Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Fast 25 Jahre wohnte er schon, wenn er in Venedig war, in einem Dachzimmer mit Kochnische im Haus seines Bruders. Bei seinen meist kurzen Aufenthalten hatte er vor allem die Oper, das Teatro La Fenice, besucht, von dem er einen der Maestri Suggeritori, Lorenzo Verra, kannte.
Oft hatte ihn sein Bruder auf Ausflüge mitgenommen - zum Lido oder nach Murano, Burano und Torcello -, um mit ihm auf Bummelwegen die berühmten Cafés und volkstümlichen Ostarias aufzusuchen. Jakob hatte ihm gerne von der Geschichte der Stadt erzählt, ihn mit Venedig-Büchern beschenkt und ihn überredet, gemeinsam Kirchen anzuschauen und in der Accademia Gemälde zu betrachten. Dabei waren Aldrian auch der Markusdom, der Campanile und der Dogenpalast vertraut geworden. Was sein Bruder nicht ahnen konnte, war der Umstand, dass Michael religiöse Renaissance-Gemälde und Kirchen als bedrückend empfand. Er verglich sie mit Grüften und Albträumen. Ihm genügte das Leben in der künstlichen Welt als Maestro Suggeritore der Oper, in der die Musik Zeit und Raum aufhob und so den Geschehnissen etwas Einzigartiges gab. Aus seinem Souffleurkasten heraus erblickte er dann nur Beine, Bäuche, Brüste und darüber Gesichter, wie selbständige, fremde Wesen. Die religiösen Renaissance-Bilder hingegen bestanden für ihn darauf, als Zeugnisse von Tatsachen aufgefasst zu werden, als Beweise, dass das Dargestellte nicht zu leugnen war. Tatsächlich hatten ihn die sakralen Gemälde, die in den Kunstbänden seines Bruders abgedruckt waren, bis in den Schlaf verfolgt. Für ihn litten Gläubige an einer Art von Verfolgungswahn, da sie sich in einem fort von Gott, der alles sah und wusste, beobachtet und durchschaut fühlten. Sie lebten, sagte er sich, in einem geheimen Überwachungsstaat, ohne den Überwachenden zu sehen, zu hören oder gar zu kennen. Jetzt aber, nachdem ihm die Oper genommen worden war, wollte er sich diesen Bildern stellen, ja, er wollte der »Wasserstadt«, wie er sich scherzhaft sagte, auf den Grund gehen. Für die nächsten Tage hatte er unter anderem einen Termin im Dogenpalast, den er in- und auswendig kannte, dessen »geheime Wege« er aber noch einmal sehen wollte. Als Erstes jedoch musste er eine Verabredung im Archivio di Stato di Venezia einhalten, die ihm der Direktor des Wiener Staatsarchivs, Dr. Mikoletzky, vermittelt hatte. Ein kunstinteressierter Psychiater, Dr. Feilacher, hatte ihm außerdem die Möglichkeit verschafft, das ehemalige Irrenhaus auf der Insel San Servolo zu betreten, und nicht zuletzt hatte ihm die Direktorin der Nationalbibliothek, Dr. Rachinger, den Zugang zur Biblioteca Marciana am Markusplatz ermöglicht. Auch sein Bruder und seine Schwägerin hatten schließlich verschiedene Genehmigungen für Besichtigungen eingeholt, die sie ihm per Mail zugeschickt hatten.
Er hob den Koffer über die Stufen, die vom Waggon zum Bahnsteig führten, und schritt dann, das Gepäckstück hinter sich herziehend und den gerahmten Druck von Adalbert Stifter unter einen Arm geklemmt, durch die Halle, in der ihm Menschen mit gelben Kunststoffsäcken an den Beinen entgegenkamen. Ihm war klar, dass es Hochwasser, Acqua alta, bedeutete. Er hatte es schon einmal, in der Adventszeit 2008, auf drastische Weise erlebt. Damals hatte er seinen Bruder mit dem Vaporetto zum Markusplatz begleitet, wo sie mit Gummistiefeln, die ihre Beine bis zu den Hüften bedeckten, zum Caffè Florian gestapft waren und dort in den mirakulösen Räumen »Spritz« getrunken hatten. Er wusste nicht einmal mehr, wie sie damals nach Hause gekommen waren.
Diesmal fiel das Acqua alta zu seiner Überraschung noch höher aus. Der Weg zu den Kiosken, an denen die Fahrscheine für die Vaporetti zu lösen waren, führte bereits durch knöcheltiefes Wasser, und vor den Stufen des Bahnhofs standen fliegende Händler, die ihre provisorischen Stiefel - zwei gelbe Kunststoffsäcke mit Sohlen und Absätzen - anboten. Während er auf das nächste Vaporetto wartete, streifte er ein Paar über - sie reichten bis zu den Knien - und begab sich zur Anlegestelle. Dort rief er mit seinem Smartphone die Nummer seines Bruders an, dieser meldete sich jedoch nicht. Auch Elena, dessen Frau, konnte er nicht erreichen, aber da er ihnen mitgeteilt hatte, dass er diesmal länger bleiben würde, hatten sie es vielleicht nicht so eilig, ihn zu begrüßen.
Das nächste Vaporetto war fast leer, nur ein altes Ehepaar mit seinem weißen Schoßhündchen saß in der Mitte des Schiffs: der Mann geschmückt mit einer Perücke und schwarzem Dreispitz, die Frau mit einem riesigen Federhut und Lorgnon. Ihr Gesicht war weiß gepudert, der Mund grellrot mit Lippenstift nachgezogen, weshalb ihre Zähne dunkelgelb wirkten. Die beiden Kostümierten wirkten wie aus dem Museum entsprungen. Als er das Abteil betrat, starrten sie ihn an, bis er das Bild zu Boden stellte, das Schoßhündchen kläffte kurz, dann blickten sie wieder gelangweilt aus dem Fenster. Obwohl Aldrian Müdigkeit verspürte, blieb er stehen und betrachtete die Palazzi des Canal Grande, die er schon so oft gesehen hatte. Bisher waren es für ihn romantische Kulissen gewesen, diesmal aber erschienen sie ihm wie ein neues Zuhause. Selbst der Palazzo Vendramin, das Sterbehaus Richard Wagners, jetzt das Städtische Casino, an dem das Vaporetto vorbeifuhr, war für ihn nicht mehr bloß eine von vielen Sehenswürdigkeiten, sondern er verband das Gebäude mit einer Aufführung von »Tristan und Isolde«, die ungerufen mit Bühnenbild und Musik in seinem Kopf erschien, aber, da er sich sagte, dass er ein anderes Leben beginnen müsse, gleich wieder verschwand. Er drehte sich nach dem maskierten Paar um, das ihm jetzt wie zwei verwirrte Mitglieder des Staatsopernchors erschien, die den Weg zur Bühne nicht fanden, und stellte fest, dass der Mann mit dem weißen Hündchen im Arm seinen Platz verlassen und sich eine Reihe vor seiner Frau niedergelassen hatte, um wie sie am Fenster zu sitzen. Dabei bemerkte er, dass auch der Mann gelbe, provisorische Stiefel trug, die seinem karnevalesken Aussehen zusätzlich etwas Skurriles verliehen. Seine Frau musste gleichfalls mit provisorischen Stiefeln ausgerüstet sein, schloss er, und er dachte an zwei giftige Blumen in gelben Porzellanvasen. Von jedem der Palazzi ging ein romantisches Flair aus, das in ihm den Wunsch erzeugte, die Zeit überwinden zu können. Er befand sich, hatte er kurz das Gefühl, zugleich in der Gegenwart und in der Vergangenheit. Da er diesmal mit bestimmten Absichten in die Lagunenstadt gekommen war und Erwartungen daran knüpfte, beschäftigte er sich überdies auch mit der Zukunft. Die Palazzi, die ebenfalls Vergangenes und Gegenwärtiges repräsentierten und auch noch in Zukunft existieren würden, zumindest solange es die Stadt noch gab, erschienen ihm jetzt wie Beweise seiner Gedanken. Er hatte die Empfindung der Zeitlosigkeit schon als Kind gesucht und zuerst im Kasperltheater und dann im Theater und schließlich in der Oper verspürt. Auf eine unbestimmte Weise, für die er sich ihrer Lächerlichkeit wegen schämte, war ihm sein eigenes Leben zu einer endlosen Oper geworden, mit Unterbühne, Schnürboden, Publikum, Dirigenten, Darstellern und nicht zuletzt seinem Souffleurkasten, der ein Taxi, ein Eisenbahnabteil, ein Vaporetto oder ein Zimmer sein konnte. Aber er fürchtete, eines Tages zum Gespött zu werden, wenn er sich nicht gegen die Vorstellung wehrte. Er lächelte. Wenn er schon Teil einer riesigen Opernaufführung war, dann höchstens wie ein unsichtbares Sauerstoffatom in der Luft, sagte er sich. Die Gondeln am Ufer schwebten im Acqua alta wie vergessenes Riesenspielzeug, und der Canal Grande war nur wenig befahren.
An der nächsten Station stiegen zwei Männer mit Gummistiefeln ein, die bis zur Hüfte reichten. Sie trugen Anoraks, Jeans und Aktentaschen und gaben der Fahrt dadurch einen Anstrich von Alltäglichkeit. Ihre Gesichter drückten Gleichgültigkeit aus, als handle es sich bei allem, was geschah, um längst Gewohntes, und als sich einer von ihnen setzte, eine Zeitung aus seiner Ledertasche nahm und zu lesen begann, fiel Aldrian der Fischmarkt ein, den er überqueren musste, um zum Haus seines Bruders und dessen Laden »Jurassic Park« zu gelangen. Die Auslagen des Geschäfts waren mit Skelettschädeln von Tieren dekoriert - zuletzt von einem Krokodil, einem Sägefisch und einem Affen - sowie den Gehäusen von Meeresschnecken, Muscheln und kostbarem Perlenschmuck. Sie sahen bizarr, aber auf eine raffinierte Weise elegant und seriös aus. Natürlich verkaufte Jakob auch die Knochenschädel, Muscheln und sogar seltene kostbare Schmetterlinge und Kristalle, doch den größten Gewinn erzielte er mit den Perlen aus China. Das hatte er von ihm öfters gehört. Aldrian hatte keine Ahnung, wie die Geschäfte abliefen. Selten begegnete er Käufern im Laden, meistens nur Neugierigen, die sich umschauten. Von weitem sah er jetzt die Rialtobrücke und einige Gondeln mit asiatischen Besuchern, die jeden Quadratzentimeter der Stadt fotografierten. Wie alle Touristen hasste Aldrian die übrigen Touristen, besonders jene, die sich auf der Suche nach Romantik mit Gondeln durch die Kanäle fahren ließen. Sie glaubten wohl, das wahre Venedig zu erfahren. Aber das wahre Venedig gab es nicht mehr, dachte Aldrian schadenfroh.
Auf der Rialtobrücke war niemand zu sehen, auch sonst schien alles langsam im Meerwasser unterzugehen. Und da er vom Vaporetto aus nur die Rückseiten der Geschäfte auf der Rialtobrücke erkennen konnte, war er unsicher, ob die Läden...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.