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Luiz Ruffato
Als gesichert gilt, dass der Fußball 1894 im Gepäck des englischstämmigen Charles Miller nach Brasilien kam, der von einem Studienaufenthalt in Großbritannien zwei Bälle mitbrachte, um hier seinen Sport ausüben zu können. Das erste Spiel dürfte dann im Herbst 1895 zwischen den Angestellten der Gaswerke und der São Paulo Railway ausgetragen worden sein. Letztere gewannen die Partie mit 4:2. Von da an verbreitete sich der Sport in Brasilien, das den beneidenswerten Titel des fünfmaligen Weltmeisters (1954, 1958, 1962, 1970, 1994 und 2002) hält, einer der wenigen und unangreifbaren Gründe für brasilianischen Nationalstolz. Es ist so gut wie unmöglich in Brasilien zu leben, ohne sich von den nicht endenden Diskussionen zu diesem Thema anstecken zu lassen, das heute Männer und Frauen gleichermaßen interessiert.
Brasiliens Literaten jedoch hielten von jeher einen gewissen Abstand zu dem Thema, lehnten es ab, als Hauptmotiv sowieso, ja selbst als Nebenschauplatz. Tatsache ist, dass die Protagonisten unserer erzählenden Prosa sich üblicherweise in Gesellschaftsschichten bewegen, die Fußball nicht als kollektive Manifestation wahrnehmen, entweder weil ihm der Makel eines Werkzeugs der Entfremdung anhaftet oder weil er einem Universum zugerechnet wird, das in unserer Belletristik kaum vorkommt, dem »Volk«, das fast immer »marginal« ist und nie der »Arbeiter«.
Interessanterweise weckt Fußball dagegen schon seit seinen Anfängen das Interesse der Intellektuellen. Bereits im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eroberte der Fußball, noch mit der Aura eines Sports der weißen, aristokratischen Elite behaftet, die mondänen Kolumnen der Zeitungen und hatte glühende Anhänger wie João do Rio (1881–1921), den der Glamour auf der Zuschauertribüne faszinierte, jenes »vortreffliche Arrangement lebendiger Schönheit«1, oder Coelho Neto (1864–1934)2, ein fanatischer Anhänger des Fluminense Futebol Clube3, doch auch erbitterte Gegner wie Lima Barreto (1881–1922).
Der Autor von Das Traurige Ende des Policarpo Quaresma4, Maximalist und Pazifist, sah im Fußball von seiner politischen Warte aus eine »Schule der Gewalt und der Brutalität«5 die »auf jede Weise und mit allen Mitteln« zu bekämpfen sei: »Ich kann weder zulassen noch mir vorstellen, dass die Bestimmung der Zivilisation Krieg heißt. Wenn dem so wäre, hätte sie keine Bedeutung. Die Bestimmung der Zivilisation ist der Friede, die Eintracht, die Harmonie zwischen den Menschen. Dafür haben die großen Herzen der Weisen, der Heiligen und der Künstler sich eingesetzt.«6
Anders jedoch als von Lima Barreto befürchtet, gelangte der Fußball in die entferntesten Winkel der Erde und wurde zum populärsten Sport der Welt, dessen Weltverband FIFA heute mehr Mitglieder (208) zählt als die UNO (192). Gleichzeitig hat Fußball die Gesellschaftskolumnen verlassen und seine eigene Abteilung in den Zeitungen bekommen, mit zahllosen Chronisten: von gelegentlichen wie Carlos Drummond de Andrade (1902–1987) oder José Lins do Rego (1901–1957) bis zu professionellen wie Mário Filho (1908–1966), João Saldanha (1917–1990), Roberto Drummond (1933–2001) sowie Nelson Rodrigues (1912–1980), dem Größten von allen. Doch die Begeisterung der Chronisten sprang nie auf Romanautoren und Erzähler über. Fußball blieb fast immer draußen, ausgesperrt aus dem großen Haus der Belletristik.
Die ersten Berührungen indes waren vielversprechend. 1927 veröffentlichte Alcântara Machado Brás, Bexiga e Barra Funda, einen Band mit Kurzgeschichten, der auch das kleine Meisterwerk »Corinthians 2 × 1 Palestra« enthält. Im Jahr darauf taucht dieser Sport kurz in Macunaíma7 von Mário de Andrade (1893–1945) auf. Danach findet er nur noch sporadisch in Romane Einzug: Água Mãe (1941) von José Lins do Rego (1901–1975), O sol escuro (1966) von Macedo Miranda (1920–1975), Crônica do Valente Parintins (1976) von Ewelson Soares Pinto (1926), À saída do primeiro tempo (1978) von Renato Pompeu (1941), Segunda divisão (2005) von Clara Arreguy (1959), O segundo tempo (2006) von Michel Laub (1973). Außerdem widmen sich zwei Erzählbände dem Fußball: Maracanã Adeus (1980) von Edilberto Coutinho (1938–1995) und Contos de Futebol (1997) von Aldir Garcia Schlee (1934).8
Flávio Moreira da Costa (1942) organisierte 1986 die erste brasilianische Fußballanthologie Onze em campo mit Fußballgeschichten von neun Schriftstellern und zwei Schriftstellerinnen. Zwölf Jahre später erlebte das Buch eine erweiterte Neuauflage unter dem Titel Onze em campo e um banco de primeira, in der quasi von der Ersatzbank fünf weitere Autoren, darunter wiederum eine Frau, aufgenommen wurden.9 2006 wurde die Anthologie aus Anlass der Weltmeisterschaft in Deutschland abermals erweitert auf nun 22 Erzählerinnen und Erzähler und unter dem Titel 22 contistas em campo. Noch im selben Jahr erschienen in Brasilien drei weitere Fußballanthologien: Cyro de Mattos (1939) wählte 19 Texte für die von Juca Kfouri eingeleitete Anthologie Contos brasileiros de futebol10 aus, elf bis dahin unveröffentlichte Texte wurden für den Band 11 histórias de futebol zusammengetragen und Donos da Bola, herausgegeben von Eduardo Coelho, versammelt Fußballtexte unterschiedlicher Genres, darunter Glossen, Kurzgeschichten, Gedichte und Liedtexte.
Die vorliegende Anthologie nun ist ein weiterer Beweis, dass das Klima der Ablehnung des Fußballs als Thema der erzählenden Literatur sich verändert. Der Band enthält 15 der wichtigsten Namen der zeitgenössischen brasilianischen Literatur, die sich der Herausforderung gestellt haben, bisher unveröffentlichte11 Texte für ein zuerst auf Deutsch erscheinendes Buch beizusteuern.12 Mit dem Ziel, einige Kostproben der territorialen und kulturellen Komplexität eines so großen und unfassbaren Landes wie Brasilien zu geben, habe ich als Herausgeber mich entschieden, unterschiedliche Generationen zu Wort kommen zu lassen (der älteste Autor ist 62, der jüngste 33), unterschiedliche Regionen (fünf stammen aus dem Südwesten, vier aus dem Süden, zwei aus dem Nordosten, zwei aus dem mittleren Westen, und zwei wurden im Ausland geboren), unterschiedliche Wohnorte (fünf leben in Rio de Janeiro, vier in São Paulo, zwei in Curitiba und die anderen jeweils in Recife, Fortaleza, Brasília und den USA), neun Männer und sechs Frauen. Das Einzige, was mir nicht gelingen wollte, ist eine Balance zwischen der Größe und der Bedeutung der Clubs und ihrer Anhängerschaft unter den eingeladenen Schriftstellern. Flamengo, mit der größten, schönsten und sympathischsten Anhängerschaft in ganz Brasilien, wird, mit Ausnahme von mir, nur von einem Autor als Lieblingsmannschaft genannt, während Botafogo unter ihnen vier Anhänger hat, gefolgt von Fluminense und Atlético Paranaense mit jeweils zwei Anhängern und Coritiba, Palmeira, Vasco, Grêmio, Goiás und Fortaleza mit jeweils einem ...
Lieber Leser, nehmen Sie dieses Buch als einen Weg, Brasilien kennenzulernen, über eine der größten Leidenschaften seiner Bevölkerung, den Fußball!
Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler
1Hora do foot-ball, in: Donos da bola. Rio de Janeiro: Língua Geral 2006, S. 130.
2Sein Sohn, João Coelho Neto (1905–1979) war als »Preguinho« bekannt, einer der besten Torschützen in der Geschichte von Fluminense und Nationalspieler bei der ersten Weltmeisterschaft in Uruguai 1930.
3Gegründet am 21. Juli 1902 von Oscar Cox, der den Fußball nach Rio de Janeiro brachte.
4Deutsch von Berthold Zilly, Zürich: Ammann, 2001.
5Lima Barreto: Toda crônica, hg. v. Beatriz Resende und Rachel Valença, Rio de Janeiro: Agir 2004, Bd. II, S. 526.
6Ebd., Bd. II, S. 343.
7Deutsch von Curt Mayer-Clason, Frankfurt: Suhrkamp 1982.
8Nach der 2:1-Niederlage gegen Uruguay bei der Weltmeisterschaft 1950 beschloss der brasilianische Fußballverband, das damals verwendete weiße Trikot auszumustern und schrieb einen landesweiten Wettbewerb für ein neues Trikot aus. Der junge Aldyr Garcia Schlee gewann diesen Wettbewerb mit seinem Entwurf des berühmten kanariengelben Trikots, der mutatis mutandis bis heute offiziellen Kleidung der brasilianischen Nationalmannschaft...
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