Kapitel 2: Kiffen
Jenny und ich saßen im Mathekurs wie immer nebeneinander. Jenny war gut in Mathe, ich hingegen hasste es. Zahlen hatten für mich etwas Unberechenbares, etwas Kaltes. Ich konnte nie einen Zugang zu ihnen finden. Sie hatte diese unglaubliche Fähigkeit, andere zu motivieren, selbst, wenn sie selbst am Verzweifeln war. Mathe war ihr Lieblingsfach, und sie sah es als Herausforderung, mir zu helfen, obwohl sie wusste, dass ich Zahlen hasste. Ich bewunderte ihre Geduld, ihren Optimismus und wie sehr sie sich bemühte, mich nicht aufzugeben, selbst wenn ich mich in meinen eigenen Gedanken verlor. Sie redete schon die ganze Zeit von der nächsten Klausur, die wir nächste Woche schreiben würden.
»Du musst einfach mehr üben, Chris«, flüsterte sie und stupste mich an. »Ich helfe dir auch dabei. Wir schaffen das!«
»Schon klar«, murmelte ich und kritzelte mit meinem Stift irgendwelche Strichmännchen in mein Heft. Ehrlich gesagt war Mathe das geringste meiner Probleme. Der Unterricht zog sich dahin, bis Jenny sich plötzlich zu mir beugte und grinsend flüsterte: »Hast du den Neuen gesehen?«
»Wen?«, fragte ich desinteressiert.
Sie deutete mit einem Nicken nach hinten. Ich drehte mich leicht um und sah ihn. Da saß er: groß, blond, blaue Augen, kurze Haare, ein breites, ansteckendes Lächeln und legere Kleidung. Seine Arme ließen erahnen, dass er regelmäßig Sport machte. Es war schwer, ihn nicht anzusehen.
»Du meinst ihn?«, flüsterte ich.
Jenny grinste noch breiter. »Ja, genau den. Tom heißt er, glaube ich. Er ist mir in den letzten Tagen aufgefallen. Sieht echt nicht schlecht aus. Findest du nicht auch?«
Bevor ich antworten konnte, setzte sich Lisa, Jennys beste Freundin, zu uns. »Worüber tuschelt ihr beiden denn da?« »Über Tom«, sagte Jenny und grinste mich schelmisch an. Lisa lachte. »Der sieht schon gut aus, oder? Und ist total freundlich. Gestern hat er einem Typen aus der Oberstufe geholfen, der seine Bücher fallen gelassen hat.« Sie schaute mich neugierig an. »Was sagst du, Chris? Findest du ihn auch nett?«
Mein Herz begann schneller zu schlagen. »Ich . keine Ahnung. Ich kenne ihn doch gar nicht.« Ich blickte wieder nach vorne, fühlte aber Jennys und Lisas Blicke auf mir.
Jenny stupste mich an. »Du bist ja ganz rot, Chris. Na los, gib's zu: Du findest ihn interessant.«
Zum Glück schrillte in diesem Moment die Schulglocke. Ich stand hastig auf und warf mir meinen Rucksack über die Schulter. »Kommt, wir haben Schluss.«
Wir gingen zur Bushaltestelle, wo wir noch auf unseren Bus warten mussten. Jenny und Lisa quatschten weiter über Tom, während ich still danebenstand. Im Bus versuchte Jenny noch mehr aus mir herauszubekommen, aber ich blockte ab. »Chris, du kannst mir alles erzählen«, sagte sie sanft. Ich antwortete nur mit einem knappen Lächeln und stieg an meiner Haltestelle aus.
Zu Hause saß ich vor meinem Abendessen und dachte wieder an Tom. Sein Lächeln ging mir nicht aus dem Kopf. Es war . ansteckend. Ich wollte mehr über ihn wissen, aber gleichzeitig war da dieses Gefühl von Unsicherheit. Was, wenn er mich nicht leiden kann? Noch am selben Abend suchte ich ihn auf Social Media. Sein Instagram-Profil war öffentlich. Er postete viele Bilder mit seinem Hund Milo und er spielte Handball. Deswegen hat er so trainierte Arme. Oft war er im Pinewood Park zu sehen. So jemand wie er würde sich doch nie für jemanden wie mich interessieren, dachte ich.
Meine Gedanken über Tom ließen mich nicht mehr los. Ich würde ihn so gerne ansprechen! Aber warum sollte er mit mir sprechen? Es war schon spät, also ging ich schlafen. Als ich am nächsten Tag aufwachte, war ich völlig durcheinander. Tom hatte mich bis in meine Träume hinein verfolgt. Sein Lächeln ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich machte mich auf den Weg zur Schule. Wie immer startete der Freitag mit Mathe. Zwei Tage in Folge Mathe und ich hasste es jedes Mal! Ich saß allein im Matheunterricht, weil Jenny bei Lisa am Tisch einer Freundin saß. Ich starrte auf mein Heft und kritzelte wieder vor mich hin, als ich plötzlich eine tiefe Stimme vernahm.
»Hey, du bist doch Chris, oder?«
Ich sah auf und da stand er:Tom. Mein Herz hämmerte wie verrückt. »Äh . ja.«
Er setzte sich einfach neben mich. »Warum sitzt du alleine?«
»Jenny ist grade drüben bei Lisa und eigentlich ist sie meine Partnerin«, antwortete ich unsicher.
»Na, dann bin eben ich jetzt dein Partner, solange Jenny nicht da ist.« Er lächelte und zog seinen Stuhl heran. »Ich habe übrigens bemerkt, dass du mich öfter ansiehst.«
Mein Gesicht wurde knallrot. »Ich . ähm .«
Tom lachte leise. »Schon okay. Ich finde das irgendwie . na ja, süß.«
Mir stockte der Atem. Hat er das gerade wirklich gesagt? Er findet mich süß? Ich glaube, er will mich auf den Arm nehmen. Er begann, mir bei den Matheaufgaben zu helfen, und ich staunte, wie gut er erklären konnte. »Du hast das echt drauf«, murmelte ich.
»Mathe liegt mir einfach«, meinte er und zuckte lässig mit den Schultern. »Wenn du willst, kann ich dir nach der Schule ein bisschen helfen.«
Ich nickte zögernd. »Vielleicht. Mal sehen.« Meine Gedanken waren völlig durcheinander, ich konnte sie einfach nicht ordnen. Will er mir wirklich helfen oder verarschen mich die anderen wieder mal? Wieso sollte er mir helfen wollen? Ich bin doch nichts Besonderes.
Jenny kam wieder an meinen Tisch, weil unsere Lehrerin, Frau Müller, die Aufgaben besprechen wollte. Tom ging zurück an seinen Platz. »Bis dann, vielleicht überlegst du es dir ja noch mal.« Noch bevor Jenny Gelegenheit hatte, mit mir zu reden, nahm mich Frau Müller dran. Was ein Glück! Jenny schaut schon wieder so neugierig, was soll ich nur bloß sagen?!
In der Pause musste ich länger bleiben, weil Frau Müller mir noch etwas erklären wollte. Danach folgten zwei Stunden Sport und zwei Stunden Kunst. Diese Fächer habe ich bei anderen Lehrkräften als Jenny. Sonst hätte sie mich schon längst ausgefragt.
Jenny kam nach dem Unterricht sofort auf mich zu. »Hast du vorhin in Mathe mit Tom gesprochen?«
Ich nickte und spürte, wie ich wieder rot wurde. »Er hat mir bei einer Aufgabe geholfen. Er wollte, dass wir nach der Schule zusammen lernen.«
»Echt jetzt? Das musst du nutzen! Er wirkt nett, und gut in Mathe ist er auch. Lass dir das bloß nicht entgehen!«
Ich zuckte mit den Schultern und lächelte nur verlegen. Vielleicht treffe ich mich wirklich mit ihm, aber fürs Lernen? Ich kenne ihn ja kaum. Jenny war an diesem Wochenende bei ihrem Vater, also würde ich sie kaum sehen. Wir verabschiedeten uns, da ihr Vater sie direkt an der Schule abholte.
Noch im Bus schrieb mir Tom über Chatter: »Lust, heute im Park spazieren zu gehen?« Mein Herz machte einen Satz. Ohne groß nachzudenken, antwortete ich: »Ja, gerne.« Wir trafen uns am Nachmittag im Pinewood Park. Tom hatte seinen Hund mitgebracht, der ist so was von süß! Milo sprang fröhlich umher, während Tom und ich nebeneinanderher gingen. Die ersten Minuten schwiegen wir nur, es war beinahe unangenehm. Ich dachte schon, es wäre ein Fehler gewesen, mich mit Tom zu treffen, als er plötzlich fragte: »Magst du Handball?«
»Nicht wirklich«, antwortete ich ehrlich. »Mein Vater wollte immer, dass ich Handball spiele, aber ich habe absolut kein Talent für Sport. Ich zeichne lieber.«
Tom sah mich interessiert an. »Zeichnen? Was denn so?« »Tiere, Landschaften, manchmal auch einfach Dinge, die mir in den Kopf kommen. Beim Zeichnen kann ich die Welt um mich herum ausblenden.« Dass ich aktuell ein Bild von IHM zeichne, kann ich ihm nicht sagen. Das käme total komisch.
»Das klingt cool«, sagte Tom. »Ich wünschte, ich könnte so was.«
Wir unterhielten uns weiter über Schule und Hobbys. Ich fragte ihn direkt: »Wie schaffst du es, so fit zu sein? Das kommt doch nicht nur vom Handball.«
Tom lachte. »Ich achte einfach auf meine Ernährung. Viel Wasser, viel Obst und so was.«
Ich nickte. Er faszinierte mich immer mehr. Sein Handy klingelte. Seine Mutter fragte, wann er nach Hause kommen würde.
»Ich muss los«, sagte er und sah mich an. »Treffen wir uns morgen wieder?«
Mein Herz schlug wie wild. »Ja, gerne.«
Er grinste. »Cool. Dann bis morgen, Chris.« Als er ging, spürte ich, wie mir plötzlich etwas fehlte. Meint er das wirklich ernst? Warum sollte jemand wie er mit mir abhängen wollen? Und warum lächelt er mich so häufig an? Ist er etwa auch schwul? Oder bi?
Die nächsten Tage trafen wir uns immer häufiger. Nach der Schule gingen wir in den Park oder hingen einfach nur ab und plauderten zwanglos miteinander. Es war völlig unbeschwert. Es war schön. Tom brachte mich zum Lachen und für einen Moment konnte ich all meine Sorgen vergessen. Doch es dauerte nicht lange, bis ich merkte, dass er öfter irgendwie . geistesabwesend war. Und er roch, als würde er kiffen .
»Am Freitag steigt eine Party. Komm mit!«, sagte Tom eines Nachmittags, als wir auf einer Bank im Park saßen. Milo lag zwischen uns und döste. »Ein paar Freunde von mir feiern. Das wird voll cool.«
Ich zögerte. »Ich weiß nicht. Ich kenne da doch niemanden.« »Du kennst mich«, antwortete er mit einem Lächeln. »Das reicht.«
Wie sollte...