Bianca, du bist wie immer meine Rettung!« Carola zog ihre Freundin in die Wohnung und warf die Tür hinter ihr zu.
Bianca sah gehetzt aus, trug eine Schüssel Kartoffelsalat unterm Arm, und das grüne Kleid betonte die unvorteilhaften Stellen ihres Körpers. Carola hätte gern Biancas langweilige Frisur durcheinandergebracht und ihr etwas Leben in den Leib geschüttelt, aber dafür war keine Zeit.
»Komm mit«, sagte sie und ging zum Schlafzimmer. Sie musste sich beeilen, wenn sie ihre Gäste nicht im Bademantel empfangen wollte.
Bianca stellte auf dem Weg den Kartoffelsalat auf dem Büfetttisch ab. Sie war die zuverlässigste Person, die Carola kannte. Und sie war herrlich unambitioniert. Auf den Partys saß sie meist stumm auf dem Sofa und nippte an einem Mineralwasser. Sie war ein Joker, den Carola einsetzen konnte, wann immer sie ihn brauchte. So wie jetzt.
»Guck dir das an.« Carola deutete auf das Kleid, das auf ihrem Bett lag. »Ich soll es heute Abend tragen und viele Fotos von mir ins Netz stellen. Es ist fast sechstausend Euro wert.«
»Es ist scheußlich«, sagte Bianca und berührte zögerlich den regenbogenfarbenen Stoff.
Sie brachte das Problem auf den Punkt. Das Kleid war ein mit Kristallen besetzter Albtraum. Selbst mit viel gutem Willen ließ sich aus dem Look nichts machen, was Carola nicht in eine Witzfigur verwandelte.
»Wer hat dir das geschickt?«
»Ein Freund von Felix arbeitet bei Boulgatonie. Ich denke, Felix schustert mir solche Deals zu, weil er sehen will, wie verlässlich ich arbeite.«
Bianca setzte sich neben dem Kleid auf das Bett und sah ihre Freundin an. »Hat es nicht auch etwas mit Verlässlichkeit zu tun, wenn man etwas ablehnt, weil es an einem selbst nicht gut aussieht?«
Für einen Moment überlegte Carola, ob Bianca in das Kleid passen würde, und sie musste grinsen. Bianca war so sehr das Gegenteil von ihr, dass man das Kleid anschließend nur noch im Zirkus verkaufen könnte.
»Du hast recht. Und genau deshalb bist du so wichtig für mich«, sagte sie leichthin und trat zum Schrank, um ein anderes Kleid auszuwählen. Bei all den Klamotten, die sie zugeschickt bekam, hätte sie zwei Monate lang jeden Tag etwas Neues tragen können. Wer ihren Blog verfolgte, schickte ihr etwas in Rot, am besten mit einem goldenen Gürtel. Genau das Richtige für eine schlanke Blondine, die mit ihren neunundzwanzig Jahren die Welt im Griff hatte.
»Was willst du überhaupt von Felix? Er kommt doch immer nur her, um Weiber klarzumachen.«
»Du weißt schon, dass er ein einflussreicher Mann ist, oder?«, fragte Carola und legte ungeniert den Bademantel ab. Ihre Freundin hatte sie schon oft in Dessous gesehen.
»Seit seiner Scheidung und der öffentlichen Schlammschlacht ist er gar nicht mehr so beliebt.«
Carola lächelte. Ohne seine private Misere wäre sie niemals an Felix herangekommen. Seine kurze Bodenhaftung hatte ihr den Zugang zu einem Mann geöffnet, der sonst ein äußerst egozentrisches Leben führte. Sie war zur rechten Zeit im richtigen Klub gewesen, hatte die Ahnungslose gespielt und seinen Kummer geerntet. Er schuldete ihr etwas, weil sie alle Bekenntnisse seines alkoholträchtigen Moments für sich behielt.
Bianca stand auf und ging zur Tür. »Ich nehme mal an, dass noch ein paar Vorbereitungen erledigt werden müssen?«
»Das ist so lieb von dir. Du weißt ja, wo alles steht.«
Carola holte ein kurzes, enges Kleid aus dem Schrank, das scharlachrot leuchtete. Auf ihren Partys war sie stets ein Hingucker. Nahbar, freundschaftlich und Fäden spinnend.
Sie beeilte sich mit dem Anziehen und wählte den passenden Schmuck dazu. Golden und filigran, ihrem Äußeren schmeichelnd. Sie sah sich im Spiegel in die Augen. Ein offener Blick, wie ihn kein anderer Mensch je sehen würde. Das Leben war ein Spiel, und Carola konnte bluffen.
Es klingelte. Sie hörte Bianca zur Tür gehen. Bis die Gäste im fünften Stock ankamen, würde sie Bianca am Eingang ablösen. Jeder Gast sollte als Erstes und als Letztes an diesem Abend die Gastgeberin sehen und dadurch das Gefühl bekommen, wichtig zu sein. Es gehörte nicht viel Aufwand dazu, andere glauben zu lassen, sie würden zum inneren Kreis gehören. Ein Kompliment hier, überschwängliche Anteilnahme da - der Verstand wurde übertölpelt von unerwarteter, aufgesetzter Nähe. Und wenn Carola an die Gästeliste für diesen Abend dachte, war sie sehr stolz auf die Komposition der Möglichkeiten.
Die Show lief wie immer gut. Carola verstrickte ihre Gäste in Gespräche, in die sie eintauchen konnte, wann immer es ihr gefiel, ohne dass jemand sie zu lange in Beschlag nahm. Die Namen derjenigen, die ohne Entschuldigung nicht gekommen waren, markierte sie auf der Liste in der Küche mit einem kleinen roten Punkt. Die Zettel mit den siebzig Namen steckten zwischen den Kochbüchern, die eher aus Dekorationszwecken unter dem Tresen standen. Wer sich nicht abmeldete, wurde so schnell nicht wieder eingeladen, was auch für jene galt, die vor Mitternacht gingen und andere mitzogen. Niemand sollte glauben, diese Partys wären eine Selbstverständlichkeit. Hier zu sein, war ein Privileg.
»Na, machst du wieder deine Notizen?«
Carola schob die Zettel an ihren Platz zurück und drehte sich mit einem Lächeln um. »Amüsierst du dich, Dagmar?«
Die Frau in dem schwarzen, eleganten Kleid stand Carola in puncto Attraktivität in nichts nach. Sie war die personifizierte Konkurrenz, ein finsterer Albtraum, und sie war ihr bei Felix ein Stückchen voraus. Er hatte sie mitgebracht, weshalb Carola sie begrüßt hatte wie ihre liebste Freundin, obwohl sie ihr am liebsten die Tür vor der Nase zugeschlagen hätte. Die Metamorphose von einem billigen Partygirl zu einer ernst zu nehmenden Geschäftsfrau hatte nur zwei Jahre gedauert, weil Dagmar alles kopierte, was Carola vorlebte. Und mittlerweile drohte ihre finstere Zwillingsschwester, sie rechts zu überholen.
»Er wird mir die Kolumne geben«, sagte Dagmar ohne Umschweife. »Ich bin sein Typ. Das kannst du auch gleich in deinen Unterlagen notieren.«
Carola grinste. »Das freut mich für dich. Du wirst das sicher großartig machen. Ich wusste gar nicht, dass du so belesen bist.«
Im Hintergrund lachte eine Gruppe, die Stimmung unter den Gästen war gut. Die offene Küche war kein Ort für ebenso offene Worte. Es nervte Carola, dass diese Frau von den Aufzeichnungen wusste und es jedem unter die Nase rieb, der mehr als drei Worte mit ihr wechselte. Carola übte sich darin, Dagmars Ausführungen diesbezüglich subtil ins Lächerliche zu ziehen. Ein Scherz hier, eine Ersatzliste da, auf der sie nur Häkchen hinter die Namen gemacht hatte und die sie halb verdeckt in der Küche liegen ließ, würden reichen, um den Gerüchten das Gewicht zu nehmen.
Dagmar nahm sich einen Käsespieß vom Büfett und schwenkte ihn durch die Luft wie eine Zigarette. »Warum trägst du das Kleid nicht? Felix hat sich das auch schon gefragt. Wir waren uns einig, dass Boulgatonie dir dieses schicken sollte. Es passt zu deinen blauen Augen.«
Die Gelassenheit war Carolas Schutzwall, den jemand wie Dagmar nicht durchbrechen konnte. Mit einer eleganten Geste strich sie sich die Haare über die Schultern und trat etwas näher an Dagmar heran, um leiser zu sprechen. »Es braucht ein paar Jahre, bis man ein Auge für guten Stil entwickelt. Aber keine Sorge, da kommst du auch noch hin.«
Mit einem Zwinkern ließ sie ihre Konkurrentin stehen und wusste, mit wem sie jetzt reden musste, um die passende Retourkutsche auf diesen Angriff in Gang zu setzen. Felix lächelte sie im Vorbeigehen unbedarft an. Sie war sich sicher, dass Dagmar ihm irgendwas über körperliche Missstände auftischen würde als Begründung, warum Carola das Kleid nicht trug. Sie würde derlei nicht mit einer Rechtfertigung untermauern.
Elegant wirkte, wer niemals etwas Negatives über andere sagte, es sei denn, es demonstrierte Stärke und Entschlossenheit. Wie Carolas Distanzierung von Akif Pirinçci, als er bei seiner Pegida-Rede bedauert hatte, dass es keine Konzentrationslager mehr gab. Carola hatte bis dahin nicht mal gewusst, wer der Kerl war, aber sie kaufte sich schnell einen seiner Katzenkrimis bei Amazon Marketplace, schmiss diesen hochoffiziell in den Müll und kommentierte das Foto in ihrem Blog mit dem Statement, dass sie sich von diesem Menschen distanzierte. Der Link wurde vielfach geteilt, kommentiert und gelikt.
Dagmar tat ihr leider nicht den Gefallen, sich öffentlich derart zu äußern, dass sich Carola von ihr distanzieren konnte. Für sie bedurfte es einer anderen Art der sanften gesellschaftlichen Entfernung.
»Schön, dass du da bist«, sagte sie zu Jens, der gerade dem Gespräch von Sven und Beate zuhörte. Carola strich mit einer Hand über seinen Oberarm. Unter dem Stoff spürte sie die Muskeln und die Anspannung, die sie bei ihrem heimlichen Verehrer verursachte. »Mein Beetle schnurrt wie ein Kätzchen.« Umgehend lenkte sie das Thema auf die gemeinsame Fahrt nach Wolfsburg, wo sie dank ihm Prozente beim Kauf des Autos erhalten hatte. Seitdem parkte der Wagen in der Tiefgarage und war nicht mehr bewegt worden. Sie wohnte mitten in Hamburg in direkter Nachbarschaft des Michels. Eigentlich brauchte sie kein Auto, aber falls doch, stand es für sie bereit.
Jens wurde rot und senkte verlegen den Blick. Für jemanden, der in Hamburg die teuersten Immobilien an den Mann brachte, wirkte er oft jungenhaft und weich. Genau das machte ihn trotz seines durchtrainierten Körpers so unattraktiv für Carola.
Er hingegen war bis über beide Ohren in sie verliebt. Jeden seiner Offenbarungsversuche hatte sie bislang im Keim erstickt, aber sie fürchtete, dass es irgendwann einfach aus ihm...