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Ich musste erst 52 Jahre alt werden. Bis dahin war ich ein Meister darin, bei mir selbst alle Anzeichen einer psychischen Erkrankung auszublenden. Angst und Depression waren schlichtweg keine Themen, die in meiner Vorstellungskraft eine größere Rolle gespielt hätten, und damit dürfte es mir zunächst genauso gegangen sein wie dem Großteil der Betroffenen. In der Selbstbetrachtung schätzte ich mich sehr wohl als einen Menschen mit Höhen und Tiefen ein. Ich hatte zwar immer wieder Phasen der Angst und Unsicherheit erlebt, bildete mir ein zu wissen, was es bedeutet, mich schlecht zu fühlen, und gab hin und wieder dem Impuls nach, mich meinem Umfeld - politisch und privat - zu entziehen. Aber solche Momente verbuchte ich stets unter den «schlechten Tagen», die doch auch zum Leben dazugehörten. Im Bundestagswahlkampf 2021 legte sich jedoch ein tiefschwarzer Schatten auf alles, was mir wichtig war, auf meine Arbeit, mein Engagement, meine Partnerschaft, meine Freundschaften. Ich verlor den Boden unter den Füßen.
Als ich Anfang August aus dem Sommerurlaub zurückkehrte, luden wir unsere Unterstützerinnen und Unterstützer im Wahlkreis ein, um die heiße Phase des Wahlkampfs einzuläuten. Zu diesem Anlass präsentierten wir auch die neuen Wahlplakate. Vor dem Bad Hersfelder Rathaus ließ mein Team eine große Plakatwand aufbauen und einen Eiswagen kommen - eine charmante Geste, die auch Menschen anzog, die sich sonst eher am Rande der sozialdemokratischen Kerngemeinde bewegten. Geplant war ein heiterer, leichter Einstieg in jenen politischen Abnutzungskampf, in dem ich mittlerweile zwar ein alter Haudegen geworden war, der aber stets auch viel Kraft gekostet hatte. Wir hatten uns einige Wochen zuvor für das Motto «Wo die Zuversicht zuhause ist» entschieden. Doch an jenem Morgen fühlte ich mich alles andere als zuversichtlich, ich fühlte mich hundeelend - so sehr, dass ich ernsthaft erwog, die Veranstaltung abzusagen. Ich war erkältet, aber die Symptome meines Unwohlseins lagen viel tiefer. Es war nicht der Infekt, der mich in lähmender Unruhe auf dem Sofa hielt - es war Angst. Die Vorstellung, in ein paar Stunden eine größere Menschenmenge bespaßen und Zuversicht ausstrahlen zu müssen, erschien mir plötzlich absurd überfordernd. Mich ergriff Panik. Nach zwei Wochen eines erholsamen Wanderurlaubs in den Bergen hätten mein Körper leicht und mein Geist gestärkt sein müssen. Nun erschienen mir die wenigen Meter von unserem Haus zum Rathaus wie ein unüberwindbares Gebirge.
Von außen wirkte es, als führte ich den vielleicht besten Wahlkampf meines Lebens. Innerlich aber waren da nur Leere, Erschöpfung und Furcht. Es mag widersprüchlich klingen: Die öffentlichen Auftritte retteten mich, obwohl ich dringend Ruhe gebraucht hätte. Auf Wahlkampfveranstaltungen musste ich einfach nur funktionieren, wie ein Zirkuspferd in der Manege, daran hatte ich mich über all die Jahre gewöhnt, auch an die damit verbundene Anerkennung. Doch schwerer wog inzwischen die Zeit zwischen den Auftritten. Niemand merkte, wie schlecht es mir ging, mit Ausnahme meines Mannes. Wenn ich abends nach Hause kam, setzte ich mich apathisch auf unser Sofa und wollte kein Wort mehr reden. Heimlich führte ich eine Strichliste, wie viele Tage Wahlkampf ich noch durchstehen musste. Mein Team musste mich in dieser Zeit zu vielen Terminen schieben, die ich üblicherweise locker absolvierte. Sie gaben wie immer ihr Bestes und versuchten es mit allen Tricks: Sie redeten auf mich ein, schimpften manchmal auch, motivierten und lockten mich, nach dem Prinzip: «Da musst du jetzt wirklich hin, die nächste Veranstaltung können wir dann vielleicht absagen .»
Dabei lief es politisch sehr gut, endlich war der erhoffte Rückenwind aus Berlin da. Sechs Wochen vor der Wahl überholte die SPD die Union bundesweit in den Umfragen - eine Trendwende, an die außer dem Kanzlerkandidaten und seinem engsten Umfeld wohl kaum noch jemand geglaubt hatte. Der Wahlabend, den ich gemeinsam mit meinem Team in Bad Hersfeld verbrachte, wurde für meine Partei und mich zum Moment des großen Triumphs. Mit über 43 Prozent der Erststimmen verteidigte ich mein Direktmandat souverän. Erneut holte ich parteiübergreifend die meisten Erststimmen in ganz Hessen, bundesweit schnitten nur vier SPD-Kandidaten in ihren Wahlkreisen besser ab als ich. Viele bekannte Sozialdemokraten hatten mich im Wahlkampf vor Ort unterstützt, auch Olaf Scholz. Selten habe ich den Bad Hersfelder Linggplatz so voll erlebt. Scholz zeigte sich auf der Bühne im öffentlichen Gespräch mit mir locker und humorvoll. Die Bürgerinnen und Bürger reichten Fragen auf Bierdeckeln ein, Scholz antwortete knapp, klar, ohne Schnörkel - fast sokratisch in der Kürze, aber ohne distanzierte Ironie. Da keine Zeit für einen Imbiss blieb, hatte er um zwei Käsebrötchen für die Autofahrt gebeten. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und schmierte ihm zuhause ein paar Stullen.
Von außen betrachtet, hatte ich geliefert. Der Wahlkreis blieb rot(h). Die SPD gewann die Wahl, Scholz wurde Kanzler einer Ampel-Koalition in Berlin - ein politisches Großprojekt, dem ich viel abgewinnen konnte. Wie es in mir aussah, versuchte ich mir nicht anmerken zu lassen. Schon während des Wahlkampfs hatten Nancy Faeser, die hessische Landesvorsitzende, und andere führende Genossen meines Landesverbands öffentlich gefordert, ich müsse als Spitzenkandidat der hessischen SPD im nächsten Bundeskabinett auf jeden Fall berücksichtigt werden. Manche, die es gut mit mir meinten, waren über die etwas großspurig vorgetragenen Ansprüche unglücklich. Sicher erwartete ich dieses öffentliche Bekenntnis anfangs auch selbst. Es gab jedoch, wie vor jeder Regierungsbildung, eine Reihe von Unbekannten. Zudem hatte Olaf Scholz früh klargemacht, dass sein Kabinett geschlechterparitätisch besetzt sein werde: zur Hälfte Frauen, zur Hälfte Männer. Und da die FDP nur eines ihrer vier Ressorts mit einer Ministerin besetzte, musste die SPD diesen Männerüberschuss ausgleichen, damit der künftige Kanzler sein Wort halten konnte.
Als nach den erfolgreichen Koalitionsverhandlungen am ersten Wochenende im Dezember 2021 das Personaltableau für die Bundesregierung festgelegt wurde, feierten wir zu Hause unseren traditionellen Rosa Advent - mit Freunden, Feuerzangenbowle und Lichterglanz. Doch ich war in Gedanken in Berlin, weil ich den Anruf erwartete. Auch andere Aspiranten auf Posten und Pöstchen meldeten sich bei mir. «Hast du schon was gehört?» Nein. Und das blieb auch so. Ich war bei der Verteilung der sozialdemokratischen Regierungsämter hinten runtergefallen. Es meldete sich auch niemand von denjenigen, die wochenlang meinen Namen gestreut hatten. Kein Anruf, kein Wort. Faeser, die ihren Platz eigentlich stets in Wiesbaden gesehen hatte, wurde dann selbst Innenministerin. Mit Christine Lambrecht, die bereits ihren Abschied aus der Politik angekündigt hatte, zog zudem eine weitere Hessin als Verteidigungsministerin ins Kabinett ein. Zwei Frauen aus Hessen - da war für mich einfach kein Platz mehr. Mit Sören Bartol und Edgar Franke wurden zudem zwei nordhessische Kollegen Parlamentarische Staatssekretäre im Bau- bzw. Gesundheitsministerium. Alle hatten ihre Schäfchen ins Trockene gebracht. Nur ich stand draußen allein im Regen. Es war, als sei ich geräuschlos aus dem inneren Kreis gefallen.
Am darauffolgenden Montag flog ich in aller Herrgottsfrühe nach Paris. Ein Abschied in würdiger Kulisse: Mein französischer Amtskollege verlieh mir den Rang eines Offiziers der Ehrenlegion. Ich wusste, dass dies meine letzte Reise als Beauftragter für die deutsch-französische Zusammenarbeit sein würde. Es war nicht nur das Ende meiner Amtszeit als Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt. Es war nach acht Jahren auch ein Abschied aus der politischen Verantwortung in einem Regierungsamt. Ich war raus. Ich war enttäuscht - aber mehr noch: Ich schämte mich. Gegenüber all jenen, die große Stücke auf mich gehalten hatten. Ich versuchte, die unzähligen Nachrichten von Freundinnen und Freunden, Journalisten und Weggefährtinnen zu ignorieren. Aber es gelang mir nicht. Bei meiner Dankesrede in einem der prunkvollen Säle des Quai d'Orsay, des französischen Außenministeriums, versagte mir zum Schluss die Stimme, und ich vergoss Tränen. Das war mir peinlich, aber ich konnte nicht anders. An diesem Montag hatte mich ein Gedanke im Griff: Das war's, da kommt...
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