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An einem Donnerstag fällt er mir zum ersten Mal auf. Dass es ein Donnerstag ist, weiß ich deshalb so genau, weil meine Hündin Lily und ich donnerstags immer über Jungs plaudern, die wir schnucklig finden. Nach Menschenzeit gerechnet ist Lily zwölf, nach Hundezeit vierundachtzig Jahre alt. Ich bin zweiundvierzig, in Hundejahren demnach zweihundertvierundneunzig. Aber da ich mich gut gehalten habe und ziemlich jung wirke, bekomme ich oft zu hören, dass ich locker für zweihundertachtunddreißig - vierunddreißig also - durchgehe. Über unser Alter lasse ich mich deshalb hier aus, weil Lily und ich beide etwas unreif sind und zu jüngeren Männern neigen. Wir debattieren endlos über die diversen Ryans. Ich stehe total auf Ryan Gosling, wohingegen Lily für Ryan Reynolds schwärmt, obwohl sie mir keinen einzigen Film von ihm nennen kann, den sie sich zweimal anschauen würde. (Ryan Phillippe lassen wir schon seit Jahren aus, weil wir uns nicht über die Aussprache einigen konnten. FILL-a-pi? Fill-Ah-pey? Außerdem dreht er nur noch selten.)
Als Nächstes sind dann die Matts und Toms dran. Je nachdem, wie die Woche verlaufen ist, erörtern wir abwechselnd Matt Bomer, Matt Damon, Tom Brady und Tom Hardy. Schließlich wenden wir uns den Bradleys zu, Bradley Cooper und Bradley Milton, wobei ich eigentlich keinen Schimmer habe, weshalb Lily immer auf Letzteren zu sprechen kommt, denn der ist schon ewig tot. Vermutlich hat es damit zu tun, dass sie ein Faible für Brettspiele hat, mit denen wir uns immer freitags vergnügen.
An diesem Donnerstag befassen wir uns jedenfalls mit einigen Chrissen: Chris Hemsworth, Chris Evans, Chris Pine. Lily hat gerade spontan vorgeschlagen, Chris Pratt auch noch in Erwägung zu ziehen, als ich den Oktopus bemerke. Man bekommt ja eher selten einen Oktopus aus der Nähe zu Gesicht, vor allem nicht in Wohnzimmern. Und normalerweise sitzen Oktopoden auch nicht wie Partyhütchen auf den Köpfen von Hunden herum. Deshalb bin ich einigermaßen verdattert. Ich kann diesen Oktopus ziemlich genau erkennen, da Lily und ich uns auf der Couch gegenübersitzen - ich im Schneidersitz, Lily posierend wie der MGM-Löwe.
»Lily!«
»Wir müssen Chris Pratt ja nicht hinzunehmen, war nur ein Vorschlag«, erwidert Lily.
»Nein - was ist das auf deinem Kopf?«, frage ich. Zwei Tentakel des Kraken hängen rechts an ihrem Gesicht herunter wie ein Kinnriemen.
»Wo?«
»Was soll das heißen - wo? Da. Rechts an deiner Schläfe.«
Lily schweigt einen Moment, hält meinem Blick stand. Dann verdreht sie kurz die Augen Richtung Oktopus. »Ach so. Das.«
»Ja, das!«
Ich beuge mich sofort vor und packe ihre Schnauze, wie ich es früher gemacht habe, als sie noch ein Hundekind war. Damals bellte sie ständig, weil sie über jeden neuen Eindruck so aufgeregt war, dass sie ihrer Begeisterung unentwegt mit etwas schrillen Stakkatos Ausdruck gab: SCHAU! DIR! DAS! NUR! AN! DAS! IST! DAS! AUFREGENDSTE! WAS! ICH! JEMALS! GESEHEN! HABE! DAS! LEBEN! IST! JA! SO! TOLL! Zu Anfang unseres Zusammenlebens verschleppte Lily einmal, während ich unter der Dusche war, meine sämtlichen Schuhe (Größe 48) aus meinem Zimmer ganz nach oben auf den Treppenabsatz. Als ich sie fragte, weshalb sie das gemacht hatte, antwortete sie mir im Brustton der Überzeugung: DIESE! DINGER! DIE! MAN! AN! DIE! FÜSSE! TUT! SOLLTEN! NÄHER! AN! DER! TREPPE! SEIN! So viel Elan und Einfallsreichtum.
Ich ziehe Lily näher zu mir und drehe ihren Kopf zur Seite, um den Oktopus genauer zu inspizieren. Worauf Lily mir ob dieser groben Belästigung durch einen großen ungeschlachten Menschenmann den empörtesten Blick zuwirft, der ihr in dieser Position möglich ist.
Der Oktopus hat sich über Lilys Auge festgesaugt. Es kostet mich Überwindung, aber schließlich gelingt es mir, ihn mit einem Finger zu betasten. Das Ding ist härter, als ich vermutet hätte. Fühlt sich nicht wie ein Luftballon an, sondern wie . Knochen. Eigentlich eher wie etwas, das unter der Haut sitzt. Aber es hockt obendrauf, für jedermann sichtbar. Ich zähle die Tentakel, drehe Lilys Kopf zur anderen Seite - und wahrhaftig, es sind acht an der Zahl. Der Oktopus wirkt nicht nur fehl am Platz hier, sondern auch wütend. Oder vielleicht wäre aggressiv das richtigere Wort. So als wolle er verkünden, dass er die Absicht habe, sich hier dauerhaft breitzumachen. Ich werde jetzt nicht lügen. Das Teil ist ebenso verwirrend wie beängstigend. Irgendwann habe ich mal ein Video von einem Oktopus gesehen, der am Meeresboden so perfekt getarnt war, dass man ihn überhaupt nicht erkennen konnte - bis irgendwelches bedauernswerte Getier wie Schnecke, Krabbe oder Fisch des Wegs kam und mit tödlicher Raffinesse erlegt wurde. Ich weiß noch, dass ich mir das Video mehrmals anschaute, um den Oktopus in seiner Tarnung zu entdecken. Nach mehreren Versuchen gelang es mir, zumindest seine Präsenz zu spüren, die wartende Kraft und Bedrohlichkeit, auch wenn ich seine Umrisse immer noch nicht ausmachen konnte. Nachdem ich den Oktopus aber einmal gesehen hatte, konnte ich ihn nicht mehr übersehen, selbst wenn ich es zugleich eindrucksvoll fand, dass er sich derartig perfekt tarnen konnte.
Hier verhält es sich genauso.
Jetzt, da ich den Oktopus gesehen habe, kann ich ihn nicht mehr übersehen, weil er Lilys Gesicht komplett verändert. Ein Gesicht, das ich immer so wunderschön fand - ein edles, klassisches Hundeprofil, nur leicht beeinträchtigt durch den zweifellos etwas albern geformten Dackelkörper. Dennoch - dieses Gesicht! Vollkommen in seiner Symmetrie. Wenn man Lilys Ohren nach hinten zog, sah ihr Gesicht aus wie ein kleiner Bowling-Pin, überzogen mit seidenweichem mahagonifarbenem Fell. Jetzt aber wirkt ihr Kopf eher wie ein malträtierter, verbeulter Pin, der in der Zehnerformation ganz vorn steht.
Lily schnaubt zweimal mit geblähten Nasenlöchern, und ich merke, dass ich immer noch ihre Schnauze festhalte. Ich lasse los; mir ist natürlich klar, dass Lily jetzt vollkommen echauffiert ist über diese respektlose Behandlung.
»Ich möchte nicht darüber reden«, erklärt sie und wendet den Kopf ab, um eine juckende Stelle an ihrem Bauch mit den Zähnen zu bearbeiten.
»Nun, aber ich möchte darüber reden.«
Und vor allem möchte ich darüber reden, wie es passieren konnte, dass mir dieses Ding erst jetzt auffällt. Wie es möglich ist, dass ich tagtäglich Sorge trage für jeden Aspekt von Lilys Leben - Futter, Wasser, Auslauf, Spielzeug, Leckerli, Spaziergänge, Arznei, Ausscheidungen, Unterhaltung, Kuscheln, Zuwendung, Liebe - und nicht bemerkt habe, dass auf einer Seite ihres Kopfs ein Oktopus hockt, der bereits eine bedrohliche Größe erreicht hat. Der Oktopus ist ein Meister der Tarnung, sage ich mir selbst; er legt es darauf an, im Verborgenen zu bleiben. Doch während ich mir das selbst stumm zuraune, frage ich mich bereits, weshalb ich gerade versuche, mich herauszureden.
»Tut es weh?«
Ein Seufzer. Ein tiefes Ausatmen. Als Lily noch kleiner war, gab sie beim Schlafen immer ein ähnliches Geräusch von sich, meist bevor ihre Beine zu zappeln begannen - Vorspiel zu einem schönen Traum, in dem sie Eichhörnchen oder Vögeln hinterherflitzte oder an einem endlosen Strand über den warmen Sand dackelte. Ich habe keine Ahnung, weshalb, aber ich muss daran denken, wie Ethan Hawke die von Bernard Pivot kreierten Fragen am Ende jeder Folge von Ungeschminkt beantwortete. Auf die Frage: »Welches Geräusch oder welche Stimme liebst du?«, sagte Ethan Hawke: Das Seufzen von Welpen.
Ja! Was für eine wundervolle Verknüpfung - seufzende Welpen. Als würden sanft schlummernde Welpen irgendetwas Bedrückendes empfinden oder hätten Grund, erschöpft oder verzweifelt zu seufzen. Und dennoch seufzen sie tatsächlich ständig. Geben diese entzückenden, arglosen Laute von sich. Doch Lilys Seufzen jetzt ist anders. Unterschwellig anders. Dem ungeübten Ohr würde nichts Ungewöhnliches auffallen. Aber ich kenne Lily so gut, wie man ein anderes lebendes Wesen nur kennen kann, und ich höre den Unterschied. Das Seufzen ist nicht entspannt, sondern irgendwie mühsam. Lily macht sich Sorgen und trägt eine Last mit sich herum.
Ich wiederhole die Frage:...
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