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Um zu gehen, wählte sie den September, diesen höchst vortrefflichen Monat. Der Monsun war weitergezogen, und Kerala glänzte wie ein smaragdfarbener Streifen zwischen den Bergen und dem Meer. Als das Flugzeug sank und die Erde näherkam, um uns zu begrüßen, konnte ich kaum glauben, dass Topographie so spürbar körperlichen Schmerz verursachen konnte. Ich hatte diese geliebte Landschaft nie gekannt, sie mir nie vorgestellt, sie nie heraufbeschworen, ohne dass sie nicht Teil von ihr gewesen wäre. Jedes Mal, wenn ich an diese Hügel und Bäume dachte, an die grünen Flüsse, die schrumpfenden, zubetonierten Reisfelder, aus denen gigantische Reklametafeln mit Werbung für fürchterliche Hochzeitssaris und noch schrecklicheren Schmuck ragten, dachte ich auch an sie. Sie war in allem enthalten, in meinen Augen größer als die größte Reklametafel, gefährlicher als jeder Hochwasser führende Fluss, unbarmherziger als der Regen, präsenter sogar als das Meer. Wie hatte das geschehen können? Wie? Sie hatte ausgecheckt, ohne vorher Bescheid zu sagen. Typisch für sie - unberechenbar.
Die Kirche wollte sie nicht. Sie wollte die Kirche nicht. (Dort rumorte eine wilde Geschichte, die nichts mit Gott zu tun hatte.) Doch angesichts ihrer Stellung in unserer Stadt und angesichts unserer Stadt mussten wir ein angemessenes Begräbnis für sie organisieren. Die Lokalzeitungen berichteten auf der ersten Seite von ihrem Tod, die meisten überregionalen Zeitungen erwähnten ihn ebenfalls. Durch das Internet wogte eine Welle der Zuneigung von Generationen von Schülern, die in der von ihr gegründeten Schule gelernt hatten, deren Leben sie verändert hatte, von Menschen, die von dem legendären, juristischen Kampf wussten, den sie um die Erbansprüche christlicher Frauen in Kerala geführt und gewonnen hatte. Die Sintflut von Nachrufen machte es noch wichtiger, dass wir das Richtige taten und sie auf die Weise verabschiedeten, die sie verdiente. Aber was war das Richtige? Zum Glück war an dem Tag, als sie starb, die Schule geschlossen, und die Kinder waren zu Hause. Das Schulgelände gehörte uns. Das war eine große Erleichterung. Vielleicht hatte sie es so geplant.
Gespräche über ihren Tod und seine Konsequenzen für uns, insbesondere mich, gab es, seit ich drei Jahre alt war. Damals war sie dreißig, geschwächt von Asthma, völlig mittellos (ihr einziges Vermögen war ein Bachelor-Abschluss in Pädagogik), und sie hatte gerade ihren Mann verlassen - meinen Vater, sollte ich sagen, auch wenn es in meinen Ohren etwas komisch klingt. Sie war fast neunundachtzig, als sie starb, wir hatten demnach sechzig Jahre, um über ihren unmittelbar bevorstehenden Tod, ihren allerletzten Willen und ihr Testament zu sprechen, das sie aufgrund ihrer Beschäftigung mit Erbschaften und Hinterlassenschaften nahezu jede zweite Woche umschrieb. Die Häufigkeit der Fehlalarme, des gerade noch einmal glimpflich Davongekommen-Seins und der großen Fluchten hätte Houdini nachdenklich gemacht. Im Hinblick auf Katastrophen lullte sie uns in eine Art Nachlässigkeit ein. Ich glaubte allen Ernstes, dass sie mich überleben würde. Als sie es nicht tat, war ich am Boden zerstört, mein Herz gebrochen. Ich bin verwirrt und mehr als nur ein bisschen beschämt von der Heftigkeit meiner Reaktion.
Mein Bruder legte den Finger auf die wunde Stelle. »Ich verstehe deine Reaktion nicht. Niemanden hat sie so schlecht behandelt wie dich.« Er mochte recht haben, auch wenn meiner Meinung nach ihm diese Trophäe zustand. Ich verstehe seine Ansicht, dass ich mich selbst demütigte, indem ich mir nicht eingestand, was mit uns als Kindern passiert war. Doch das hatte ich vor langer Zeit hinter mir gelassen. Ich habe so großes Leid, so viele systematisch erzwungene Not, so absolute Bosheit und so facettenreiche Wiederholungen der Hölle gesehen und darüber geschrieben, dass ich mich nur zu den Allerglücklichsten zählen kann. Ich habe mein Leben immer als Fußnote zu den Dingen verstanden, die wirklich wichtig sind. Nie als tragisch, oft als lustig. Oder vielleicht ist das auch eine Lüge, die ich mir selbst erzähle? Vielleicht habe ich meine Zelte dort aufgeschlagen, wo der Wind am heftigsten weht in der Hoffnung, dass er mir mein Herz geradewegs aus meinem Körper bläst. Vielleicht ist das, was ich gerade schreibe, ein Verrat an meinem jüngeren Selbst, begangen von der Person, zu der ich geworden bin. Wenn ja, ist es keine geringe Sünde. Doch es ist nicht an mir, darüber zu richten.
Mit achtzehn verließ ich mein Zuhause endgültig - oder hörte vielmehr auf, nach Hause, oder was als solches galt, zurückzukehren. Ich studierte in Delhi gerade im dritten Jahr Architektur.
Damals schloss man die Highschool mit sechzehn ab. So alt war ich im Sommer 1976, als ich zum ersten Mal im Bahnhof Nizamuddin ankam, allein, praktisch ohne jegliche Hindi-Kenntnisse, um die Aufnahmeprüfung für das Studium zu machen. Ich hatte Angst, und in meiner Tasche steckte ein Messer. Delhi war damals mit dem Zug drei Tage und zwei Nächte entfernt von Cochin, das wiederum drei Stunden Fahrt von unserer Stadt, Kottayam, entfernt lag, die ihrerseits ein paar Kilometer von unserem Dorf, Ayemenem entfernt ist. In Ayemenem hatte ich meine frühe Kindheit verbracht. Mit anderen Worten, Delhi war ein anderes Land. Andere Sprache, anderes Essen, anderes Klima, alles anders. Die Größe der Stadt war jenseits meines Vorstellungsvermögens. Ich kam aus einem Ort, in dem alle wussten, wo jeder wohnte. Es war beschämend, aber ich fragte einen Autorikschafahrer, ob er mich zum Haus der älteren Schwester meiner Mutter, Mrs Joseph, fahren könne. Ich nahm an, dass er wusste, wo sie wohnte. Er zog heftig an seinem Beedi und wandte sich gelangweilt ab. Zwei Jahre später war ich es, die Beedis rauchte und diesen unvergleichlichen Blick gelangweilter Verachtung kultivierte. Irgendwann tauschte ich mein Messer gegen einen erheblichen Vorrat an Haschisch und ein paar Großstadtallüren ein. Ich war emigriert.
Ich verließ meine Mutter nicht, weil ich sie nicht liebte, sondern um sie weiterhin lieben zu können. Wäre ich geblieben, wäre das unmöglich geworden. Nachdem ich gegangen war, sah und sprach ich sie jahrelang nicht. Und sie suchte mich nicht. Sie fragte mich nie, warum ich gegangen war. Es war nicht nötig. Wir wussten es beide. Wir einigten uns auf eine Lüge. Eine gute Lüge. Ich formulierte sie - »sie liebte mich genug, um mich gehen zu lassen«. Das setzte ich meinem ersten Roman Der Gott der kleinen Dinge voran, den ich ihr widmete. Sie zitierte es oft, als wäre es Gottes Wahrheit. Einzig die Witze meines Bruders in dem Buch sind wirklich erfunden. Bis zum Ende ihrer Tage fragte sie mich nie, wie es mir während der sieben Jahre Funkstille ergangen war. Sie fragte nie, wo ich wohnte, wie ich mein Studium absolvierte und abschloss. Ich habe es ihr nie erzählt. Ich schaffte es ganz gut.
Nach einem ersten kühlen, unverbindlichen Wiedersehen kehrte ich zu ihr zurück, besuchte sie im Lauf der Jahre regelmäßig als unabhängige Erwachsene, als ausgebildete Architektin, als Bühnenbildnerin, als Schriftstellerin, doch vor allem als Frau, die nicht nur die guten, sondern auch die schlechten Eigenschaften einer anderen Frau voller Liebe und Bewunderung - und nicht wenig Angst - beobachtete. In dieser konservativen, stickigen südindischen Kleinstadt, in der Frauen damals nur die Wahl zwischen übertriebener Tugendhaftigkeit oder deren Vortäuschung hatten, verhielt sich meine Mutter mit der Courage einer Gangsterin. Ich sah zu, wie vollkommen zügellos sie war, wie sie ihre Genialität, ihre Exzentrizität, ihre radikale Freundlichkeit, ihren militanten Mut, ihre Ruchlosigkeit, ihre Großzügigkeit, ihre Grausamkeit, ihre Heimtücke, ihren Geschäftssinn und ihr wildes, unberechenbares Temperament entfesselte, ohne auch nur einen Gedanken an unsere kleine, abgeschottete, syrisch-christliche Gemeinde zu verschwenden, die aufgrund ihres Bildungsniveaus und relativen Wohlstands von der virulenten Gewalt und kräftezehrenden Armut im Rest des Landes nicht betroffen war. Ich sah zu, wie sie in dieser kleinen Welt Raum für ihr ganzes Selbst schaffte, für alle Facetten ihrer selbst. Es war nichts weniger als ein Wunder - schrecklich und erstaunlich mitanzusehen.
Nachdem ich gelernt hatte, mich (etwas) vor ihrer die Seele zerrüttenden Gemeinheit zu schützen, faszinierte mich sogar ihr Zorn gegen Mutterschaft als solche. Manchmal musste ich über ihre schamlose Unverhohlenheit lachen. Nicht in Gesellschaft laut herauslachen, sondern erst, als ich allein war, leise vor mich hinlachen. Wenn ich einen Vorfall chirurgisch von seinen Umständen und seinem Kontext trennte und ihn leidenschaftslos betrachtete. Als wäre sie die Mutter von jemand anderem, und als wäre nicht ich, sondern jemand anders das Objekt ihres Zorns.
Als Kind konnte ich nicht anders, als sie zu lieben, irrational, bedingungslos und furchtlos, wie alle Kinder es tun. Als Erwachsene versuchte ich, sie kühl, rational und aus sicherer Distanz zu lieben, und scheiterte oft. Manchmal kläglich. Versionen von ihr fanden Eingang in meine Bücher, aber sie nie. Ihr gefielen diese Versionen, und sie identifizierte sich mit Ammu in Der Gott der kleinen Dinge und sprach über sie als »ich« und »mich«. Sie wollte Ammu sein, weil sie sehr wohl wusste, dass sie es nicht war. Als ein verschmitzter Journalist sie fragte, ob sie tatsächlich wie Ammu im Buch eine tragische Liebesaffäre gehabt hatte, blickte sie ihm in die Augen und sagte: »Warum? Bin ich etwa nicht sexy genug?« Sie war damals...
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