Schweitzer Fachinformationen
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Als ich Elvira vorgestern in die Stadt begleitet habe, wäre ich um ein Haar entdeckt worden. Der Mann, der nach mir sucht, war in ein lebhaftes Gespräch mit zwei anderen verwickelt, die ebenfalls nach Fremden aussahen. An die Mauer der Hafenmeisterei gelehnt, beobachtete ich sie aus einiger Entfernung. Plötzlich sah ich, wie sie auf mich zukamen. Ich war für einen Moment vom Manöver eines Schiffs im Hafenbecken abgelenkt gewesen, und als ich bemerkte, dass sie sich mir näherten, hatten sie mich schon fast erreicht. Mir war vorher gar nicht aufgefallen, dass um diese Mittagsstunde nur noch wenige Menschen auf den Straßen waren. Die Fremden benötigten sicherlich eine Auskunft. Sie wollten mich ansprechen, weil ich ihnen am nächsten stand und nicht wie die meisten anderen zum Mittagessen eilte. Zum Glück war mein Gesicht unter meinem Hut verborgen, und ich stand noch im Schatten der Mauer, während sie beim Gehen von der Sonne geblendet wurden. Ich glaube nicht, dass sie mich erkannt haben. Als ich die Flucht ergriff, lachten sie laut los und versuchten nicht, mich einzuholen. Wahrscheinlich hielten sie mich für einen armen Bauern, den ihr reicher Kaufmannsstaat erschreckt hatte.
Dennoch wäre meine Maskerade beinahe durchschaut worden und sie hätten mich gefasst. Nach diesem Schreck habe ich beschlossen, mich vorerst nicht mehr in die Stadt zu wagen. Ich will versuchen, in Vergessenheit zu geraten. Und so bleibe ich im Haus und beschränke meine Wanderungen auf die nähere Umgebung.
Morgens liegt unsere Terrasse noch im Schatten, und die nächtliche Kühle macht es unmöglich, dort zu sitzen, ohne sich zu bewegen. In dieser Zeit gehe ich auf dem Weg spazieren, der zum Meer hinabführt. Die Natur erwacht hier nicht bei Tagesanbruch. Erst gegen Abend erstrahlen die Farben in all ihrer Pracht, und die Luft ist von sämtlichen Düften erfüllt. Sobald die Sonne aufgeht, scheinen sich die Pflanzen zusammenzukauern, blass und reglos wappnen sie sich gegen den Ansturm der Hitze, der bis zum Einbruch der Dämmerung anhält. Frühmorgens wird der indiskrete Beobachter Zeuge der Vorbereitungen zu dieser Nachtwache. Das Meer selbst liegt zu dieser Stunde beinahe unbewegt da, und das Plätschern der sanften Wellen an den scharfkantigen Felsen erzeugt ein gleichmäßiges, beruhigendes Raunen wie ein Schlaflied. Ich nutze diese friedlichen Stunden, um die Erinnerungen an die Vergangenheit wieder aufsteigen zu lassen. Wenn sich so viele davon in mir angesammelt haben, dass ich meine Umgebung nicht länger wahrnehme, gehe ich langsam durch die Lorbeerbüsche und Steineichen zurück und setze mich unter die mittlerweile erwärmte Laube, um zu schreiben.
Solche Häuser wie das unsere gibt es viele auf der Insel, und ich hoffe, dass meine Verfolger es leid werden, sie alle abzusuchen, bevor sie mich gefunden haben. Ich habe Elvira mit einem kurzen Brief zu dem Herbergswirt geschickt, der mir dieses Versteck besorgt hat, und ihn gebeten, das Gerücht zu verbreiten, ich sei an Bord eines Schiffs nach Rhodos oder Italien gegangen. Zusammen mit der Nachricht habe ich ihm eine Geldsumme aushändigen lassen, die ihn davon überzeugt haben dürfte, meiner Bitte nachzukommen.
Auch wenn es nicht den geringsten Anlass dafür gibt, bin ich zuversichtlich gestimmt. Ich werde schon so lange gejagt, dass ich die Methoden meiner Verfolger mittlerweile recht gut kenne. Ohne nachzudenken, stürzen sie sich auf jeden Hinweis, den man ihnen vor die Füße wirft. Man braucht nur abzuwarten.
Trotzdem verändert sich dadurch die Natur meines Aufenthalts hier. Als ich zu Elvira kam, glaubte ich, nur ein paar Tage zu bleiben. Doch jetzt muss ich eher mit Wochen, wenn nicht gar Monaten rechnen. Die Zärtlichkeit, die ich bei ihr gefunden habe, ist nicht länger nur ein vorübergehender Trost. Unsere stumme Zuneigung entwickelt sich nach und nach zu einer aufrichtigen Bindung. Ich weiß nicht, was sie empfindet, aber in mir keimt etwas auf, was noch nicht an Liebe gemahnt, vielleicht einfach nur an Glück.
Ich verbringe immer mehr Zeit mit Schreiben. Seit ich damit begonnen habe, die Geschichte meines Lebens zu erzählen, wünsche ich mir tagein, tagaus nichts sehnlicher, als in die Vergangenheit einzutauchen wie in klares, warmes Wasser.
Ich bin inzwischen bei der Schilderung meiner Reise in den Orient angelangt, und ich könnte mir keine bessere Umgebung wünschen, um mich zu inspirieren, als die, in die mich das Schicksal nun verschlagen hat. Mit seiner Hitze und seinen Farben gehört Chios bereits ganz und gar zur Levante .
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Es war eine unglaubliche Reise. Meine Erinnerung daran ist so detailreich und klar, dass ich tagelang davon erzählen könnte. Wenngleich mir die Fülle dieser Erfahrung im Moment selbst wie ein wüstes Durcheinander neuer Eindrücke erschien, das mein Begriffsvermögen trübte. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ich den Rest meines Lebens und zahlreiche weitere Erfahrungen gebraucht habe, um Ordnung in das zu bringen, was zunächst eine Erschütterung bewirkte, die mich beinahe besinnungslos zurückließ.
An Bord verbrachten wir unsere Tage auf dem warmen Deck. Das Keuchen der Ruderer, das Knacken des Schiffs, die Übelkeit und der dumpf pochende Kopfschmerz verwirrten mir die Sinne. Auch meinen Gefährten erging es nicht besser. Die stolzen Bürger des Aufbruchs hatten ihre schönen Gewänder in den Truhen des Zwischendecks verstaut und lagen nun Tag für Tag bleich und elend in der Nähe der Reling. Darüber vergaßen wir die Gefahren, die uns umgaben, darunter vor allem die Seeräuber. Mehrmals änderte Augustin Sicard unseren Kurs und steuerte das Schiff in einen Hafen oder ließ es auf der Luvseite von Inseln ankern, die uns verbargen, während am Horizont ein verdächtiges Segel vorbeizog. In Agrigent und auf Kreta nahmen wir frisches Trinkwasser an Bord. Und nach einer letzten langen, gefährlichen Etappe auf hoher See erreichten wir schließlich Alexandria in Ägypten. In diesem Hafen wurde ein Teil der Fracht ausgeladen. Einige meiner Gefährten nutzten die Gelegenheit, um auf dem Landweg nach Kairo zu reisen, wo der Sultan regierte. Obwohl ich mich ihnen gerne angeschlossen hätte, musste ich zusammen mit zwei weiteren Reisenden an Bord bleiben, die genau wie ich an Bauchfluss und Fieber litten.
Die fast leere Galeere sollte Kurs auf Beirut nehmen und anschließend nach Alexandria zurückkehren, um diejenigen wieder aufzunehmen, die von Bord gegangen waren. Die Kranken, darunter auch ich, blieben für die kurze Überfahrt auf dem Schiff. Nach und nach besserte sich mein Zustand, und als ich mich wieder erholt hatte, fragte ich die Besatzung nach dem Heiligen Land aus. Ein paar der Seeleute, die schon einmal dort gewesen waren, schilderten mir, was mich erwartete. Alle beharrten darauf, dass ich begeistert sein würde. Und das war ich auch, sobald ich in Beirut von Bord ging. Doch in diese Bewunderung mischte sich ein eigenartiges Gefühl. Ich war erstaunt über meine Begeisterung. Es gelang mir nur schwer, zu bestimmen, was genau mir an diesem Ort so lobenswert erschien.
Natürlich waren da die Farben der Steilküste: Das Meer schimmert smaragden, und in der Ferne ragen hohe Berggipfel über der Stadt auf, hier und da überzogen vom dunklen Grün der Zedernwälder. Die Lage der Stadt ist herrlich, aber andere Zwischenlandungen hatten uns bereits genauso schöne Anblicke beschert.
Beirut ist eine offene Stadt, in der noch Spuren von Gebäuden zu sehen sind, die einst die Kreuzritter errichtet haben, auch wenn die meisten davon in der Zwischenzeit zerstört wurden. Dieser Verfall ähnelt auf traurige Weise dem, welchem zahlreiche Städte und Dörfer in Frankreich ausgesetzt sind. Hier wie dort sieht man Arme und Reiche, Honoratioren und einfaches Volk. Und das Los der niederen Stände scheint im Orient nicht beneidenswerter zu sein als in unseren Marktflecken.
Meine Begeisterung entsprang auch nicht den Verweisen auf die Evangelien. Die Pilger, denen ich in Beirut begegnete, lebten in beständiger Erregung, da sie von einer heiligen Stätte zur nächsten zogen. Ein kahler, mit Kieseln übersäter Fleck versetzte sie in Ekstase, sobald sie darin den Ort wiederzuerkennen glaubten, an dem die Ehebrecherin gesteinigt worden war. Aber ich habe ja schon gestanden, wie wenig mich nach solch himmlischer Nahrung gelüstete.
Meine Gefährten, die in erster Linie Kaufleute waren, begeisterten sich vor allem für die Entdeckungen, die wir in den Suks machten. Die Stadt quoll über von kostbaren Gütern: glasierte Tonwaren aus Martaban, Seide aus Kleinasien, Porzellan aus China, Gewürze aus Indien . Doch all diese Schätze wurden nicht vor Ort gefertigt. Natürlich fand man in der Stadt auch Handwerker, die emaillierte Glaswaren herstellten, Zedernholz mit Perlmuttintarsien versahen oder Kupfer hämmerten, aber ihre Erzeugnisse waren insgesamt eher bescheiden. Und auch das in drückender Hitze daliegende Umland der Stadt war alles andere als ein Garten der Hesperiden. Ich musste den Tatsachen ins Auge sehen: Das Heilige Land war kein Paradies. Worin also lag das besondere Wesen dieses Landstrichs, das dem Betrachter Bewunderung abnötigte? Das begriff ich nach einer Woche.
Auch der Rest unserer Ladung war von der Galeere gebracht worden. Sicard hatte sie durch neue, vor Ort erworbene Fracht ersetzt, die für Kairo bestimmt war. Das Schiff nahm erneut Kurs auf Alexandria und sollte knapp einen Monat später wieder zurückkommen. Ich beschloss, zusammen mit einigen Gefährten an Land zu bleiben. Wir würden beim nächsten Halt des Schiffs wieder an Bord gehen. Bis dahin wollte ich weiter ins Landesinnere vordringen und das Geheimnis des Orients und seiner eigentümlichen Anmutung ergründen.
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