Schweitzer Fachinformationen
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1. Kapitel
SERAPHINE
August 2017
Es gibt keine Fotos, die Danny und mich in unseren ersten Tagen und Wochen zeigen. Nach unserer Geburt klafft eine Lücke von einem halben Jahr im Familienalbum der Mayes. Keine Einschulungsbilder von Edwin, unmöglich zu wissen, wer von uns beiden dem großen Bruder am Anfang mehr ähnelte. Eine leere Doppelseite markiert jene Zeit der Trauer, die auf unsere Ankunft folgte.
Es ist ein schwüler Abend auf Summerbourne. Durch das geschlossene Fenster dringt von fern das Branden der See und hinterlässt einen feinen, feuchten Film auf meiner Haut. Ich habe den ganzen Tag über Unterlagen sortiert, die sich jetzt um den Reißwolf stapeln und mich mit ihren langen Schatten an einen Friedhof erinnern. Wenn Edwin fertig gepackt hat, wird er unten auf mich warten; es missfällt ihm, dass ich so bald mit Aussortieren anfange. Vielleicht missfällt ihm sogar, dass ich es überhaupt mache.
Der Drehstuhl, auf dem ich sitze, kippt ein wenig zur Seite, während ich eine weitere Fototasche aus der untersten Schreibtischschublade hole, bestimmt noch mehr Landschaftsaufnahmen, die mein Vater geschossen hat. Als ich mich wieder aufrichte, fällt mein Blick auf den Wandkalender, und ich zähle die rot gerahmten Felder. Zwanzig Tage seit dem Unfall meines Vaters, acht seit seiner Beerdigung. Ich klappe die Mappe auf, schwarz glänzende Negative rutschen heraus und fallen auf den Teppich - ich lasse sie einfach liegen. Jede Bewegung erscheint mir zu viel. Schließlich kann ich nicht einmal sagen, wann ich zuletzt richtig geschlafen habe, denn längst habe ich aufgehört, die Tage zu zählen.
Bei den Fotos, die sich noch in der Mappe befinden, handelt es sich wider Erwarten um Landschaftsaufnahmen. Auf dem ersten, das ich in die Hand nehme, ist Edwin als kleines Kind am Strand zu sehen, auf der Rückseite steht als Datum Juni 1992. Das war wenige Wochen, bevor Danny und ich geboren wurden. Ich nehme das vierjährige Konterfei meines Bruders in Augenschein, suche nach Anzeichen, dass er etwas ahnt von der drohenden Familienkatastrophe, aber natürlich ist da nichts: Er lacht, blinzelt gegen das gleißend helle Sonnenlicht und zeigt mit einem Plastikschäufelchen auf eine dunkelhaarige junge Frau am Rand des Bildes.
Es folgen die unvermeidlichen Fotos von Möwen und Sonnenuntergängen, die ich mir nur flüchtig ansehe. Doch dann gelange ich zum letzten Bild, einer stillen Szene häuslichen Glücks, fremd und vertraut zugleich. Ich spüre, wie meine Nackenhaare sich aufstellen, und halte den Atem an. Auf einmal erscheint mir die Luft so drückend, als dränge sie sich näher an mich, um jedes noch so kleine Detail aufzunehmen.
Danny und ich haben uns irgendwann damit abgefunden, dass es keine Bilder von unseren ersten Lebensmonaten gibt. Und nun sehe ich auf diesem Foto meine Mutter auf der Terrasse von Summerbourne sitzen, das Gesicht dem Baby in ihrem Arm zugewandt. Unser Vater steht neben ihr, Edwin lehnt sich von der anderen Seite an sie, und beide lachen voller Stolz in die Kamera.
Ich beuge mich tiefer über das Bild: meine Mutter, bevor sie uns verlassen hat.
Ihre Miene ist schwer zu erkennen, weil das ganze Bild etwas unscharf und verschwommen ist, doch alles an ihr, von der ordentlichen Frisur, der sanften Neigung des Kopfes und der liebevollen Geste, mit der sie den Säugling hält, strahlt eine stille, gefasste Ruhe aus. Nichts deutet auf jene abgrundtiefe Verzweiflung hin, die ich mir, da niemand mir von den letzten Stunden meiner Mutter hatte erzählen wollen, in den düstersten Farben ausgemalt habe.
Als ich das Foto umdrehe, finde ich in der unverkennbaren Schrift meines Vaters bestätigt, dass das Bild tatsächlich an jenem Tag aufgenommen wurde, an dem Danny und ich vor etwas über fünfundzwanzig Jahren auf die Welt gekommen sind. Ein späterer Zeitpunkt wäre schlicht nicht möglich, da unsere Mutter noch am selben Tag von den Klippen hinter dem Haus in den Tod gesprungen ist.
Wie elektrisiert stehe ich auf und laufe nach unten. Meine nackten Füße sind auf der Treppe kaum zu hören.
Im Flur steht eine gepackte Reisetasche, an der sich der Saum meines Bademantels kurz verfängt, als ich vorbeieile. In der Küche treffe ich Edwin an, er steht an die Arbeitsfläche gelehnt und schaut zur Gartentür in die einsetzende Dämmerung hinaus.
»Hier, sieh dir das an.« Ich mache Licht. »Das sehe ich zum ersten Mal.«
Er nimmt mir das Foto aus der Hand. »Ich auch«, meint er und betrachtet es eingehend. »Der Tag eurer Geburt. Ich wusste nicht, dass wir ein Foto davon haben. Halt, warte ., jetzt glaube ich mich zu erinnern.« Es ist das erste Mal seit Tagen, dass ich ihn lächeln sehe. »Dad sieht so jung aus. Und Mum .«
»Sie sieht glücklich aus.«
»Ja«, sagt er leise, ganz in das Bild versunken.
»Überhaupt nicht wie jemand, der Selbstmord begehen will«, füge ich hinzu, und sein Lächeln erlischt.
Als ich mir das Foto erneut ansehe, fällt mir etwas auf, das mich stutzig macht. Irritiert runzele ich die Stirn und wende mich Edwin zu.
»Warum hat sie bloß einen von uns im Arm? Bin das nun ich, oder ist es Danny?«
»Keine Ahnung.« Edwin greift nach dem anderen Foto, das ich ebenfalls mit nach unten gebracht habe und das ihn am Strand mit einem dunkelhaarigen jungen Mädchen zeigt. »Oh, das ist Laura. An die kann ich mich noch erinnern, sie war sehr nett.«
»Dein Au-pair?«
Jetzt, wo er ihren Namen sagt, bin ich mir ziemlich sicher, Bilder von ihr im Familienalbum gesehen zu haben. Eine junge Frau, die sich in jenen unbeschwerten Tagen vor unserer Geburt um Edwin gekümmert hat, obwohl er damals noch eine Mutter hatte und nicht so wie Danny und ich einzig und allein von ständig wechselnden Kindermädchen rund um die Uhr betreut werden musste.
»Sie hat das andere Bild vermutlich aufgenommen«, sagt Edwin und streckt die Hand nach dem Foto aus, auf dem unsere Mutter das einzelne Baby im Arm hält, von dem man wohl nie mehr erfahren wird, wer von uns beiden es ist, Danny oder ich.
Ich ignoriere seine ausgestreckte Hand und nehme den Schnappschuss mit zum Küchentisch, lasse mich auf einen der Stühle fallen und lege das Bild vor mich hin. Die umgeknickte Ecke versuche ich mit dem Daumen glatt zu streichen.
»Ist es nicht ausgesprochen seltsam, dass wir nicht beide darauf sind? Es ist ja nicht irgendein Foto, sondern eines, das anscheinend eigens gemacht wurde, um das große Ereignis festzuhalten.«
Edwin zuckt die Schultern. »Ich weiß es nicht. Dass lediglich einer von euch beiden drauf ist, kann alle möglichen Gründe haben. Bestimmt herrschte viel Aufregung an dem Tag, wenn man bedenkt, was später geschah .«
»Trotzdem: Mum wirkt so ruhig und friedlich, überhaupt nicht .« Stirnrunzelnd betrachte ich das Bild. »Ja, ich weiß, dass immer behauptet wurde, es gebe keine Babyfotos von uns, weil nach dem Tod unserer Mutter das Leben gewissermaßen stillstand. Und jetzt finde ich endlich eins - und erfahre nicht mal, ob ich da drauf bin oder Danny!«
»Ich kann es mitnehmen und Gran fragen«, bietet mein Bruder sich an und versucht erneut vergeblich, das Bild an sich zu nehmen.
»Nein.« Energisch ziehe ich das Foto zu mir heran. »Unsere Großmutter redet ja nie darüber«, sage ich. »Niemand will darüber reden.«
Mein Bruder seufzt. »Was du brauchst, ist Schlaf, Seph. Warum nimmst du nicht eine von Grans Tabletten, die sie im Schrank hat stehen lassen? Und morgen ziehst du dich zur Abwechslung mal wieder an und gehst ein bisschen raus. Mach einen Spaziergang oder was immer du willst.« Er reibt sich die Augen. »Mit der Zeit wird es leichter, mit der Trauer umzugehen, glaub mir.«
»Meinst du, wir könnten Laura ausfindig machen?«, frage ich ihn. »Wenn sie es war, die fotografiert hat, kann sie uns vielleicht sagen .« Ich beuge mich wieder über das Bild, betrachte die Haare meiner Mutter, die zärtliche Geste, mit der sie das Baby hält. »Es muss wenige Stunden vor ihrem Tod aufgenommen worden sein, das steht fest. An dem Tag, als Mum gestorben ist - dem Tag, der alles verändert hat.«
»Seraphine«, sagt Edwin nur.
Ich schaue zu ihm auf. »Wir wissen bis heute nicht, warum sie es getan hat. Und jetzt, da auch noch Dad tot ist, werden wir vielleicht nie mehr .«
Mit einem Schlag wird mir bewusst, wie schrecklich das alles ist und wie ungerecht, erst ohne Mutter aufwachsen zu müssen und dann noch den Vater durch einen so dummen, sinnlosen Unfall zu verlieren. Jetzt sind bloß wir drei übrig. Und Gran.
Edwins Blick wandert von meinen ungewaschenen Haaren zu dem Kaffeefleck vorn auf meinem Bademantel, und er schließt kurz die Augen.
»Okay, ich bleibe noch eine Nacht hier. In diesem Zustand kann ich dich nicht allein lassen. Morgen rufe ich bei meinem Chef an und erkläre ihm, dass ich später nach London zurückkomme.«
»Nein.« Ich schiebe das Foto von mir weg, lasse meine Schultern kreisen, dehne meinen verspannten Nacken. »Sei nicht albern. Mir geht es gut, kein Grund zur Sorge. Ich habe mich einfach gefragt, was aus Laura geworden ist. Du weißt schon, danach.«
Mein großer Bruder beobachtet mich argwöhnisch, weshalb ich mich bemühe, eine einigermaßen gelassene Miene aufzusetzen. Edwin seufzt erneut.
»Kurz nach Mums Tod hat Laura bei uns aufgehört. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist, sie müsste mittlerweile Anfang oder Mitte vierzig sein. Seph, sei vernünftig - selbst wenn du sie finden würdest, könntest du nicht so mir nichts, dir nichts bei ihr...
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