohl das Haus für viele zu einer Oase in der Wüste der Gewalt wurde, so war es der Garten ums Haus, der alle mit neuer Energie versorgte und ein Heilungsprozess in den verwundeten Seelen auslöste. Unser Haus mit dem Namen "Haus Tatenda" war ein Dankeschön an den Erbauer und die Großzügigkeit der Ehegattin des Besitzers. Vor allem war es das, was alle sagten, die uns irgendwann verließen: "Danke" / "Tatenda". Dazu kam, dass Ambuyas Urenkel "Tatenda" und die damit verbundene Tragödie schließlich der Auslöser war, um hier einen Platz zu schaffen, für Menschen - vornehmlich Frauen, mit deren Kindern - die nach Schutz suchten. Im unterem Geschoss befanden sich sieben Räume, die alle durch Schiebetüren verbunden waren und mit einem Handgriff in einen wahren Ballsaal verwandelt werden konnten. Hier wurde das untergebracht, was bei unseren Besuchern von Nöten war. Vor allem handelt es sich dabei um professionelle Hilfe, in Form von medizinischer und psychologischer Natur. So stationierten wir eine Ärztin, eine Psychologin und eine Lehrerin, die sich der Kinder annahmen. Aber die wohl wichtigste Person war unsere Anwältin Marcy. Alle außer der Lehrerin oder Kindergärtnerin kamen auf Abruf und arbeiteten auf Stundenbasis, da etwas anderes aus finanziellen Gründen nicht möglich gewesen wäre. Aus Erfahrung wusste ich, dass es sich in fachkundiger, aufgeräumter Umgebung besser arbeiten lässt. Was am Anfang für einige, die hier Hilfe suchten, etwas Neues, vielleicht sogar etwas Unheimliches hatte. Sie waren es nicht gewohnt von qualifizierten, freundlichen und hilfsbereiten, dazu wildfremden Menschen das zu bekommen, was sie von engsten Familienangehörigen nicht bekamen und genau deshalb bei uns im "Haus Tatenda" strandeten. Das Untergeschoss war der formelle Teil des Hauses, die obere Etage der familiäre. Die erste Etage war ausschließlich für die Mütter und deren Kinder sowie weibliches Personal bestimmt. Männer hatten nur im unteren Geschoss Zutritt und auch die wurden auf Herz und Niere geprüft von den einzigen vier Männern, die auf dem Grundstück erlaubt waren.
Zwei uniformierte Angestellte - Lyton und Bruce - , die für die Sicherheit zuständig waren und sich auch als Gärtner betätigten. Dann war da unser Hausmeister, der sich zwar ohne Wenn und Aber im ganzen im Haus bewegen konnte, den ersten Stock aber aus Respekt nie betrat. Und die wohl wichtigste männliche Person, der wir das alles hier zu verdanken hatten: Tatenda, der mittlerweile fast drei Jahre alt war. Er stolzierte mit erhobener Brust und anmutender Würde durchs Haus, allzeit bereit dieses - wie ein Kind seine kleine Legostein-Burg - vor eventuell bösen Eindringlingen zu verteidigen. Das "Mutter und Kind"-Geschoss war fast vollständig zum Bettlager umfunktioniert worden. Hier macht es keinem etwas aus, direkt neben dem anderen zu schlafen. Es erinnerte viele wohl an die Kindheit. Dort lag man in Hütten, auf engstem Raum zusammen und fühlte sich so geborgen. Für diejenigen, die anfangs keine Nähe ertragen konnten, waren unterm Dach vier kleine Einzelzimmer hergerichtet. Außerdem war die obere Etage mit zwei Badesälen der Superlative bestückt: jeweils zehn Duschen, Waschbecken und Toiletten nach modernstem Standard. Auch das versetzte alle in fast so was wie Ungläubigkeit. Und dass es hier Waschbecken und Toiletten in kindgerechter Größe und Höhe gab, war für viele neu. Aber die erste Hemmschwelle war schnell überwunden, denn Tatenda ließ es sich nie nehmen jedem alles genau zu erklären. So wurde fast spielerisch das Unbekannte entdeckt, ausprobiert und für gut befunden.
Im gesamten Haus war alles nur auf das Mindeste beschränkt. Und dass nicht nur, um Geld zu sparen, oder wegen Platzmangel. Es fühlte sich richtig an, nicht alles zu überladen und perfekt zu haben. Wer hier herkam, hatte sowieso nur die Kleider auf dem Leib und ein oder zwei Kinder an der Hand und kam aus armen Verhältnissen. Bei uns war es eben diese Sparsamkeit, die auf manche ärmlich wirkte. Aber somit auch eine eher bekannte Umgebung, wenn man von den Badezimmern und Küche absah. Jede Mutter landete hier, weil es der letzte Strohhalm war, an den sie sich klammern konnte. So kam auch Martin hierher, der heute die gute Seele im Haus ist, für alles und jeden ein offenes Ohr hat und nebenbei alles und jeden repariert. Denn es sind nicht nur die Wasserrohre oder Lichtschalter, die er repariert: Es kam schon vor, dass er ein gebrochenes Herz mit simpler männlicher Logik wieder zusammensetzte. Martin war der achte Gast, dabei der erste und einzige Männliche, der seinen Weg hier herfand. Und das, weil er nur dem Anschein nach ein Mann war. Hier, wie in vielen anderen Teilen Afrikas oder auch anderswo auf der Welt, ist Homosexualität oder Transsexualität immer noch strafbar. Aber Martin war nicht schwul, er war eine Frau versteckt im Körper eines Mannes. Das hatte die Psychologin nach nur zwei Sitzungen...