Schweitzer Fachinformationen
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Sie knurpseln. Machen leise Schnaufer und mörsermäßige Malmgeräusche, dazwischen kleine Pruster wie sehr diskrete Ponyfohlen. Wenn man einen Hirsch kauen hören kann, ist er wirklich nah.
Und wenn man die einzelnen Poren auf ihren Nasen erkennen kann, die glänzen, wie mit Schuhcreme poliert. Die langen Wimpern, an denen ein Beauty-Guru lange klöppeln müsste. Die samtigen Ohrinnenseiten, die gerupften Stellen im Fell, wo Raufereien mit den anderen Löcher hinterlassen haben. So klar, so scharf ist jedes Hirschdetail aus der Nähe zu erkennen, als habe man eine wirklich gute Nahaufnahme auf dem Smartphone mit einem Fingerwisch noch größer gezogen.
Ulkig, dieser Vergleich, denn das hier ist der erste Moment seit sehr langer Zeit, in dem ich neben zwölf anderen Menschen sitze, und keiner von ihnen hantiert mit einem Handy. Erstens, weil es viel zu kalt dafür ist und die Hände in den Fäustlingen längst zu unbrauchbaren Tiefkühlkartoffeln gefrostet sind. Und zweitens, weil man sich lieber ganz auf den kleinen Stüber in den Oberschenkel konzentriert, als eine Geweihspitze leicht ins Menschenbein piekst, weil das größte Tier, ganz nah, ohne Zaun, den Kopf senkt, um - knurpsel, knurpsel - noch etwas Futter vom Boden zu klauben.
Ich sitze auf einer eisigen Bierbank, auf einer Lichtung irgendwo in den Wäldern über Bad Gastein, und trage quasi alles, was ich an Kleidung besitze, alles übereinander, so viele Lagen wie noch nie, rollbratenesk bin ich in den neuen Thermoparka hineingeschwollen. Die Kälte knackt sich trotzdem ihren Weg durch die Schichten, direkt ins Geknöcher. Schon die 20 Minuten als Quadbeifahrer, die man braucht, um vom Après-Ski-Bumsfallera im Tal hier oben in einer Stille anzukommen, in der man Hirsche schmatzen hören kann, reichen für die Komplettvereisung. Steif wie ein Fischstäbchen sitze ich nun bei der gebuchten Hirschfütterung, nein, nicht bei, sondern in, tatsächlich mittendrin, umringt von den Tieren, und bin davon so angefasst und ehrfürchtig, dass sogar mein sonst notorischer Streichelimpuls und Tier-Antatschdrang ausbleibt.
Ich frage mich nur theoretisch, wie sich die Hirsche wohl anfühlen. Manche haben glattes, glänzendes Fell wie mein Hund, wenn ich ihn zum Zeckenschutz mit Kokosöl eingerieben habe, andere sind eher strubbelig, haben fast so etwas wie eine kleine Pferdemähne. Es gibt bräunliche, rötliche, gelbliche Hirsche, eine Hirschkuh hat ein Kängurugesicht, der daneben grinst wie ein Schmunzelhase.
Mitten zwischen den Hirschen steht Thomas Tscherne und ruft die Zögerlichen, die lieber noch ein bisschen wegbleiben und aus 50 Metern zu den Menschen herüberschielen: »Geh Hirscherl! Jo! Jo, wos is denn?« Er veranstaltet die Hirschfütterung, im Winter fährt er zweimal täglich ein Dutzend Menschen auf den Berg. Jetzt schüttet er Futterspuren in den Schnee, die die Hirsche wie ein Notausgangsleuchtsystem im Flugzeug beim Abfressen automatisch zu den menschlichen Besuchern lotsen. Thomas Tscherne ist auf eine sehr gesunde Art irre, aber dazu gleich.
150 Hirschleiber, gekleckste, schieferbraune Flecken auf der weißen Landschaftsleinwand. Wie groß die sind! So nah habe ich bis jetzt nur das kleinere, harmloser aussehende Damwild erlebt, streichelfertig eingezäunt. Der Besuch bei den zahmen Tieren im Wildpark Bad Orb war als Kind jedes Jahr das tierkontaktliche Hochamt meiner Sommerferien.
Näher als auf 20 Meter war ich im wilden Wald, ganz ohne Zaun, nur einmal vor vielen Jahren an einen Hirsch herangekommen, als ich bei einer größeren Jagd als Treiber arbeitete. Ich sollte eine Reportage über das von einem flamboyanten Landadligen veranstaltete Ereignis schreiben, doch weil mich der Veranstalter im Verdacht hatte, in Wahrheit eine störwillige Tierrechtsaktivistin zu sein, durfte ich nicht, wie abgesprochen, mit einem Jäger gemütlich auf dem Hochsitz sitzen und alles von dort oben beobachten - schließlich könnte ich ihm ja beim entscheidenden Schuss impulsiv in den Gewehrlauf greifen, um das Tierchen im Visier zu retten, wie in einer Heimatschmonzette mit der jungen Lieselotte Pulver, nur vermutlich ohne anschließende Knutscherei. Also wurde ich in die Treiberreihe eingegliedert, wo ich wenig Schaden anrichten konnte, angetan mit einer knallgelben Warnweste und ausgerüstet mit einem Holzknüppel, mit dem ich auf Bäume schlagen und solchermaßen Tiere aufstöbern sollte. Während ich in ständiger Wildschweinfurcht durch die Brombeerhecken kroch, ergaben sich mehrfach kurtschmidtchenhafte Verwechslungen, weil ein ebenfalls in die Jagdgesellschaft involvierter Weimaraner genauso hieß wie ich, beim Tiere Aufstöbern allerdings deutlich weniger phlegmatisch war, daran konnte man uns ganz gut unterscheiden. Irgendwann sprang dann jedenfalls tatsächlich ein aufgescheuchter Hirsch vorne quer an mir vorbei, doch da war ich schon zu erschöpft von der Gebüschdurchpflügung, um den Moment genießen zu können.
Jetzt, im Gasteiner Wald, fühle ich mich, als habe jemand meinen Wortschatz durch das Vokabular aus den Ludwig-Ganghofer-Schinken auf dem Omabuchregal ersetzt - ich denke Sätze, die nach »Das Schweigen im Walde« oder »Der Herrgottschnitzer von Ammergau« klingen, und dazu fühle ich mich, als hätte man mich hineingephotoshopt in ein röhrendes Schmalzbergpanorama, wie es goldgerahmt über abgeschabten Samtsofas hängt. »NATUR!«, denke ich, ja wirklich, in Großbuchstaben, so mächtig, gewaltig und überwältigend ist diese Masse Tier vor mir. Dramatischer kann es sich nicht anfühlen, mit den Haien zu schwimmen oder im Safariauto Löwen zu umkurven.[1]
Einschüchternd schön, dieses bisher unerlebte Gefühl, für eine kleine, besondere Weile Teil einer Welt zu sein, die einem normalerweise verborgen ist, weil ihre Wesen sonst weggeduckt im Dickicht leben. Obwohl ich wirklich nicht unter Yoga-Verdacht stehe oder zu Entrücktheiten neige: Es scheint eine fast meditative Energie von den Tieren auszugehen. Eine stille Würde, die sich nur schwer beschreiben lässt.
Vorsichtig atmen, bloß nicht mit dem Anorak knistern. War mir jemals so kalt? Ich glaube nicht. Nur Thomas Tscherne, in fichtennadelgrüner Jägerjoppe und Walkstoffhose, mützenlos und mit bloßen Händen, fröstelt nicht mal, wie er sich mit fast Tai-Chi-haften Gesten zwischen den Hirschen bewegt. Sie vertrauen ihm, doch sie sind keine zahmen Zeichentricktiere. »Hirscherl! Hirscherl, wos is?«, ruft er nach dem Rest des Rudels. Eile hat er keine, schließlich wartet er seit 20 Jahren auf sie.
So lange schon kommt der Hotelier im Winter täglich auf den Berg, um die Hirsche zu füttern, obwohl er sie dabei jahrelang nicht einmal aus der Ferne zu Gesicht bekam. Er brachte ihnen Futter als zumindest kleine Entschädigung für die vielen Waldstücke und Lichtungen, von denen die Menschen im Angertal sie vertrieben haben, um für Skilifte und Pisten Platz zu machen. Damit der Hunger die Hirsche nicht ins Tal treibt, wo sie zum Ärgernis werden könnten, füttert er die Tiere hier oben, um sie auf dem Fleckchen Berg zu halten, das der Mensch ihnen gelassen hat - mit 2,5 Millionen Gästeübernachtungen im Jahr kann es eng werden im Gasteinertal.
Heute fährt Tscherne auf dem Quad oder in seinem ausgemusterten russischen Hummer auf den Berg, jahrelang ging er zu Fuß, weil es noch keine Zufahrt gab, drei oder vier Stunden durch manchmal brusthohen Schnee, jeden Tag, bei Fieber, mit Zahnschmerzen, kein Urlaub, keine Ausnahmen.
Nur sehr selten, wenn es gar nicht ging, übernahm seine Frau, um die Hirsche nicht mit fremdem Menschengeruch zu irritieren - für die Hirsche riechen die beiden ähnlich, zusammengehörig, ein schöner Gedanke eigentlich. 20 Jahre also, jeden Wintertag, obwohl die scheuen Tiere das Futter jahrelang erst fraßen, als er längst wieder abgestiegen war. »Im ersten Jahr dachte ich, das halte ich nicht noch einen Winter durch«, sagt Thomas Tscherne. Ein Jahrhundertwinter war das damals, im Februar gab es in der Woche zweimal über Nacht einen Meter frischen Neuschnee, dazu der steile Aufstieg. Nein, nicht noch einen Winter! Doch dann war es am nächsten Tag schon nicht mehr ganz so schlimm, am dritten Tag schien die Sonne, der Schnee glitzerte - »dann war's eh schon wieder schee«.
Schon mit sechs Jahren wusste Thomas Tscherne, dass er Förster werden wollte, dabei gab es in seiner Familie kein Vorbild, von dem er sich die Besessenheit für Wild und Natur hätte abschauen können. Fünf Jahre ging er auf die Försterschule, bis er merkte, dass Forstwirtschaft nicht unbedingt viel mit Ökologie, dafür eine Menge mit Ökonomie zu tun hat. Enttäuscht ging er in die USA und arbeitete dort vier Jahre als Helikopterpilot, auch in Kanada, dann kam er zurück ins Gasteinertal, kaufte ein Hotel und fing an, die Hirsche zu füttern.
Drei Jahre dauerte es, bis er die Hirsche aus der Ferne beim Fressen beobachten durfte. Im fünften Jahr setzte er sich irgendwann mitten auf den Futterplatz und blieb, bis es finster wurde. Die Tiere betrachteten ihn von weitem, wagten sich im Dunkeln vor, weil sie sich in der Nacht sicherer fühlen. Schritt für Schritt gewöhnte er so die Hirsche an sich. Nie hat er das erste Mal vergessen, als sie dann endlich zu ihm kamen.
Den ganzen Nachmittag hatte er große, 30-Kilo-Heuballen herumgeschleppt, schon eine gute Stunde saß er auf einem von ihnen obenauf, als er sah, wie es drüben am Waldrand immer voller wurde. »Ein Kalb hat sich dann von...
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