Schweitzer Fachinformationen
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Annäherung an ein Land
Nachts um zwei Uhr lande ich das erste Mal in Perth in Westaustralien. In den letzten 17 Stunden sah ich Sterne über den Wolken, eine ewige Wüstenlandschaft mit einzelnen Straßenlinien, gepunktete Inselgruppen vor Dubai, das weite Meer. Auf meinem Fenstersitzplatz habe ich halb schlafend, halb schauend die Welt umrundet.
Dann komme ich an, stehe gedrängt mit anderen Reisenden in der Schlange vor der Passkontrolle, am Gepäckband und in der Eingangshalle. Als ich hinaus in die kühle Septemberluft trete, verschwinden alle in den Taxen und Autos, die sie abholen. Ich bleibe übrig. Die Straße ist beleuchtet, dahinter ist es still, dunkel und unbekannt. Zwölf Kilometer sind es bis in das Stadtzentrum. Es soll einen günstigen Shuttlebus geben, den man anrufen kann. Ich sehe kein Telefon. Und keine andere Person, die nicht weiß, wohin.
Ich laufe herum, mein schwerer Rucksack auf dem Rücken, bis ich das Telefon an der Wand bei der Bushaltestelle finde. Als ich den Hörer abnehme, spricht ein Mann sofort los. Ich verstehe ihn kaum. Meine Abiturnote in Englisch: befriedigend. Ich stottere Wörter in den Hörer: airport, bus, hostel. Lege auf und hoffe, dass jemand kommen wird. Ich warte.
Australien war immer mein Traum. Ich sparte das Geld meiner Ferienjobs dafür, hatte nur diesen einen Plan nach dem Abitur und keinen weiteren. Den wollte ich verwirklichen. Womöglich wollte ich mir beweisen, dass ich alles schaffen konnte, wenn ich es nur wollte. Dass ich mehr als nur eine Tagträumerin war.
Der weiße Bus biegt um die Ecke. Als ich einsteige, fühle ich mich wie zuvor im Flugzeug, beruhigt, unterwegs zu sein, fast schwerelos wie unter Wasser, als hätte ich mich mit beiden Beinen vom Beckenrand abgestoßen und würde nun wieder einer Wasserströmung folgen. Ich muss mich nur treiben lassen, ganz frei. So bewegen wir uns durch die Dunkelheit zum Lichtpulk am Horizont, wo Perth sein muss.
Der Schlüssel soll im Briefkasten liegen, habe ich mit dem Hostelbesitzer zuvor per E-Mail vereinbart. Der Bus fährt davon. Ich greife durch den Briefschlitz. Da ist nichts. Ich drücke die Klingel. Einmal. Zweimal. Dreimal. Jemand fummelt am Schloss herum, öffnet die Tür, betrunken. »Hey, welcome!« Ich bin müde, suche mir ein Bett im ersten Zimmer rechts, krame im Dunkeln meinen Schlafanzug aus dem Rucksack, krieche unter die Bettdecke und schließe die Augen. Es ist keine Strömung mehr da, das fremde Straßenlicht flackert durch die Gardine. Ich kann kaum glauben, dass der Traum Australien nun diese Wirklichkeit ist, und warte darauf, aufzuwachen.
An meinem ersten Tag in Perth regnet es. Ich laufe durch das Zentrum, an Malls und Cafés vorbei, zum Fluss, und finde nichts, was mich interessiert. Gehe in einen Supermarkt und erschrecke, wie teuer alles ist, kaufe weißes Toastbrot, Marmelade, Nudeln, Tomatensauce, und laufe wieder zurück zum Hostel. Ich versuche mich zu erinnern, wie mein Traum im Detail aussah: Abflug, Zwischenlandung, Ankunft. Doch die Fortsetzung dieser Reihenfolge verliert sich wie die Gesprächsfäden im Hostel. Ich verstehe, woher die anderen Backpacker kommen, manchmal auch ihre Namen, doch wenn sie mir von ihren Plänen in schottischen, irischen und britischen Akzenten erzählen, kann ich kaum folgen. Sie geben sich Mühe, wiederholen ihre Sätze, variieren ihre Wörter. Ich kann nur lächeln, dankbar, entschuldigend, verzweifelt, wenn ich sie immer noch nicht verstehe, wir nicht über den Anfang des Gesprächs hinauskommen, und verlasse das Hostel erneut, um an Malls und Cafés vorbei und zum Fluss zu laufen, während es weiter regnet. Nachmittags flüchte ich in eine Telefonzelle und rufe in Deutschland an, wo meine Eltern gerade frühstücken.
Zukünftig werde ich immer diese Mischung aus Ungläubigkeit, Freiheit und Traurigkeit am ersten Reisetag verspüren, wenn ich alleine losziehe. Zukünftig werde ich oft mitweinen, wenn ich Verabschiedungen an Flughäfen sehe. Zukünftig weiß ich, dass ich warten muss, bis etwas passiert und funktioniert.
Ich warte und laufe nicht lange alleine, schon gar nicht im Regen. Am Swan River lerne ich Susanne kennen und spaziere mit ihr durch die Eukalyptusallee des Kings Park. In einem anderen Hostel treffe ich Sarah, mit der ich zum Scarborough Beach fahre und übers Schreiben rede. Abends sitzen wir mit Australiern aus Melbourne zusammen, die in Westaustralien Geld verdienen möchten, und trinken Goon, günstigen australischen Wein aus Vier-Liter-Tetrapacks. Ich bewundere Sarah, die ganze Geschichten auf Englisch erzählt, während ich noch jeden einzelnen Satz im Kopf vorbereiten muss. Ich höre zu und lerne langsam australisches Hostelvokabular: dorm room heißt Mehrbettzimmer, bunk bed Doppelstockbett, cockroach Kakerlake, bed bugs Bettwanzen, kettle Wasserkocher, crunchy peanut butter Erdnussbutter mit Erdnussstückchen, pub crawl Kneipentour, tipsy beschwippst, wasted betrunken, notice board Schwarzes Brett, lift Mitfahrgelegenheit, thongs Flipflops, Fruity Lexia ist süßer Weißwein im Tetrapack und free food shelf ein Regalfach in der Hostelküche mit gratis Nudeln, Reis oder Konservendosen, die andere Backpacker zurückgelassen haben. Bald verstehe ich auch die Reisepläne der anderen: Westküste, Ostküste, oft auch das Rote Zentrum. Ich höre Missy Higgins Going North auf meinem iPod und finde einen Zettel von Janosch am Schwarzen Brett, der einen Roadtrip nach Broome plant. Ich verabrede mich mit ihm.
»Du wirst mich erkennen«, schreibt Janosch, bevor wir uns treffen. Ich sitze im Zug nach Fremantle, der Hafenstadt von Perth, und schaue mich um. Wie könnte er aussehen? Der mit den strohblonden Haaren in der Ecke? Der mit dem fast auseinanderfallenden Rucksack? Ich steige aus, die Sonne blendet, da steht er vor mir: ein Viertel größer als ich, mit braunen Haaren, die sich wild in alle Richtungen locken.
»Was hast du vor?«, fragt er mich. Er macht gerade eine Auszeit, in Deutschland studiert er Geografie.
Es soll unser erster Roadtrip werden. Wir wollen zelten, Lagerfeuer machen, Neues entdecken, Richtung Norden fahren. Einen Monat lang. In einem Hostel mit Wellblechhütten finden wir André und Sven, die nach dem Zivi und vor dem Studium hier gelandet sind. Sie haben die gleiche Idee und das Auto. Der Plan steht: Anfang Oktober werden wir gen Norden an der Küste entlang bis Port Hedland fahren.
Westaustralien ist wilder und abgelegener als die anderen fünf Bundesstaaten des Kontinents. Er ist wie ein eigenes Land, zu dessen Hauptstadt Perth die Züge aus dem Osten mindestens drei Tage brauchen. Auf Weltkarten ist Platz genug, um 300-Einwohner-Städte an der Küste zu verzeichnen. Sonst würde der Küstenstreifen leer aussehen. Jeder Mensch hat theoretisch einen Quadratkilometer nur für sich - in Deutschland müssen sich 240 Menschen diesen Platz teilen. Zwischen den Städten ist es menschenleer und naturreich, und es ist diese Wildnis, die wir suchen. Das tägliche Entdecken von neuen Landschaften und Orten, das zeitlose Weiterfahren.
In das Auto quetschen wir vier Rucksäcke, Andrés Gitarre, Janoschs Campingstuhl und immer einen Pappkarton voller Bierdosen. »Guckt mal!«, rufen wir, wenn ein Känguru am Auto vorbei springt oder ein Koala faul im Yanchep-Nationalpark herumhängt. Wir fahren durch Orte ohne Häuser. Straßenlaternen, Gartenmauern und Briefkästen markieren die Grundstücke. Abends lassen wir die Tage am Lagerfeuer Revue passieren. Erinnern uns an die Pinnacles in der sandigen Steinlandschaft, an die Seesterne in der Lagune. Wir beginnen, Westaustralien zu sehen und uns zu erzählen.
Je weiter nördlich wir kommen, desto karger wird die Landschaft. Rechts und links nur roter Sand, trockene Sträucher und ein paar Ziegen. Ein mutiger Emu hechtet mit langen Beinen zwischen unserem Auto und dem entgegenkommenden Lastwagen hindurch, als wir merken, dass die Tanknadel gewagt nah bei Null steht. Tankstellen können hier hunderte Kilometer voneinander entfernt sein.
»Sind auf der Karte wirklich keine Tankstellen eingezeichnet?«, fragt André.
»Weißt du denn, wo genau wir sind?«, erwidert Sven.
Wir fahren im fünften Gang und rollen, wann immer es möglich ist.
Wir hatten die Tankanzeige ganz vergessen. Waren so beeindruckt vom Kalbarri-Nationalpark, schauten vom Aussichtspunkt bei Hawk's Head von weit oben über das Land in die Schlucht und kühlten unten am Fluss unsere Füße.
Nun schwitzen wir wieder.
»Wie viele Kilometer kann man noch fahren, wenn die Nadel bei Null steht?«, frage ich.
»Vierzig vielleicht«, antwortet Sven.
Schweigen. Kein Auto kommt uns mehr entgegen.
»Seit wie vielen Kilometern sind wir bei Null?«, frage ich.
Die Sonne sinkt tiefer über die Ebene. In unserem Auto sind wir nur ein kleiner, dahin rollender, grauer Strich in dieser mächtigen, weiten Landschaft. Keine gelben Ortseingangs- oder Ortsausgangsschilder wie in Deutschland, wo man zwischen 50 und 100 Stundenkilometern wechselt, wo man auf andere Menschen reagieren muss und abbremst, wenn ein Auto noch schnell die Spur wechselt, man Gas gibt, um Fahrradfahrende zu überholen, und wieder verlangsamt, um am Zebrastreifen anzuhalten. Hier ist nichts davon los.
Die Tanknadel ist im Minusbereich. Bald wird es kühler, die Kängurus werden die Wärme der aufgeheizten Straße suchen. Dann sollten wir nicht mehr fahren. Ein Zusammenstoß mit einem Känguru kann für beide Parteien böse enden. Im...
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