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KAPITEL 1
Armutsspirale
Warum in Deutschland Kinder hungern und die Bundesregierung heute schon die Armut von morgen fördert
Es ist Schlag 20 Uhr. Pünktlich auf die Minute begrüßt der Präsident die versammelten »Freunde«, wie sich die Vereinsmitglieder gegenseitig ansprechen. Der Rotary-Club Wiesbaden hat zum Vortrag geladen, mitten in der Pandemie, und das bedeutet: online auf Zoom. Etwa 35 Rotarierinnen und Rotarier haben sich eingewählt. Die meisten von ihnen weißhaarige Männer, die im Hemd vor der Webcam sitzen, einer hat das Weinglas griffbereit im Bildausschnitt platziert. Schwer lässt sich ein Ort vorstellen, der in diesem Moment weiter vom Zustand der »Ernährungsarmut« entfernt sein könnte als diese Digitalkonferenz an einem Dienstagabend im April 2021. Doch genau um dieses Thema soll es gehen. Als Gast ist ein »weltweit bekannter Wissenschaftler« angekündigt.
»Freund Biesalski« erhält das Wort. Hans Konrad Biesalski, Ernährungsmediziner, international angesehen für seine Forschung zu Vitaminen und anderen Nährstoffen - und zu der Frage, was passiert, wenn es an Nährstoffen fehlt. Jahrelang hat der 72-Jährige mit Kindern in Entwicklungsländern gearbeitet. Heute referiert er über Ernährungsarmut von Kindern in Deutschland. Auf den ersten Blick mag das überraschen, wenn einer seine Erfahrungen in den Ländern, die von Hungersnot geplagt sind, auf anderen Kontinenten gesammelt hat. Auf den zweiten Blick liefern genau diese Erfahrungen die Erklärung dafür. »Ich habe gesehen, was passiert, wenn die Versorgung nicht stimmt«, sagt Biesalski. Und dies sei eben auch im reichen Deutschland der Fall, wo wir genügend Hinweise auf Mangelernährung und ihre schwerwiegenden Folgen finden. Wenn wir nur genau hinsehen.
Der »verborgene Hunger« ist Biesalskis wichtigstes Thema. Gewöhnlichen Hunger können wir stillen, indem wir essen. Das heißt zunächst einmal: irgendetwas essen, das satt macht, genügend Kalorien bringt, sogenannte Makronährstoffe also - Kohlenhydrate, Eiweiß, Fett. Doch für unseren Körper ist es auch wichtig, was wir essen. Er verlangt nach einer Vielzahl an Mikronährstoffen: Vitaminen und Mineralien. Sie beeinflussen unseren Stoffwechsel, das Zellwachstum, das Immunsystem. Unser Körper kann sie nicht lange speichern, weshalb wir ständig für Nachschub sorgen müssen. Gelingt dies nicht, leiden wir an verborgenem Hunger, auch wenn wir satt sind: Weder magern wir schnell ab, noch bilden sich Hungerbäuche. Es gibt keine eindeutigen Symptome, die nicht auch andere Ursachen haben könnten: Das Immunsystem von Mangelernährten ist weniger robust, sie sind anfälliger für Krankheiten, sie riskieren körperliche oder kognitive Einschränkungen. Die Folgen können erst spät auftreten oder bereits nach wenigen Wochen, jedenfalls weit bevor ein klinischer Nachweis möglich ist. Im Blut ist der Mangel lange Zeit kaum messbar, dort hält der Körper den Vitaminspiegel hoch, solange es geht, während er seine Speicher bereits restlos leer geräumt hat.1,2 Kurzum: Es ist ein Hunger, der kaum zu sehen ist, der selbst Übergewichtige ereilen kann. Betroffene mögen satt sein, gesund sind sie nicht.
»Sie kommen aus der Falle nicht raus«
Im Wiesbadener Rotary-Club erntet Biesalski nachdenkliche bis betroffene Gesichter, soweit der Blick durch die Webcams in die Wohnzimmer diese Interpretation zulässt. Schnell merken die »Freunde«: Dem Mann mit Halbglatze, der so leger im weiß-grau gestreiften, kurzärmeligen Polohemd vor seinem Kachelofen sitzt, ist es ernst. Ernährungsarmut werde in Deutschland übersehen, »in den Medien hört man fast nichts davon«, klagt er. Ständig lese er gut gemeinte Pressemitteilungen, in denen irgendwer dazu rät, wir sollten doch mehr Obst und Gemüse essen, um uns gesund zu ernähren. Biesalski bringt das in Wallung. »Damit kann man Kindern in Armut nicht helfen«, wird er deutlich. »Sie kommen aus der Armutsfalle nicht raus. Die erheblichen Entwicklungsstörungen werden sie auch noch in ihrem späteren Berufsleben behindern.«
Mitten in Deutschland also Kinder aus armen Familien, die Hunger leiden, verborgenen Hunger, und die dadurch bleibende Schäden davontragen für den Rest ihres Lebens: Biesalskis Botschaft ist nicht leicht zu verdauen. Um sie zu verstehen, müssen wir zurückgehen nach Uganda und Äthiopien, wo Biesalski als Professor der Universität Hohenheim Studien zum Vitaminmangel durchführte. Ein Mangel, der sich dort dramatisch zeigte: in Gestalt von Kindern, die noch im Alter von neun den Körperbau Vierjähriger hatten. »Sie sehen diese Kinder, und Sie wissen ganz genau: Ihre Perspektive ist miserabel«, erzählt Biesalski am Telefon, einige Wochen nach seinem Vortrag beim Rotary-Club.
Vor etwa 15 Jahren stieß er auf die Studien der US-amerikanischen Kinderärztin und Neurowissenschaftlerin Kimberly G. Noble. In verschiedenen Untersuchungen hatte sie einen Zusammenhang zwischen Einkommen und Sozialstatus der Eltern und der Größe und Leistungsfähigkeit der Gehirne ihrer Kinder nachgewiesen - vor allem jener Hirnregionen, die Sprach- und Lesefähigkeiten bestimmen.3 »Da ist mir klar geworden, dass wir auch hier ein Problem haben«, sagt Biesalski. »Wir sollten bei Mangelernährung nicht erst handeln, wenn Skorbut und Rachitis auftreten. Auch in Deutschland haben Kinder in Armut eine schlechtere Perspektive, obwohl das nicht sein müsste.«
Bei wichtigen Nährstoffen werden Empfehlungen unterschritten
Als Vitamin-Mangelland ist Deutschland nicht bekannt. Doch es lohnt ein Blick auf die Details. 2015 wies eine internationale Forschungsgruppe mit einer (von der Pharmaindustrie gesponserten) Datenanalyse4 auf einen »beträchtlichen« Anteil Kinder in Europa hin, die kritisch wenig Vitamin D, Vitamin E und Jod aufnehmen. In Deutschland ließ das staatliche Robert Koch-Institut zwischen 2015 und 2017 mehr als 2 500 Kinder und Jugendliche über ihr Ernährungsverhalten interviewen, wertete Ernährungsprotokolle und Fragebögen aus. Und gelangte zu der Erkenntnis, dass sie die empfohlenen Aufnahmemengen einiger wichtiger Vitamine (vor allem Folsäure, Vitamine D und E) sowie Mineralien (insbesondere Eisen und Jod, aber auch Kalzium und Kalium) unterschreiten.5 Zu ähnlichem Ergebnis war Jahre zuvor bereits die groß angelegte Nationale Verzehrsstudie gekommen. Vor allem die Aufnahme von Vitamin D, Folsäure und Jod lag demnach unterhalb der Empfehlungen, insbesondere bei weiblichen Jugendlichen auch Eisen, Kalzium und Magnesium.6
Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist die in Deutschland besonders ausgeprägte Abhängigkeit des Bildungserfolgs vom sozialen Status. Als Jan Skopek und Giampiero Passaretta, Soziologen am Trinity College in Dublin, der Frage nachgehen wollten, zu welchem Zeitpunkt die Leistungsunterschiede eigentlich entstehen, hatten sie eine Vermutung: Vor allem in der Schule, so dachten sie, und im Laufe der Schullaufbahn würden die Unterschiede weiter zunehmen. Um ihre These zu prüfen, werteten sie Leistungstests von Kindern der verschiedensten Altersstufen in Deutschland aus. Sie waren überrascht: Die Differenzierung erfolgte erheblich früher, lange vor der Einschulung. Bereits unter sieben Monate alten Säuglingen bestanden deutliche Unterschiede in der Leistungsfähigkeit, abhängig vom sozioökonomischen Status ihrer Eltern. Bis zum zweiten Geburtstag nahmen sie weiter zu. Das Schulsystem vermag es zwar nicht, die Unterschiede später auszugleichen - aber die Schule ist nicht die Ursache des Problems.7 Die liegt anderswo.
Die Frage lautet: Gehören beide Seiten zur selben Medaille? Ist das eine, sind also die Nährstofflücken die Ursache des anderen, der Entwicklungsunterschiede? Vieles spricht dafür: Die Ungleichheit entsteht in einem Zeitraum, in dem die schulische Förderung noch keine Rolle spielen kann, Ernährung aber großen Einfluss auf die geistige und körperliche Entwicklung der Kinder hat. Vitamine und Mineralien spielen für unsere Gesundheit eine tragende Rolle. Wir brauchen Kalzium und Vitamin D für den Knochenbau, Kalium für die Herzgesundheit, Folsäure für ein gesundes Wachstum. Zu wenig Vitamin E schwächt unsere Abwehr, ein Vitamin-D-Mangel steht in Verdacht, an der Entstehung chronischer Krankheiten wie Diabetes mitzuwirken. Jod wiederum wird von unserer Schilddrüse bei der Produktion von Hormonen genutzt. Fehlt es, werden das Wachstum und viele Zellfunktionen gestört, was bei Kindern die gesamte mentale und körperliche Entwicklung beeinflusst - ebenso wie Eisenmangel, durch den die Sauerstoffversorgung von Zellen leidet. »In den Monaten, die am wichtigsten sind, fehlt es genau an den Mikronährstoffen, die für die Gehirnentwicklung entscheidend sind«, sagt Biesalski.
»Ausgeprägte Statusunterschiede«
Über den Zusammenhang mit Armut geben die großen staatlichen Studien nur begrenzt Aufschluss. Zwar glich das Robert Koch-Institut die Lebensmittelzusammenstellung von Menschen mit ihrer sozioökonomischen Lage ab und stieß dabei auf »ausgeprägte Statusunterschiede«8: Kinder und Jugendliche aus ärmeren Familien essen seltener Obst und Gemüse, dafür größere Mengen an »energiedichten« Lebensmitteln, also Produkte mit hohem Fett- oder Kohlenhydrat-, aber niedrigem Vitamin- und Mineraliengehalt. Sie sind vier Mal häufiger krankhaft fettleibig als Gleichaltrige aus wohlhabenderen Familien.9 Den Trend bestätigt die Nationale Verzehrsstudie:...
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