Schweitzer Fachinformationen
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Nina
Nina und Jenny gingen einkaufen.
»Lass den schönen Anton sich heute mal alleine amüsieren«, hatte Jenny gesagt. »Wenn einem etwas bleischwer im Magen liegt, wenn Essen nicht hilft und es zum Trinken zu früh ist, gibt es nichts Besseres, als sich ins nächste Kaufhaus zu flüchten und nach Strich und Faden Geld zu verschleudern.«
Nina hatte sich nicht lange bitten lassen. Zwar hatte sie sich flüchtig gewundert, weil es für Jenny zum Trinken eigentlich nie zu früh war, und ihr war auch nichts eingefallen, was sie brauchen konnte, aber darum ging es bei so einem Einkaufsbummel ja auch nicht. Für Nina gab es nichts Besseres, als mit Jenny zusammen zu sein, wenn ihr etwas im Magen, auf der Seele oder wo auch immer lag. Und seit sie im vergangenen Jahr hatte fürchten müssen, sie wäre dazu verdammt, sich künftig ohne Jenny durchs Leben zu lavieren, galt das umso mehr.
Sie hatten einen ihrer seltenen freien Tage, es war so kalt, dass man sich auf der Straße nicht länger als fünf Minuten aufhalten mochte, aber wenn sie dafür eine doppelte oder sogar dreifache Tagesdosis Jenny bekam, sollte Nina ein Einkaufsbummel recht sein. Sie holte die Freundin in ihrer Wohnung in der Mariannenstraße ab, die beiden hakten sich unter und stiefelten los. Ninas Atemwolke vereinte sich mit den Schwaden von Jennys Zigarette, Jenny trug eine Mütze mit wippender Bommel, die Tante Sperling gestrickt haben musste, und die Welt sah auf einen Schlag nicht mehr so grau aus, wie sie es an diesem Montag im Januar war.
»Erzählst du mir, was dir im Magen liegt?«, fragte Nina, während sie die lange Oranienstraße hinunterstapften.
»Lieber nicht«, antwortete Jenny. »Ist zu unappetitlich. Versaut mir die Lust, Geld zum Fenster rauszuschmeißen.«
»Ganz unvernünftig wäre das nicht«, sagte Nina. »Immerhin stecken wir mitten in einer weltweiten Wirtschaftskrise.«
»Für so was habe ich meine Agentin«, erwiderte Jenny unbekümmert. »Und Wirtschaftskrisen müssen auf ewig Wirtschaftskrisen bleiben, wenn niemand mehr was kauft, oder nicht?«
»Deine Agentin will ja nur verhindern, dass dem Kaufrausch ein Kater folgt«, sagte Nina. Die Agentin war sie selbst. Um sicherzustellen, dass Jenny und die übrigen Mitglieder ihres Wunderweiber-Ensembles selbst in haarigen Zeiten nicht ohne Engagement dastanden, verbog sie sich manchmal kaum weniger als Jenny bei ihrer Vorführung. Jenny konnte nicht mit Geld umgehen, es wurde in ihren Händen glitschiger als Seife. In all den Jahren ihrer Zusammenarbeit hatte Nina dazu höchstens mit den Schultern gezuckt. Jenny, die Schlangenfrau, und Sonia, die Schnellmalerin, waren ihre Stars, um derentwillen die Veranstalter ihr die Türen einrannten. Eine Zeit, die es an Haarigkeit mit der jetzigen aufnehmen konnte, hatten sie allerdings nie erlebt. Viele Theaterleiter bekamen ihre Säle nicht mehr voll, wer irgendwie konnte, sparte an den Gagen der Künstler, und obendrein wurden sie alle nicht jünger.
Nina konnte nicht verhehlen, dass es ihr lieb gewesen wäre, hätte Jenny über eine finanzielle Rücklage, eine Sicherheit für den Notfall verfügt, zumal sie nicht nur für sich selbst, sondern vor allem für ihr Sammelsurium von Familie zu sorgen hatte. Viktor, Jennys Sohn und für Nina der Ersatz für das Kind, das sie und Anton nicht hatten bekommen dürfen, war erst dreizehn und so klug, dass er eines Tages sicher studieren würde. Hinzu kamen Darius, der gute Geist ihres Lebens, und seine alternde Katze, die zu Jenny gehörten, solange Nina sie kannte. Eine Sicherheit gab es zwar im Leben ihrer Freundin: einen Mann, der sie über alles liebte und sich nichts mehr wünschte, als ihr und den Ihren ein schützendes Heim zu bieten. Jenny aber war ein wilder Vogel, der zuweilen schon die Zärtlichkeit einer Umarmung als Käfig empfand.
Da es sich bei dem Mann um Ninas Bruder Carlo handelte, hatte sie jedes Auf und Ab der stürmischen Beziehung miterlebt. Es blieb dabei, sosehr die beiden zweifellos aneinander hingen: Carlo war der Erbe des Familienguts in der Uckermark, und Jenny konnte nirgendwo leben als in Berlin. Sie würde auch weiterhin ein eigenes Einkommen brauchen.
Nicht jetzt daran denken, gebot sich Nina, sonst nützt die ganze Geldverschwendung nichts. Sie waren Gauklerinnen, Lebenskünstlerinnen, wurden dafür bezahlt, dass sie ihre Zuschauer für kurze Zeit ihren Alltag vergessen machten. Wenn sie dazu selbst nicht mehr in der Lage waren - mit welchen Kräften sollten sie andere verzaubern?
Die sich verdichtenden Menschenströme verrieten, dass sie ihr Ziel so gut wie erreicht hatten. Jenny liebte das Warenhaus Tietz in der Leipziger Straße mit seiner vier Stockwerke hohen verglasten Front, der ebenfalls verglasten Kuppel samt dem weithin sichtbaren Globus, den Sonderangeboten in der Wäscheabteilung und den vornehm ausstaffierten Damen, die zu reißenden Tieren wurden, sobald sie sich auf die Tische mit preisreduzierter Ware stürzten. »Hinterher gebe ich dir den gigantischsten Cocktail aus, den sie auf der Dachterrasse servieren«, versprach Jenny, während sie sich mit etlichen anderen Kauflustigen an den livrierten Portiers vorbei in das Gebäude zwängten. »In längstens einer Stunde bin ich sowieso pleite, dann bist du erlöst.«
Nina grinste. »Vergiss nicht, vor der Pleite Geld für meinen Gigantencocktail abzuzweigen.«
Jenny stürzte sich todesmutig ins Gewimmel, und Nina zockelte hinterher und begnügte sich damit, den Ansturm zu beobachten. Berlin war ihre Heimat, sie war mit kaum zwanzig in die Hauptstadt gekommen und hatte es keinen Tag lang bereut. Dennoch erinnerten sie Situationen wie diese von Zeit zu Zeit daran, dass sie im Gegensatz zu Jenny ein waschechtes Landei war.
Das Kaufhaus hatte sich verändert, seit sie zum letzten Mal hier gewesen war. Damals hatte sie voller Stolz und Vorfreude winzige Hemdchen, Hauben und Wickeltücher für ihr Kind ausgewählt, das nicht lebend zur Welt gekommen war.
Das Rudolf Kante ermordet hatte, flammte es in ihrem Kopf auf wie ein abrupt eingeschalteter Scheinwerfer.
Nina drängte den Gedanken beiseite. Was Kante getan hatte, würde sich vor keinem Gericht auf der Welt beweisen lassen, und jedes Nachsinnen über Racheakte war vergeudete Kraft. Ihr Kind kam nicht zurück. Nicht einmal, wenn sie Rudolf Kante tötete.
Sie zwang sich, zu ihren Beobachtungen zurückzukehren. Die Stimmung, die zwischen den vergoldeten Säulen, den mit Luxusgütern beladenen Ständern und Tischen herrschte, war ihr damals gelassener, freundlicher, weniger aggressiv vorgekommen als heute. Aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein, weil die ganze Welt ihr in jener Zeit freundlicher und weniger erfüllt von unterschwelliger Bedrohung erschienen war.
Gewisse Dinge bildete sie sich jedoch nicht ein, sondern sah sie vor ihren Augen: Früher war das Erstaunlichste bei Tietz die bunte Mischung von Kunden gewesen. Da gab es Arbeiterfrauen, die nicht nur sich selbst, sondern ihren sämtlichen Nachbarinnen Ausschussware sicherten, und daneben Unternehmergattinnen, die sich ein halbes Dutzend Schachteln mit Einkäufen von Dienstmädchen hinterhertragen ließen. Es gab den schüchternen, ein wenig abgerissenen Künstler, der zur Geburt seines Kindes sein Honorar für eine riesige Steiff-Giraffe ausgab, und den Bankier, der ein Geschenk zum Hochzeitstag suchte und drei Ladenmädchen Pelzkrawatten anprobieren ließ. Es gab Männer, die verzückter als ihre Söhne mit der elektrischen Eisenbahn spielten, und emsige Hausfrauen, die jedes Stück Stoff auf seine Waschbarkeit prüften.
Das alles hatte mehr oder weniger unbeschwert nebeneinander existiert. Man mochte die Nase rümpfen, aber man hackte einander kein Auge aus. Heute hingegen schienen sich selbst diejenigen mit gehässigen, neiderfüllten Blicken zu verfolgen, die demselben Stall entstammten. Die Arbeiterinnen und Kleinbürgerinnen waren nirgendwo mehr zu entdecken. Sie waren froh, wenn sie das Geld zusammenkratzen konnten, um Brot auf den Tisch zu stellen und in den eisigen Nächten den Ofen zu befeuern. Von vielen der Toten, die man im Morgengrauen fand, ließ sich nicht sagen, ob sie an der grassierenden Grippe gestorben oder einfach erfroren waren. Einen Kaufhausbesuch gab es für diese Menschen nicht einmal mehr in ihren Träumen.
Nina erlebte das Gleiche im Wintergarten, dem berühmten Varieté in der Friedrichstraße, in dem ihr Ensemble zu Hause war. Früher waren die Stehplätze im Entree Abend für Abend ausverkauft gewesen. Arbeiter, Handwerker, kleine Beamte und Ladeninhaber hatten sich dort samt ihren Frauen gedrängt, angetan mit ihren Sonntagskleidern und johlend vor Begeisterung. Inzwischen aber waren unzählige von ihnen arbeitslos, und von den paar Pfennigen, die die Sozialversicherung auszahlte, ließen sich ganz gewiss keine zwei Mark für Vergnügungen abzweigen.
Dabei brauchten die Menschen Vergnügungen mehr denn je. Sich ein paar Stunden in einer Glitzerwelt unter künstlichem Sternenhimmel verzaubern lassen, in der alles Bedeutung, aber nichts Gewicht hatte, nichts metallene Härte, aber alles Glanz. Nina sah den Einkaufenden zu, die ergatterte Schätze wie Flaggen in die Höhe hielten, und ihre Gedanken verloren sich.
Sie war recht sicher, zu wissen, was Jenny im Magen lag: die politische Entwicklung. Nach den Wahlen Anfang November hatte es keine regierungsfähige Mehrheit gegeben. Der als Notbehelf erneut aufgestellte Kanzler Papen hatte sich kaum vier Wochen lang halten können, und der Nachfolger, Schleicher, war vor zwei Tagen ebenfalls zurückgetreten....
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