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Im zwanzigsten Jahrhundert publizierte Heinrich Mann antisemitische Beiträge. Er vertrat darin die Auffassung, dass das Judentum der gefährlichste Gegner der abendländischen Kultur und der politisch-kulturellen Identität der Deutschen sei.91 Zum Teil reagierte er darin auf Debatten, die von Juden in der öffentlichen Auseinandersetzung um ihre Stellung im Deutschen Reich und Europa angestoßen worden waren, etwa von Theodor Herzls (1860-1904) Schrift Der Judenstaat, die 1896 erschien und weltweit für Diskussionen sorgte.92 Herzl erörterte darin die Frage nach einem eigenen Judenstaat. Beeinflusst von dem wachsenden Antisemitismus in Europa wurde er zum Vordenker des Staates Israel.
Nach der Gründungseuphorie der ersten Nachkriegsjahre brach im Mai 1873 die Wiener Börse zusammen und löste ein europäisches Erdbeben aus, mit fatalen Folgen für das neu gegründete Reich. Das Reich geriet in wirtschaftliche Turbulenzen. Der Rausch der Gründerjahre entwickelte sich zu einem weite Teile der Gesellschaft erfassenden Kater. Die von Frankreich geleisteten Kriegsentschädigungen hatten einen Wirtschafts- und Aktienboom entfacht, der nun nach zwei Jahren der Überhitzung zu zahlreichen Firmen- und Bankenzusammenbrüchen führte. Der »Gründerboom« entlarvte sich zunehmend als »Gründerschwindel«. Er mündete in einer »Großen Depression«, deren Folgen erst Ende des Jahrhunderts überwunden werden konnten.93 In dieser Phase des Wilhelminischen Reiches offenbarte sich, dass es dem Bismarck-Reich jenseits von Militarismus und Machtbewusstsein an einer Staatsidee mangelte, die den divergierenden Kräften des jungen Nationalstaates eine sie verbindende Zukunftsvision verhieß. Integration und nicht Ausgrenzung hätten die Stichworte dafür sein können. Doch stattdessen kam es mit dem Kulturkampf und den Sozialistengesetzen zum Gegenteil. Nicht nur die Katholiken und die Sozialdemokratie hatten unter dem »evangelischen Kaisertum« zu leiden, das den Versuch unternahm, die politische Hegemonie Preußens durch die kulturelle Hegemonie des Protestantismus zu untermauern.94
Zu den Leidtragenden dieser Entwicklung zählten vor allem die in Deutschland lebenden Juden. Judenfeindliche Artikel erschienen fortan vermehrt in Zeitungen des Deutschen Reiches, nicht nur in der radikal konservativen Kreuzzeitung. Auch in der Literatur breiteten sich vermehrt antijüdische Klischees aus. Je stärker in der »Großen Depression« die soziale Frage zum beherrschenden Thema wurde, desto hoffähiger wurde der Antisemitismus. Heinrich Mann zählte zu denen, die ihn wie Gustav Freytag (1816-1895), Felix Dahn (1834-1912), Heinrich von Treitschke (1834-1896) oder Adolf Stoecker (1835-1909) schürten. Am heftigsten geschah dies in seinem Beitrag Jüdischen Glaubens, der im August 1895 im zwanzigsten Jahrhundert erschien. Er bezog sich darin auf die kurz zuvor erstmals erschienene Monatszeitschrift Im deutschen Reich. Sie wurde vom »Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens« herausgegeben, der sich für die staatsbürgerlichen Rechte deutscher Juden im Kaiserreich einsetzte. Für ein Entgegenkommen gegenüber den Juden sah Heinrich Mann keinerlei Anlass. In Anspielung auf die Judenpogrome in Russland Ende des 19. Jahrhunderts sprach er von einem Typus des Mitbürgers, »der mit einem Haufen schmutziger Wäsche (in mehrfacher Bedeutung) von Osten her bei uns eingefallen ist«. Mit unlauteren Mitteln hätten sie es zu Einfluss gebracht und wären zu einer Macht geworden, die sich inzwischen auf einer Höhe befände, »wo der Diebstahl diesen Namen verliert, weil er sich in Millionen berechnet«95.
Heinrich Mann erblickte in den Juden eine Rasse, die sich gegen alle positiven Tendenzen des modernen Nationalstaatsprinzips stellt. »Eine über die gesamte europäische Völkerfamilie verbreitete fremde Art, die durch ein instinktives oder förmliches Rassenbündnis zusammengehalten wird, ist gezwungen, ihre Tendenzen, die denen jeder anderen Rasse nothwendig feindlich wird, fortwährend zu behaupten, fortwährend ihren Einfluß höher hinaufzuschieben; von der Handelswelt in die Welt der Ideen und Meinungen und von da in die Welt der politischen Aktion.«96 Er scheute nicht davor zurück, das Klischee des skrupellosen reichen Juden zu bedienen, der mit seinem Tilbury »Unter den Linden« entlangfahre und dem etwas Unheimliches anhafte, »als rollten seine Räder über tausend Leichen«97. Derartige Feststellungen schildern seine damalige Geisteshaltung. Weitere Zitate könnten dies belegen.
Paul Cassirer, Gemälde von Leopold Graf von Kalckreuth
In der Figur des skrupellosen Bankiers und jüdischen Finanzjongleurs Türkheimer in seinem Roman Im Schlaraffenland gab er seiner antisemitischen Sichtweise auch noch Jahre später literarisch Ausdruck. Bei den Türkheimers rollte das Geld unter den Möbeln umher, bemerkt der skrupellose Möchtegern Andreas Zumsee.98 Heinrich schilderte in ihm eine Figur, »zugleich rätselhaft lächelnd, voll unheimlicher Jovialität, Menschenverachtung und Grausamkeit«, die durch die Allmacht des Geldes verlockt an einem Hof von Parasiten lebt.99 Der Roman erschien bei dem Kunsthändler und Verleger Paul Cassirer (1871-1926). In seinen Erinnerungen blickte Heinrich Mann zurück: »Zufälle, die es gewiß nur scheinbar waren, verbanden mich mit wenigstens zwei ganz ungewöhnlichen Geschäftsleuten. Der Kunsthändler Paul Cassirer war mir gegenüber ein Kenner mehr als ein Kaufmann. Buchverleger wurde er erst an mir (.). Fünf Jahre, von 1910 bis 14, bezahlte er meine längst vorliegenden Leistungen reichlich, ohne auf Gewinn oder nur Ersatz zu achten. (.) Als seine Zeit kam, hatte ein ebenso gewöhnlicher Buchhändler, mit Namen Georg Heinrich Meyer (1869-1931, d. V.), plötzlich alles bekanntgemacht, was ich seit 1900, fünfzehn Jahre lang, geschrieben hatte. Die bisherigen Erfolge bei Eingeweihten verwandelten sich in Publikumsschlager«.100 Beide Verleger waren Juden.
Dem Leser der Zeilen aus dem zwanzigsten Jahrhundert stockt vermutlich der Atem, weil sich hier ein Bild von Heinrich Mann entfaltet, das so gar nicht zu seinen späteren Schriften und seinem weit verbreiteten öffentlichen Bild als Humanist, Pazifist und Sozialist passt. Durch sein Leben ging ein Riss. Die Prägungen des Wilhelminischen Reiches, seine Herkunft aus einer reichen Patrizierfamilie mit dem Bewusstsein für Wohlstand, Ordnungssinn, dem Denken in Standesschranken und Hierarchien bestimmte bis zur Jahrhundertwende sein Wesen. Dazu zählte auch der Antisemitismus, dem er allerdings später entschieden entgegentrat.101 Seinem Freund Ewers schrieb er: »Kurz und gut, ich bin, wie Du sehen kannst, so ziemlich Ultra-Reaktionär, und mein System ist das der Verdummung der Massen, welcher Zweck übrigens sämtliche Mittel heiligt (katholische Kirche etc.).-Theoretisch wissenschaftlichen Fortschritt schließt das ja nicht aus«.102
Heinrich Manns Schriften im zwanzigsten Jahrhundert verdienen auch deshalb Aufmerksamkeit, weil er sich hier erstmals prononciert als politischer Schriftsteller präsentierte. In zahlreichen Aufsätzen legte er den Grundstein für sein späteres Werk, das fortan um das große Thema »Geist und Macht« kreisen sollte. Doch stand er damals noch ganz auf der Seite der Macht. Zu ihrem Erhalt wollte er durch sein schriftstellerisches Engagement beitragen. Das Volk betrachtete er hingegen als eine dumpfe Masse, die sich unterzuordnen habe und keiner näheren Beachtung wert sei. Diese Position verstärkte sich zunächst, je mehr er sich mit dem Werk Friedrich Nietzsches beschäftigte, dem genialen Beschwörer des Zeitgefühls der Jahrhundertwende. Heinrich Mann hatte sich schon früh mit seinen Schriften auseinandergesetzt. Seinem Freund Ludwig Ewers gegenüber bekannte er 1892 in einem Brief: »Nietzsche ist fürs erste meine Hauptlektüre«.103 Im zwanzigsten Jahrhundert widmete er ihm seinen ersten Aufsatz unter dem Titel Zum Verständnisse Nietzsches.104 Allerdings gewinnt der Leser den Eindruck, dass ihm der Blick auf Nietzsches radikales Denken noch von seiner eigenen Weltanschauung verstellt wurde, da es mit überkommenen Konventionen und Traditionen brach. Doch alsbald erkannte er, dass dessen Kritik am Wilhelminischen Reich nicht primär auf die Kultur, sondern auf den Staat zielte, der Geist und Kultur unterdrücke, um sich ganz dem Taumel der Industrialisierung in den Gründerjahren hinzugeben105. In Nietzsches Denken nahm der Künstler als »Philosoph der Macht« eine Sonderrolle ein.106 Nietzsche wollte der...
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