Schweitzer Fachinformationen
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Das Taxi war verschmutzt, der Bezug des durchgedrückten Sitzes zerlumpt, der Boden mit Zigarettenkippen und Verpackungsresten übersät, und ein Stück Stoff bedeckte anstatt einer Konsole das Handschuhfach und die Armaturen. Um zu verhindern, daß die Innenverkleidung herabfiel, war sie mit Klebestreifen befestigt. Die Türgriffe hingen wie ohnmächtig herunter, und der Schalthebel war mit Isolierband umwickelt.
»Was gibt es am Maidan at Tahrir zu sehen?« fragte Thomas Mach auf englisch und faltete den Stadtplan zusammen.
Aus zwei Lautsprechern oberhalb des Rücksitzes war der Gesang einer voluminösen Frauenstimme zu vernehmen. Es mußte ein orientalisches Riesenorchester sein, das ihre Darbietung begleitete.
Der Chauffeur zuckte mit den Schultern und antwortete: »Yes.«
Thomas Mach war auf sein »ägyptisches Wissen« übrigens ganz und gar nicht stolz, es war eher bescheiden, obwohl er Geographie und Geschichte studiert hatte. Er kannte gerade die Namen der berühmtesten altägyptischen Götter, denn bei den Unterlagen des Studientagebuchs war eine abgegriffene, großformatige Broschüre »Gottheiten im Alten Ägypten« dabeigewesen, und da er es von seinen letzten Prüfungen her gewohnt war zu lernen, hatte er sich die Namen gemerkt. Am meisten interessierte ihn die Geschichte von Isis, Osiris und Seth. Seth, eifersüchtig auf Osiris, hatte seinen Bruder zu einem Gastmahl geladen, bei dem er ihm einen kunstvollen Sarg schenken wollte, sofern er in ihn hineinpaßte. Kaum hatte Osiris darin Platz genommen, hatte Seth ihn in den Nil geworfen. (Dieses Bild fand er phantastisch: ein bemalter Sarg, der im Strom schwamm.) Als Isis begonnen hatte, Osiris zu suchen, hatte Seth den Leichnam zerstückelt und die Körperteile im Nildelta verstreut. Isis hatte die Leichenteile aber wieder eingesammelt, zusammengefügt, mit Binden umwickelt und mit dieser ersten Mumie einen Sohn gezeugt, Horus, der seinen Vater rächte. In Thomas Machs Kopf tauchte das Gesicht Konrad Feldts auf. Er hatte ihm als erster diese Geschichte erzählt. Während der Fahrer hupend, schreiend und schimpfend durch verstopfte Haupt- und Querstraßen, zwischen verbeulten Bussen und Fahrzeugen, die nur notdürftig zusammengeflickt waren, dahinraste, sog er hastig an seiner Zigarette. Auch Thomas Mach rauchte. Er dachte, als er über die Reihe endloser Karosseriedächer blickte, an Krokodile, die im Nil schwammen.
Hinter einer Brücke hatte sich eine Familie auf dem Gehsteig ein Nachtlager bereitet. Männer in Ghalabijas mit Turbanen, Frauen in Schwarz gehüllt. Ein Bub lag am Boden, daneben ein Mädchen mit struppigem Haar, den Kopf auf die Knie gelegt. Im letzten Moment wich ihnen ein Moped, hoch beladen mit leeren Hühnersteigen aus, und auf dem Gepäckträger eines entgegenkommenden Taxis flatterte eine Plane wie ein Gespenst. Das opernhafte Lied im Radio nahm kein Ende, es steigerte sogar seine Dramatik, fiel dann aber jäh ab, bis endlich nur noch das Orchester allein weitermusizierte.
Als er ausstieg, bezahlte er dem Fahrer aus einer Eingebung heraus das Doppelte. Er beeilte sich, die im Halbdunkel liegende Hauptstraße zu erreichen und sah gerade noch, wie hinter ihm ein Taxi mit einem anderen Europäer hielt. Aus einem Schild schloß er, daß er sich in der Suleiman Sharia befand, einer stickigen Straße mit alten, halbverfallenen Gebäuden.
Ein blauer Lastwagen fuhr vorbei, und Thomas Mach konnte darin wieder schwarzgekleidete Polizisten mit Gewehren erkennen. Vor einer U-Bahnstation spielte ein Kind mit einem rostigen Fahrradlenker, ein anderes saß in einem Pappkarton, während eine Frau, vielleicht seine Mutter, Papierbecher, Getränkedosen und Küchenabfall aus einem Müllsack warf, den sie gerade durchstöberte.
Im Dunklen hatte Thomas Mach das vage Gefühl, daß ihm der Europäer aus dem Taxi folgte. Er vertraute seinem Instinkt (dem Vorboten seiner inneren Stimme), der ihn spüren lassen würde, wenn man ihn beobachtete, ob er einen Streit riskieren sollte oder ob es besser war, zu schweigen. Er drehte sich um und warf einen Blick zurück. Der Mann war größer als Mach, stämmiger, etwa fünfzig Jahre alt und trug einen hellen Hut. Thomas Mach schloß aus den Adern in seinem Gesicht und der roten Nase, daß der Unbekannte trank. Thomas Mach haßte Alkohol, weil er als Kind die vielen Trinker gesehen hatte, die in der Fabrik seines Vaters arbeiteten und sich am Abend und am Wochenende in den Rausch flüchteten. Dachte er lange genug darüber nach, kam ihm das meiste, was ihm widerfuhr, ohnedies rätselhaft vor, weshalb er kein Bedürfnis nach zusätzlicher Verwirrung durch den Alkohol verspürte. Seiner Meinung nach existierte ohnedies niemand, der über sich selbst Bescheid wußte. Jeder war von sich getrennt, wie ein Insekt durch die Fensterscheibe vom Freien. Er beobachtete deshalb auch neugierig die Fliegen, Bienen und Wespen, wie sie ruhelos über das Glas liefen und immer wieder versuchten, das durchsichtige Hindernis zu überwinden, ohne daß sie es jemals schafften. Was ihnen ganz nahe zu sein schien, war unerreichbar.
Thomas Mach war süchtig danach, Geschichten zu hören, in denen sich jemand getäuscht hatte oder getäuscht worden war. Immer, stellte er fest, ließ ein Irrtum ein Stück verborgener Wahrheit sichtbar werden, etwas von jener Wahrheit, die so mühevoll zu erkennen und zu glauben war. Seit er sich jedoch an seine innere Stimme hielt, waren ihm die komplizierten Verwicklungen des Alltags erst richtig klargeworden. Man mußte gerade bei den gewöhnlichen Ereignissen auf der Hut sein, aber dafür gab es in einem fort neue Entdeckungen.
Er trat auf einen heller erleuchteten Teil des Gehsteigs, wo zwei Männer die frisch gereinigte Schaufensterscheibe eines Blumengeschäfts mit Zeitungspapier trockneten. Einer von ihnen stand innen, einer außen, und sie machten spielerisch die Bewegungen so, als trennte sie nicht die Glasscheibe. Auf diese Weise führten sie eine Art pantomimischen Tanz auf, bei dem jeder versuchte, die Bewegung des anderen zu imitieren. Das eigenartige Bild erinnerte Thomas Mach daran, daß er alles mit einer Genauigkeit und Schärfe sehen wollte, als wäre er der erste, der es entdeckte. Es gelang ihm jedoch nur dann, wenn er nicht mit anderen redete (das viele Reden »leierte aus«). Die beiden Männer beugten sich tief hinunter, während sie die Glasscheibe polierten, richteten sich weiterwischend auf und streckten sich, bis sie auf den Zehenspitzen standen. Erst jetzt sah Thomas Mach den Europäer mit dem Hut im Geschäft, dessen eine Wand aus einem Spiegel bestand. Der Mann erwiderte nicht das Lächeln der drei Verkäufer, die zwischen Vasen mit Paradiesvogelblumen, Nelken und Rosen um einen Stahlrohrschreibtisch saßen. An der Wand hing ein Kalender der Fluglinie KLM mit einem Foto des Kolosseums, und er hatte eine Ahnung, daß dieser Kalender so etwas sein konnte wie der Schimmel auf dem Apfel, der beschädigte Daumennagel oder der Geschmack des Klebstoffs auf den Briefkuverts - Einzelheiten, die ihm aufgefallen waren, wenn er seine innere Stimme hörte. Die beiden Männer waren mit der Schaufensterscheibe fertig und fingen an, den Spiegel im Geschäft mit nassen, seifigen Fetzen zu reinigen - dabei lauschten sie gespannt dem Wortwechsel zwischen dem Europäer und den Verkäufern. Einer der Verkäufer schob die Glasplatte des Schreibtischs beiseite und nahm etwas heraus, das Thomas Mach zuerst für ein Stück Papier hielt, bis er erkannte, daß es eine Fotografie war. Der Europäer steckte die Fotografie ein, wobei Thomas Mach ein goldenes Armband an seinem Handgelenk bemerkte, und legte einige Pfundscheine auf den Tisch. Als er durch die geöffnete Tür ins Freie trat, winkte einer der Fensterputzer Thomas Mach lachend hinein. Er erhielt einen Strauß Nelken, während ein Mann mit Bart, eiförmigem Kopf und vorspringender Nase, offenbar der Besitzer, ihn bat, Platz zu nehmen. Thomas Mach sah, als er sich setzte, daß unter der Glasplatte des Stahlrohrschreibtischs eine Menge Fotografien lagen, die allesamt den Besitzer mit Kunden, meist Touristen, zeigten. Sie hatten sich im Geschäft offenbar von einem der Verkäufer aufnehmen lassen und später - wie versprochen - ein Foto nach Kairo geschickt.
»Nagib Machfus!« rief der Besitzer stolz und zeigte ihm ein sich in Auflösung befindendes, unterbelichtetes Farbfoto, auf dem der Nobelpreisträger mit ihm und den Angestellten, die alle Blumen in den Händen hielten, wie eine Heuschrecke durch seine große Brille auf den Betrachter lugte. Sein Roman Die Kinder unseres Viertels war den Professoren der Al-Azhar-Universität in Kairo ein Dorn im Auge gewesen, hatte der Bibliothekar Feldt ihm erzählt. Sie hatten Machfus gedroht, wegen seiner Darstellung von Adam, Moses, Jesus und Mohamed als arme Clochards und Drogenabhängige bei einer Veröffentlichung des Buches gegen ihn zu prozessieren. Ein fanatischer Bursche hatte ein Messerattentat auf ihn verübt. Trotzdem verurteilte Machfus die jungen Islamisten nicht. Er betonte sogar, daß sie eine Überzeugung hätten - im Gegensatz zu anderen Jugendlichen, die sich nur für die Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse interessierten. Thomas Mach wußte, in welchen Cafés Machfus verkehrte, doch war der Dichter schon sehr alt, und mit Sicherheit ging er nicht mehr so häufig aus wie früher.
Nebenbei erkundigte er sich, welches Foto der Europäer gekauft hatte, der vor ihm im Laden gewesen war, und nach einigem Gelächter erfuhr er, daß auf dem Bild ein Mann und eine Frau zu sehen gewesen waren. Das Seifenwasser auf dem Spiegel war eingetrocknet und hatte weiße Schmierflecken hinterlassen. Gerade richtete der Besitzer an Thomas Mach die Bitte, mit einem Fotoapparat wiederzukommen, als ein Bub weinend...
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