Schweitzer Fachinformationen
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So fühlen sich immer die ersten Schritte an. Jedes Mal sitzt ihr Atem fest, kommt nur abgehackt aus ihrem Körper, in jämmerliche Stückchen zerteilt. Jedes Mal denkt sie, dass das so unmöglich gehen kann, nicht mit diesen Beinen, den viel zu kurzen. Viel zu langsam ist ihr Körper, behäbig und schwer. Und dann geht es doch, dann geht es wie von selbst.
Die Stimme der Sportlehrerin hört sie jetzt nicht mehr, aber sie sieht sie winken. Ihr pochendes Herz verdrängt das Gefühl von Kälte, der Feuchte in den Kniekehlen. Die Luft schmeckt kalt, aber ihre Ohren werden heiß, alles zieht sich zusammen. Während sie immer schneller wird, verschwimmen die anderen zu bunten Flecken. Wie vorgespult, denkt Valerie. Wenn man das bloß könnte.
Irgendwo schrillt es, das Geräusch holt auch die anderen zurück, den Straßenlärm, das Keuchen, ihren eigenen viel zu lauten Atem.
Am Zaun stehen ein paar Grundschüler und stecken ihre Nase durch das Gitter, die Hände in den Fäustlingen hängen wie Tierköpfe in den Streben.
Sie hat gepfiffen, ruft Nathalie, als Valerie sie überholt. Nathalie geht nur noch, die Arme um ihre Mitte geschlungen, als müsste sie sich zusammenhalten. Ihr Gesicht sieht aus wie das eines Neugeborenen, runzelig und rot vom Rennen.
Erst als Valerie langsamer wird, bemerkt sie das Seitenstechen.
Sie bleibt stehen, genießt den Schmerz, genießt die Hitze. Ihre Haut ist eiskalt. Die Sportlehrerin winkt ihr zu, reckt den Daumen nach oben, nickt dazu. Valerie lächelt.
In der Umkleidekabine riecht es schon nach kaltem Schweiß, als sie hereinkommt. Nathalie und Ivana haben ihr einen Platz freigehalten. Beide keuchen noch immer, ihre Gesichter fleckig.
Und, was ist jetzt, fragt Ivana und atmet dabei laut, die Worte einzeln dazwischen. Treffen wir uns am Samstag, Lernkreis, du weißt schon.
Valerie merkt erst, dass sie gemeint ist, als die beiden sie anschauen. Aus ihrer Tasche blinkt es.
Ja, sagt sie, klar, wieso nicht.
Sie schaut auf ihr Handy. Drei Anrufe in Abwesenheit, alle von ihrer Mutter. Und zwei SMS.
Fahre jetzt doch ins Krankenhaus. Ruf zurück.
Das ist eine Fähigkeit, die allein ihre Mutter besitzt: in so wenige Worte so viel Vorwurf hineinzulegen. Oder woher sonst soll diese Walze aus Gefühlen kommen, die durch sie hindurchrollt? Ausgelöst von, sie zählt nach, nur sieben Worten.
Also um elf bei mir oder was?, fragt Ivana. Valerie, huhu.
Was?, fragt Valerie.
Die nächste SMS ist kurz, sie klingt trotzdem in ihren Ohren nach.
Bleibe über Nacht.
Wieso gehen wir nicht mal ins Café, sagt Nathalie.
Da ist es samstags zu voll, also bei mir, ja?
Valerie steckt das Handy zurück in die Tasche, zieht sich das T-Shirt über den Kopf und ist froh, dass man so wenigstens für eine Sekunde ihr Gesicht nicht sieht. Und dass sie so auch die anderen nicht sehen muss, wie sie jetzt bestimmt schon wieder zu ihr hinglotzen.
Ja, sagt sie. Klar.
Vor der Sporthalle hat sich schon eine Traube gebildet, hin- und herwankend, von weitem hört man es kreischen. Je näher man kommt, desto mehr einzelne Stimmen sind auszumachen, die da rufen.
Ivana steckt sich eine Zigarette an, hält sie Valerie hin. Nein, lass, sagt Valerie. Ich muss jetzt eh schon.
Alles klar, sagt Ivana, bläst den Rauch aus. Ich bereite dann schon mal die Übungsaufgaben vor.
Super, sagt Valerie und meint es nicht im mindesten. Ich guck auch mal, was ich machen kann.
Aber Nathalie und Ivana schauen sich schon um, als suchten sie irgendwas. Von hinten nähert sich der Jungskurs.
War ja klar, denkt Valerie. Wir sehen uns morgen, sagt sie in die Luft.
Sie ruft ihre Mutter zurück, sobald die anderen nicht mehr als eine Rauchwolke sind. Aber es tutet nur, ein leeres Tuten, dann die Stimme ihrer Mutter, eine Ansage, die sie schon tausendmal gehört hat. Und trotzdem klingt es jedes Mal so, als wäre ihre Mutter doch am Telefon.
Ganz wie von selbst läuft sie immer schneller. Die Kälte zischt ihr in den Ohren.
Die Tür ist nicht abgeschlossen. In der Wohnung riecht es nach ihrer Mutter, schwach noch nach ihrem Parfum, aber vor allem nach Camels.
Eigentlich riecht es in der Wohnung immer so, der Geruch haftet an den Tapeten, so oft man auch lüftet. Valerie hasst das, aber gegen so etwas kann man nichts machen. Da hilft auch das beste Raumspray nichts. Diesmal ist es allerdings frischer Rauch, das merkt man sofort. Valerie muss fast husten.
Irgendwo in der Wohnung knallt es. Als wäre etwas umgefallen.
Hallo, ruft Valerie.
Ihr Herz rast jetzt. Sie schleicht, aber die Dielen knarren unter ihrem Schritt.
Vor lauter Rauch kann man ihn kaum erkennen, aber es ist Robert, der da auf dem Sofa sitzt und mit dem Finger auf eine Zigarette klopft, als wäre nie etwas gewesen.
Spinnst du, sagt Valerie. Ihr Herzschlag beruhigt sich nur langsam.
Wie wär's mit 'ner Begrüßung?
Valerie verschränkt die Arme.
Hallo.
Dann wedelt sie mit den Händen, bis sie wieder etwas sehen kann. Robert hat schon das Fenster geöffnet, es zieht zu ihr herüber.
Valerie steht in der Mitte des Zimmers, und erst allmählich wird ihr klar, dass Robert wirklich da ist, keine Fata Morgana, die mit dem Rauch verschwinden wird.
Ich hatte gar nicht mit dir gerechnet.
Sie weiß nicht, was sie sonst sagen soll. Was soll das, dass er hier auf einmal einfach so sitzt? Als wäre er nie weggewesen, als hätte er jedes Recht darauf, jetzt hier zu sein.
Katrin ist im Krankenhaus, sagt Robert und setzt sich wieder hin. Er schaut Valerie dabei von unten an, lauernd, als müsste sie darauf irgendwie reagieren. In Ohnmacht fallen vielleicht. Als wären sie in einem Mafiafilm, und er würde sie bedrohen. Hat schon darauf gewartet, dass sie nach Hause kommt, damit er sie überfallen kann. Manchmal sieht Robert tatsächlich aus wie ein Gangster, wenn er so die Augen zusammenkneift. Jedes Mal kippt sein Gesichtsausdruck dann aber, als könne er die Spannung nicht halten. Kippt ins Weiche, Dehnbare und am Ende hängen seine Schultern dann so traurig herunter.
Ich weiß, sagt Valerie. Erzähl mir was Neues.
Sie lässt ihre Tasche los, der Laut des Aufpralls knallt in die Stille.
Sie geht zu Robert, der sie noch immer anschaut. Dass es jetzt kälter wird im Raum, macht die Stimmung noch seltsamer, die da zwischen ihnen hängt.
Klar, dachte ich mir, sagt Robert, als hätte sie ihn gar nicht angefahren, als wäre gar nichts gewesen. Er lächelt sogar dazu.
Ich war in der Schule, sagt Valerie. Bin nicht ans Handy gegangen, aber sie hat mir eine SMS -
Sie weiß nicht, wieso sie ihm das so genau erklärt. Dass Robert lächelt wie ein gütiger Onkel, als wäre er viel älter als sie, irritiert sie.
Sie hat mich auch angerufen. Ich dachte, ich komme vorbei. Wollte zuerst nach dir schauen.
Okay. Lieb von dir.
Hör mal. Robert rutscht hin und her. Also, da bin ich. Hab ich dir doch versprochen letztes Mal.
Valerie nickt, aber eigentlich weiß sie nicht mehr genau, was er versprochen hat. Will sie gerade auch gar nicht wissen. Sie blinzelt ein paarmal, aber verschwinden tut er trotzdem nicht.
Okay, siehst du, ich bin gleich hergekommen. Jetzt können wir nur hoffen, dass es nicht so schlimm ist.
Ja, gut, sagt Valerie, und beinahe fühlt sie sich ein wenig so, als würde sie umkippen müssen von diesem ständigen Nicken.
Na, jetzt komm doch erst mal her, sagt Robert und breitet die Arme aus.
Er sieht komisch aus, wie ein kranker Vogel oder ein Irrer vielleicht.
Sie zögert. Aber wie er da so verkrümmt auf dem Sofa wartet, bleibt ihr nicht viel anderes übrig. Also beugt sie sich zu ihm hinunter. Er drückt sie fest. Er riecht nach Zigarettenrauch, und Valerie rümpft die Nase. Alles, wonach Robert sonst riecht, fehlt heute. Aber es ist auch Ewigkeiten her, dass er sie das letzte Mal umarmt hat.
Du stinkst, sagt sie.
Haha, sagt er, drückt hinter ihrem Rücken seine Kippe im Aschenbecher aus.
Setz dich, sagt er und rückt zur Seite, dann springt er auf und macht das Fenster wieder zu.
Die Kälte von draußen sitzt schon auf den Sofapolstern. Valerie lässt sich tief sinken. Robert bläst die Luft aus, dabei ist die Zigarette ja schon längst verglüht.
Es ist wohl wieder das Übliche. Die Blutwerte sind halt nicht gut, musste wohl doch eine Infusion her.
Okay. Valerie atmet aus, beinahe gleichzeitig mit Robert.
Sie sah auch wirklich schrecklich aus in den letzten Tagen, sagt sie. Aber sie wollte immer nicht zum Arzt. War auch Zeit, dass das mit der Infusion mal klappt.
Der Arzt hat es empfohlen, nachdem er sie untersucht hat, sagt Robert. Aber nach ein paar Infusionen wird es wohl wieder. Dann machen sie noch Untersuchungen, um herauszufinden, ob es vielleicht an irgendwas anderem liegt.
Okay, sagt Valerie wieder.
Robert reibt sich jetzt mit den Händen auf den Knien herum. Na also, sagt er. Auf jeden Fall habe ich ja vom letzten Mal gelernt, diesmal bin ich mehr da.
Er schaut beim Reden ständig zu ihr hin, als müsste sie gleich doch noch ausrasten, als wartete er nur darauf. Recht hat er. Aber Valerie hat keine Lust zu streiten. Schon gar nicht, wenn er plötzlich darauf aus ist. Nach all der Stille. Soll er doch selber gucken, wie er damit klarkommt.
Okay, sagt sie. Sie weiß, dass sie jetzt auch zu ihm hinüberschauen sollte. Wäre...
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