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»Bei euch aber soll es nicht so sein«
Es war im Herbst 2018, kurz nach Erscheinen der von der Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegebenen Missbrauchsstudie, der sogenannten MHG-Studie, als eine Frau nach dem Sonntagsgottesdienst auf mich zukam und mit einiger Bitterkeit in der Stimme sagte: »Das mit der heiligen Kirche«, sie meinte damit die entsprechende Passage im Glaubensbekenntnis, »das könnten wir langsam mal lassen.« Um eines gleich zu Beginn deutlich zu machen: Die katholische Kirche ist nach meinen Erfahrungen eine Täterorganisation - genauer ausgedrückt: eine Missbrauchs- und Vertuschungstäterorganisation! Dass die katholische Kirche zu Recht so genannt werden kann, haben mittlerweile nicht nur Missbrauchsbetroffene, Betroffenenorganisationen und Fachleute, sondern sogar etliche Bischöfe eingeräumt.
Sie ist eine Täterorganisation zwar nicht in dem Sinn, dass sie von Missbrauchstätern zum Zweck des Missbrauchs gegründet wurde, und sie ist auch weit davon entfernt, eine Organisation zu sein, deren Mitglieder allesamt und ausnahmslos Missbrauchstäter wären. Sie ist aber sehr wohl eine Organisation, die Missbrauch über lange Zeit hinweg begünstigt, ignoriert und vertuscht hat, in der sich Missbrauchstäter nahezu ungehindert bewegen und behaupten konnten, von der Missbrauch achselzuckend hingenommen und dreist geleugnet wurde, in der Missbrauchstäter Deckung, Unterstützung und Schutz fanden. Und sie ist eine Organisation, in der dies alles - allen gegenteiligen Beteuerungen und Bemühungen zum Trotz - weder überall noch zur Gänze der Vergangenheit angehört.
Die katholische Kirche ist eine Täterorganisation in dem Sinn, dass sich in ihr ein ganz eigenes Schema von Missbrauch herausbilden und verfestigen konnte. So mancher Missbrauch wäre ohne die katholische Kirche nicht begangen worden, weil er ohne sie nicht hätte begangen werden können. Dieses »spezifisch katholische Gepräge von Machtmissbrauch und sexueller Gewalt sowie deren Vertuschung« hat Matthias Remenyi und Thomas Schärtl zufolge systemische Ursachen, geht also unmittelbar auf die besonderen Gegebenheiten innerhalb der katholischen Kirche zurück, auf ihre Verfassung und Struktur, aber auch auf die ihr eigenen Regeln, Rituale und Reflexe: »Der Missbrauch in der katholischen Kirche hat (leider) ein spezifisch katholisches Gesicht.« (Einleitung, S. 10)
Die katholische Kirche ist eine Täterorganisation, weil sie Schuld oder zumindest eine erhebliche Mitschuld an nahezu jedem Missbrauch trägt, der von jemandem aus ihren Reihen und in ihrer Mitte begangen wurde. Bei anderen Organisationen ist das in der Regel nicht so: Ob ein Missbrauchstäter beispielsweise bei einer Bank arbeitet, sich in einem Trachtenverein engagiert oder Mitglied einer Partei ist, hat, wenn überhaupt, dann allenfalls mittelbaren Einfluss auf das Zustandekommen und den Hergang seiner Tat; er hätte sie höchstwahrscheinlich auch dann begangen, wenn er sein Gehalt in einem anderen Unternehmen verdienen, sich für einen anderen Verein begeistern oder einer anderen Partei angehören würde.
Hingegen ist die Zugehörigkeit des Täters zur katholischen Kirche fast immer, wenn jemand aus ihren Reihen und in ihrer Mitte Missbrauch begeht, für das Zustandekommen und den Hergang der Tat wesentlich, wenn nicht sogar ursächlich. Ein, wenn nicht der Grund dafür ist das - vorsichtig formuliert - ausgesprochen spezielle Verhältnis der katholischen Kirche zur Sexualität. Denn einerseits herrscht in der katholischen Kirche eine verbissene, beinahe neurotische Fixierung auf alles, was auch nur entfernt mit Sexualität zu tun hat, während andererseits alles Sexuelle auf eine nicht minder verbissene und neurotisch anmutende Weise tabuisiert, reglementiert und - im wahrsten Sinn des Wortes - verteufelt wird.
Beides zusammen - die Fixierung auf Sexualität in Verbindung mit ihrer gleichzeitigen Tabuisierung - ist der ideale Nährboden für Missbrauch. Dieser Nährboden ist aber keine natürliche Gegebenheit, den die katholische Kirche wohl oder übel beackern müsste. Sie hat ihn nicht vorgefunden, sondern bewusst und mit einiger Anstrengung angehäuft. Und damit seine ungesunde Fruchtbarkeit nur ja nicht verloren geht, bestreut sie ihn unablässig mit frischem Dünger. Denn auf diesem Nährboden gedeiht etwas, ohne das die katholische Kirche in ihrer derzeitigen Gestalt und Struktur meint nicht existieren zu können: Macht. Und um den Bestand und das Gedeihen ihrer Macht nur ja nicht zu gefährden, ist sie, ungeachtet mancher Symptombekämpfung, bereit, auch das Unkraut des Missbrauchs weiterhin wuchern zu lassen.
»Nahezu alle Machtbeziehungen, alle Intrigen und Erpressungen zumal, sind in der katholischen Kirche sexualisiert«, stellt Christiane Florin lapidar fest. (Trotzdem!, S. 12). Sie hat vollkommen recht. Sexualität ist schon für sich genommen ein altbewährtes und überaus verlässliches Instrument der Manipulation, der Unterwerfung und der Kontrolle, der Machtergreifung, des Machtzuwachses und des Machterhalts. Die katholische Kirche hat dieses Machtinstrument schamlos für sich entdeckt und gewissenlos an sich gerissen. Und sie setzt es nicht nur hemmungslos ein, sondern hat seine Handhabung durch die gleichzeitige Tabuisierung sogar noch perfektioniert. Christiane Florin bringt es einmal mehr auf den Punkt: »Kein Sex - davon aber viel.« (Trotzdem!, S. 114)
Dass sich die katholische Kirche damit in ein unheilvolles Dilemma manövriert hat, scheint ihr nicht sonderlich viel auszumachen. Weder in ihrer Fixierung auf Sexualität noch in deren Tabuisierung kann sie sich, obwohl sie es absurderweise immer wieder versucht, auf Jesus von Nazareth berufen. Dieser hat zu Fragen der Sexualität, wenn überhaupt, dann nur widerwillig und ausweichend Stellung genommen. Er hat weder einen moralischen Ratgeber verfasst noch ein Sexualstrafrecht erlassen, sondern »ein Beispiel gegeben« (Joh 13,15). Dem Beispiel Jesu zu folgen hieße, tunlichst davon abzusehen, die legitimen sexuellen Vorlieben, Bedürfnisse und Handlungen anderer Menschen ermitteln, analysieren, bewerten, reglementieren oder gar unterdrücken zu wollen.
Schließlich ist auch über die sexuellen Vorlieben, Bedürfnisse und Aktivitäten von Jesus selbst nichts bekannt. Ob Jesus beispielsweise hetero-, homo- oder wie auch immer sexuell orientiert war, kann niemand wissen - und braucht auch niemand zu wissen, denn es ist vollkommen unerheblich. Worauf es ankommt, ist einzig und allein, dass Jesus, obwohl er »Gott gleich« war, »den Menschen gleich« (Phil 2,6-7) wurde. »Sein Leben war das eines Menschen« (Phil 2,7) - und dazu gehört eben auch die Sexualität, gehören sexuelle Vorlieben, sexuelle Bedürfnisse und, in welcher Form und welchem Umfang auch immer, sexuelle Handlungen. Das mag in manchen Ohren blasphemisch klingen, ist aber tatsächlich nichts anderes als ein unverzichtbarer Aspekt des Glaubens an die Menschwerdung Gottes.
Wenn man das Leben und die Botschaft Jesu zum Maßstab nimmt, ist die verbissene, beinahe neurotische Fixierung der katholischen Kirche auf alles, was auch nur entfernt mit Sexualität zu tun hat, ebenso wie deren gleichzeitige Tabuisierung schlichtweg unchristlich. Die katholische Sexualmoral mit all ihren Regeln, Restriktionen und Tabus ist aber keineswegs nur eine bedauernswerte Verkürzung der christlichen Liebesbotschaft, sondern sie pervertiert, verzweckt und missbraucht diese Botschaft. Und dadurch wird sie, zumindest mittelbar, selbst zum Auslöser und Antrieb von Missbrauch - und zwar keineswegs nur des explizit sexuellen. Denn wie Christiane Florin einmal mehr trefflich analysiert, besteht ein unmittelbarer »Zusammenhang zwischen Sexualmoral, Macht und Gewalt«. (Trotzdem!, S. 115)
Damit ist »das Böse«, nämlich der Missbrauch, »nicht von außen in die Kirche eingedrungen, und es beschmutzt sie auch nicht nur äußerlich«, wie Matthias Remenyi und Thomas Schärtl zu Recht feststellen. (Einleitung, S. 11) Es waren keine kirchenfeindlichen Mächte oder bösen Zeitgeister, die die Bestie des Missbrauchs gezeugt und großgezogen haben, sondern die Kirche selbst. Und solange diese Bestie Nahrung findet, wird sie sich von keinen Präventionsmaßnahmen oder Schutzkonzepten ein für alle Mal bändigen lassen; sie wird weiterhin zerstören, verletzen und töten. Denn ihre Nahrung ist die Angst - die Angst, die mit einer alles durchdringenden, alles vergiftenden Sexualmoral unausweichlich einhergeht: die Angst vor Sünde und Verdammnis, die Angst vor Schande und Skandal.
Wenngleich immer weniger Katholiken die kirchliche Sexualmoral ernst nehmen, geschweige denn befolgen, gibt es sie nämlich noch: die frommen, gefügigen und sittenstrengen Katholiken. Man findet sie aber kaum noch in den herkömmlichen Pfarreien und Verbänden. Umso zahlreicher vertreten sind sie dafür in den sogenannten Neuen Geistlichen Bewegungen und Gemeinschaften sowie in ähnlich strukturierten Organisationen, denen zweierlei gemeinsam ist: Zum einen werden sie nicht müde, ihre Ergebenheit, ihre Treue und ihren Gehorsam gegenüber der Kirche und der kirchlichen Hierarchie zu beteuern, und zum anderen kommt der kirchlichen Sexualmoral in ihrer internen Doktrin und Spiritualität ein überdurchschnittlich hoher, wenn nicht sogar zentraler Stellenwert zu.
Infolge dessen haben diese Organisationen innerhalb der katholischen Kirche hohe Anerkennung, nahezu unbeschränktes Vertrauen und immense Macht erlangt - und es steht...
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