Schweitzer Fachinformationen
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Mein Name ist Heinrich Pollanzy. Als Psychiater und Leiter der Anstalt Gugging bin ich es gewohnt, seltsame Lebensläufe und Ansichten zu hören. Meinen ehemaligen Patienten und heutigen Pflegegehilfen Philipp Stourzh kenne ich seit mehr als fünfzehn Jahren. Er wurde mit einem epileptischen Anfall in meine Abteilung eingeliefert, der auf den Schuß aus einem Flobertgewehr zurückzuführen war. Das Projektil war in den Hinterkopf des Patienten eingedrungen und, ohne das Gehirn zu verletzen, in einem Bogen unter der knöchernen Schädeldecke bis zur Nasenwurzel gelangt.
Auf der Röntgenaufnahme ist das steckengebliebene Geschoß deutlich zu erkennen. Hunderte Ärzte haben es auf Kongressen gesehen. Die Neurologen sind sich jedoch darüber einig, daß eine Operation ausgeschlossen ist, da die Gefährlichkeit eines Eingriffes in keinem Verhältnis zum Resultat steht. Zudem ist der Status quo für den Patienten nicht bedrohlich. Jedenfalls konnten keine Anzeichen festgestellt werden, daß das Projektil wandert, und auch der epileptische Anfall blieb ein einmaliges Ereignis.
Die Erinnerung an den Unfall ist vollständig aus dem Gedächtnis des Patienten gelöscht.
Philipp Stourzh hatte seinen Vater, einen Sportschützen, in das Überschwemmungsgebiet an der Donau begleitet und auf der Zielscheibe, wie er es immer tat, gerade die Treffer abgelesen, als sich aus dem Flobertgewehr der verhängnisvolle Schuß löste.
Der unglückliche Vater hatte bis vor kurzem das größte Briefmarkengeschäft von Wien besessen, in dem Philipp sechs Jahre nach dem Ereignis einen Brand legte, der aber keinen großen Schaden verursachte und daher von den Eltern vertuscht wurde. Sie bestanden jedoch auf einer therapeutischen Behandlung ihres Sohnes, aus der sich ein gewisses Nahverhältnis zwischen Philipp und mir entwickelte. Ich fand heraus, daß er schon seit seiner Pubertät ein heftiges pyromanisches Verlangen verspürte.
Wann immer sich die Gelegenheit ergab, »zündelte« er an der Alten Donau. Dabei trug er eine Flugtasche der Austrian Airlines aus rotem Kunststoff mit sich, in die er alte Zeitungen, Kartonstücke und eine Flasche Petroleum gestopft hatte. Am Ufer eines versteckten Nebenarmes legte er dann Feuer. Der pyromanische Drang steht also nicht in Zusammenhang mit dem Kopfschuß. Ich halte Philipps Besessenheit vielmehr für das Ergebnis von unterdrücktem Haß auf die eigene Familie. Er warf seinen Eltern vor, daß ihr Briefmarkengeschäft vom Großvater Johann Stourzh nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich dem jüdischen Eigentümer geraubt worden sei. Johann war ein sogenannter »Illegaler« gewesen, das heißt Mitglied der NSDAP, als sie in Österreich verboten war. Nach der Verschleppung des jüdischen Besitzers, der später in Dachau ermordet wurde, hatte er das Geschäft mit seltenen und kostbaren Postwertzeichen wie der British Guiana 1C aus dem Jahr 1856, der Bayerischen Schwarzen Einser mit Mühlradstempel »317« und der schwarzen One Penny mit Malteserstempel zugesprochen erhalten. Sein Großvater log später, daß es sich bei den Raritäten um Fälschungen gehandelt hätte, die er nach der »Übernahme« des Geschäftes in den Ofen geworfen habe. Ich führe Philipps versuchte Brandstiftung auf diesen Vorfall zurück und auch seine pyromanische Leidenschaft, die etwas mit Rache zu tun hat, denn sein Vater hat ihm stets eine Antwort auf die Frage, woher der Reichtum der Familie komme, verweigert. Außerdem war Johann Stourzh in die »beschlagnahmte« Wohnung des jüdischen Besitzers eingezogen und hatte dessen Bücher, Ölbilder, Silbergeschirr und Teppiche geraubt, die er seinem einzigen Sohn Adolf weitervererbt hatte.
Ich vermittelte Philipp als Therapie gegen seine pyromanische Leidenschaft in den Sommerferien an eine Feuerversicherung (ein riskantes Experiment, wie ich zugebe), wo er in der Schadensabteilung aushalf. Dort lernte er Wolfgang Unger kennen. Unger ist von Beruf Restaurator im Kunsthistorischen Museum und arbeitet nur nebenbei als Fotograf für Brandschäden. Er zeigte Philipp das Archiv mit über 700 Ordnern, von dem Stourzh so fasziniert war, daß er stundenlang Akten und Fotografien studierte. Noch immer fuhr er an die Alte Donau, um alles mögliche anzuzünden und Zigaretten zu rauchen. Unger zeigte auch mir die ungewöhnliche Sammlung von Aufnahmen ausgebrannter Wohnungen und verkohlter Leichen, Ruinen von Gebäuden und verrußter Autowracks. Auf die Frage, warum die vom Feuer beschädigten und zerstörten Gegenstände auch einzeln fotografiert würden, Kleidungsstücke, Möbel, Uhren, Haushaltsgeräte, Bücher, Bilder, Füllhalter oder Brillen, erklärte er, dies sei notwendig, um die Höhe des Schadensersatzes zu bestimmen.
Ich machte damals Notizen über Philipp für einen Artikel in einer psychiatrischen Fachzeitschrift. Dabei verwendete ich einen Taschenkalender, den ich vom Vertreter einer Medikamentenfirma als Geschenk erhalten hatte.
Bevor ich mit den Ereignissen fortfahre, muß ich eine Einzelheit erwähnen, die von Bedeutung ist: Stourzh trug damals fast immer eine Postkarte mit sich, die er bei einem Besuch des Kunsthistorischen Museums gekauft hatte und als sein »Lieblingsbild« bezeichnete. Sie zeigte Guiseppe Arcimboldos »Ignis«[1] aus dem Jahr 1566, eine brennende Büste, die aus verschiedenen Gegenständen zusammengesetzt ist. Philipp beschrieb das Bild so: »Brennende Holzscheite bilden das Haar, der Kopf besteht aus einem Wachsstock, Kerzen, einem Docht, einer Öllampe, einem Feuereisen und Feuersteinen, der Oberkörper aus einer Pistole, einer Kanone und einem Mörser. Die Gestalt trägt eine prächtige Kette um den Hals, die mit dem Orden des Goldenen Vlieses - einem toten Widderkopf - geschmückt ist.[2] Außerdem ziert der Doppeladler der Habsburger die Brust aus Waffen, ein Symbol der kriegerischen Macht Maximilians II. im Kampf gegen die Türken.«
In einer der Sitzungen ging es um Arcimboldos »Ignis«-Figur und um Philipps Drang, Feuer zu legen. Ich mußte jedoch das Gespräch unterbrechen, da ich zu einer Notaufnahme in die Ambulanz gerufen wurde, die längere Zeit beanspruchte. Bei meiner Rückkehr war Philipp verschwunden. Gleich darauf stellte ich fest, daß auch mein Taschenkalender mit den Eintragungen über Stourzh nicht mehr vorhanden war. Ich war mir sicher, ihn auf dem Schreibtisch liegengelassen zu haben. Beim nächsten Mal stellte ich Philipp zur Rede, er bestritt den Diebstahl jedoch. Damals überlegte ich ernsthaft, die Therapie abzubrechen. Schließlich fand die Putzfrau das kleine Buch unter dem Teppich. Wäre es mir bei jener Sitzung mit Philipp heruntergefallen, hätte sie es schon früher finden müssen, also hatte Stourzh es bei seiner letzten Therapiestunde (vielleicht als ich telefonierte) dorthin geschoben.
Philipp war versessen auf Taschenkalender, sie füllten die Schubladen seines Schreibtisches, den er sorgfältig versperrte. Er liebte besonders solche mit bunten Landkarten, Maßeinheiten, Telefon-Vorwahl-Codes, Währungstabellen und Angaben über Zeitunterschiede auf den fünf Kontinenten. Häufig verwendete er bei seinen Eintragungen eine Geheimschrift.
Ich habe, als er stationär in Gugging behandelt wurde, seine Aufzeichnungen ohne sein Wissen fotokopiert. Zuvor hatte er versucht, die Gardinen im Schlafzimmer seiner Eltern in Brand zu stecken, und war dabei überrascht worden. Daraufhin sei er mit krampfartigen Zuckungen zusammengebrochen, gab der Vater an. Wir wiesen jedoch nach, daß sein Anfall nur vorgetäuscht war. Ich war wegen des Brandattentates beunruhigt, weshalb ich, während er zu einer Untersuchung in ein anderes Gebäude gebracht wurde, sein Zimmer durchsuchte, wo ich in der roten Flugtasche fündig wurde. Trotz größter Bemühungen konnte ich jedoch die Zeichen in seinem Taschenkalender nicht deuten. Ich wandte mich zuletzt an einen Kryptoanalysten, den ich noch von meiner Militärzeit her kannte. Er rief mich bald darauf an und teilte mir mit, daß auch er nicht in der Lage sei, das Geschriebene zu entschlüsseln, da mein Patient den Code bei jeder Eintragung ändere und wahrscheinlich selbst nach einiger Zeit nicht mehr lesen könne, was er notiert habe.
Vielleicht, überlegte ich mir, ging es Stourzh nur darum, Geständnisse abzulegen? (Daß er alles schriftlich niederlegte, befreite ihn vielleicht von Schuldgefühlen.) Die Geheimschrift wechselte mit gut lesbaren tagebuchartigen Eintragungen ab - ein verwirrendes Selbstporträt mit vielen Leerstellen. Schließlich gelang es mir, das System hinter den Aufzeichnungen zu verstehen: In Normalschrift abgefaßt war alles, was Philipp anderen mitteilen wollte. Es waren übrigens auch Zeichnungen darunter, groteske Porträts der Personen, mit denen er zu tun hatte. Mich selbst stellte er riesig groß dar, einen winzigen Patienten in der Faust, den ich gerade verspeiste. Selbstverständlich vergaß er meine schwarze Augenbinde nicht. An anderer Stelle kam ich als Sammler von Nachtfaltern vor, die ich mit Chloroform betäubte, auf Nadeln spießte und in eine Vitrine steckte. Die Nachtfalter hatten winzige Menschenköpfe. Hin und wieder las er mir sogar eine seiner Eintragungen vor. Ich fragte ihn, ob er auch das Feuerlegen an der Alten Donau schriftlich festhielte, und er antwortete, ja, aber er habe die betreffenden Seiten inzwischen herausgerissen und verbrannt, da er nicht wolle, daß jemand etwas darüber erfahre.
Plötzlich, von einem Tag auf den anderen, hörte Philipp mit dem »Zündeln«...
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