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Sophie Rudolph
Ein Vorwort
»Bienvenu au colloque sur l'imagination de l'éducation . pardon . l'éducation de l'imagination« [Willkommen beim Kolloquium zur Fantasie der Erziehung . Entschuldigung. Erziehung der Fantasie«]. Mit diesen Worten begrüßt in LA VIE EST UN ROMAN (DAS LEBEN IST EIN ROMAN, 1983) der Leiter des fiktiven Instituts »Holberg« die motivierte Lehrerin Elisabeth (Sabine Azéma).
Warum dieses Zitat und warum auch das Titelbild dieses Hefts der »Film-Konzepte«, das Alain Resnais gewidmet ist, aus diesem Film? Mir scheint hier ein Schlüssel zu liegen, der direkt in das Thema hineinführt, das sich bei aller Unterschiedlichkeit der filmischen Formen wie ein roter Faden durch das sich über Jahrzehnte hinweg entfaltete Werk von Alain Resnais zieht: das Verhältnis zwischen Realem und Imaginärem und die letztliche Ununterscheidbarkeit beider Pole. Die Vermischung realer Welt und imaginärer »Spielwelt« ist in LA VIE EST UN ROMAN auf vielfältige Weise ins Bild gesetzt worden, und schon der Filmtitel beruht auf der Aussage: »Alain, la vie n'est pas un roman!«, die der Regisseur als Kind von seinem Vater zu hören bekam.1 Was also bietet sich besser für eine (Wieder-)Entdeckung von Resnais an als dieser Film, der chronologisch in etwa die Mitte seines Werkes markiert, einen biografischen Bezug aufweist und die Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern, Realem und Imaginärem auf verschiedenen Ebenen reflektiert.
Resnais' Filme sind oft formalistisch, sie wirken artifiziell und manchmal verkopft; sie sind immer auf eine zunächst unbestimmte Weise »merk-würdig«. Bereits vor einigen Jahren habe ich eine Monografie vorgelegt,2 die dem Gedanken folgte, durch die Erkundung der Beziehung der Filme von Resnais zu anderen Kunstformen wie Fotografie, Malerei, Literatur und Theater eine Brücke zwischen verschiedenen Phasen seines Filmschaffens zu schlagen. Im Sinne einer eigenen Aussage von ihm: »Ce que j'aime bien au cinéma, c'est que c'est un art impur qui mélange de tas de choses« [Was ich am Kino liebe, ist, dass es eine unreine Kunst ist, die so viele Dinge miteinander vermischt],3 habe ich auf den Spuren von André Bazin den verschiedenen Inspirationsquellen eines sogenannten cinéma impur, einem »unreinen Kino«,4 nachgespürt, das trotz oder gerade wegen der Anleihen bei anderen Kunstformen seine Eigenständigkeit behauptet. Auch diesmal lässt sich schon das Titelbild als eine Anspielung auf die Arbeit des Filmemachers betrachten: Wie das Kind, das aus dem Sperrmüll der Erwachsenen etwas Neues bastelt, fügt auch Resnais vielfach vorhandenes Material neu zusammen.
Was motiviert heute, sich mit den Filmen von Alain Resnais zu beschäftigen? Was macht sie aus aktueller Sicht interessant oder relevant? Resnais fragt selbst in dem hier abgedruckten Interview: »Warum haben wir dieses Gehirn und warum schaffen wir so nutzlose Dinge wie Gemälde und Filme? Niemand hat mir eine Antwort geben können«. Ganz ähnlich fragen die Texte dieses Bandes: Warum schauen wir Resnais' Filme an und wie wirken sie auf uns? Die »nutzlosen« Filme erweisen sich dabei als alles andere als wirkungslos.
Der Film NUIT ET BROUILLARD (NACHT UND NEBEL, 1955) wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung in den 1950er Jahren bundesweit in westdeutschen Schulen aufgeführt. Im Publikum saß auch die spätere RAF-Terroristin Gudrun Ensslin als Teenagerin. Deren Lebensgeschichte wurde später von Margarethe von Trotta in dem Spielfilm DIE BLEIERNE ZEIT (1981) inszeniert - und darin wird die Vorführung der Dokumentation durch den Vater Ensslins an der Schule seiner Töchter als kritisches Momentum in der Radikalisierung des Gedankenguts einer Pfarrerstochter aus gutem Hause inszeniert. Das junge Mädchen rennt aus dem Kino, um sich auf der Toilette zu übergeben. Ins Gedächtnis brennen sich nicht allein die Leichenberge aus den alliierten Archiven ein, sondern auch der mahnende Kommentar von Jean Cayrol in der Übersetzung Paul Celans, der die Frage »wer ist schuld?« im Raum stehen lässt mit der Anklage, dass alle schuld seien, die glauben, so etwas wäre nur in einem einzigen Land zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt möglich. Bis heute bleibt die Dokumentation ein eindrückliches Zeugnis der Auseinandersetzung mit systemischer Gewalt, die das unmoralische Verhalten einzelner bürokratisch rechtfertigt und alle zu Tätern macht.
Der Industriefilm LE CHANT DU STYRÈNE (1958) folgt in konsequent umgekehrter Reihenfolge dem industriellen Fertigungsprozess der den Alltag der 1950er Jahre verzaubernden knallbunten Plastikgegenstände zurück zum Rohstoff Erdöl. Von heute aus gesehen erscheint eine Welt geradezu nostalgisch, in der die Klimakrise noch kein Thema war und Plastikprodukte im Zeichen des Fortschritts einer modernen Konsumkultur die Haushalte eroberten. An der Produktion dieses im Auftrag des französischen Industriekonzern Péchiney entstandenen 13-minütigen Werbefilms hat Resnais länger gearbeitet als an den Aufnahmen zu seinem ersten Spielfilm HIROSHIMA MON AMOUR (1959). Der oft vernachlässigte kurze Film schafft eine bemerkenswerte dramaturgische Spannung, die auch heute noch inspirierend für eine kreative Form des Klima- und Umweltjournalismus wirken könnte. Das Beispiel LE CHANT DU STYRÈNE zeigt, wie das konsequente Verfolgen eines Stoffes im Ökosystem einer Geschichte eine organische Dramaturgie geben kann, die sich »wie von selbst« ergibt und das komplexe Zusammenspiel industrieller Infrastrukturen sichtbar macht.
LE CHANT DU STYRÈNE
Und obwohl es sich bei den Raffinerien Péchiney um einen sehr realen Schauplatz handelt, ist LE CHANT DU STYRÈNE alles andere als eine Reportage. Der Film bildet nicht die Realität des Produktionsprozesses ab, sondern unterstreicht die surreale Wirklichkeit von Plastik als Kunststoff, der die natürliche Welt nachformt. Plastik als Material steht hier auch metaphorisch für den Film selbst, Abbilder der Realität werden mittels eines technischen Verfahrens auf einen chemisch hergestellten Zelluloid-Streifen gebannt und können mithilfe eines Projektors immer wiedergegeben werden. Auch wenn die Apparaturen sich geändert haben, was wir sehen, ist immer eine Momentaufnahme, ein Ausschnitt, niemals ist ein filmisches Bild »real«, jedoch ebenso wenig vollständig »imaginär«. So erscheint denn der Übergang vom dokumentarischen zum fiktionalen Filmschaffen bei Resnais als ein fließender, eine Entwicklung, die sich längst angekündigt hat und keinen markanten Bruch darstellt - von Systemen, in denen Menschen als »automatisch« handelnd dargestellt werden (der Aufseher im Konzentrationslager, der wegen des französischen képi herausgeschnitten werden musste, bevor die Zensurbehörde den Film genehmigte, der Angestellte mit Schirmmütze in den Raffinerien - halb Mensch, halb Roboter machen sie einfach ihren Job) wird der Fokus auf die Menschen selbst und ihre seelischen Traumata gerichtet, die untrennbar mit den historischen Katastrophen ihrer Zeit verknüpft sind.
Naomi Greene hat die (frühen) Filme von Resnais als »Ghosts of History«5 bezeichnet. Tatsächlich liegt ein Schwerpunkt der Betrachtung der frühen Filme meist auf ihrer Aufarbeitung der Themen Holocaust, Atombombe, zweiter Weltkrieg und Algerienkrieg. Als >ahistorisch< sticht einzig L'ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD (LETZTES JAHR IN MARIENBAD, 1961) heraus, der jedoch in seiner zeitlichen Situiertheit und im Zusammenhang mit den anderen Filmen als ein Dokument der unzuverlässigen Erinnerung vermischt mit Teilnahmslosigkeit am politischen Geschehen außerhalb des eigenen psychischen Erlebens gesehen werden kann. Auch lässt er die beteiligten Figuren nicht weniger roboterhaft erscheinen als die ihnen vorangegangenen gesichts- und namenlosen Menschen in den Dokumentationen. Als der Film 1961 in die Kinos kam, widmete die französische Tageszeitung Le Monde an zwei aufeinanderfolgenden Tagen jeweils eine ganze Seite den Ergebnissen einer Leser-Umfrage zu dem formal ungewöhnlichen Film. Auf die Frage »A propos d'un film difficile. Que pensez-vous de L'ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD?« reagierten viele regelrecht angeekelt oder geradezu euphorisch. In der Ausgabe vom 3. Januar 1962 kamen zunächst die Gegner, »ceux qui sont contre«, zu Wort.6 Der verantwortliche Redakteur Jean de Baroncelli zitiert in seiner Zusammenfassung der Umfrage zunächst die wenig schmeichelhaften Etikettierungen, die er in den Zuschriften empörter Zuschauer zu lesen bekam. Immerhin haben die passionierten Gegner des Films sich blumige Formulierungen einfallen lassen. Der Film sei »une eau noire et croupie dans une bouteille de champagne« [schwarzes, verfaultes Wasser in einer Champagnerflasche] oder »un macaroni lugubre et sans goût dans la vaisselle style baroque« [eine geschmacklose, labbrige Makkaroni in einer Barockschüssel], ein »magma d'images«, ein »monument d'ennui« [Denkmal der Langeweile] und schließlich sogar »la négation du cinéma« [die Negation des Kinos]. Ein anonymer Korrespondent war besonders radikal: »Une escroquerie . Il est impossible de se moquer davantage du public. Je m'étonne que les auteurs n'aient pas encore reçu sur la figure quelques bonnes paires de claques de leurs victimes. . Une ordure . [Eine...
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