Schweitzer Fachinformationen
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Ein Trainer war das Letzte, was Jennifer brauchte. Sie hatte schon einen. Keinen Donnerstagsläufer, sondern einen Profi, um den der halbe Verband sie beneidete. Cyrus Devon. Europameister über zehntausend Meter, Coach dreier Olympiasieger und einer Vize-Weltmeisterin. »Wenn der dich nicht in die Gänge kriegt, dann ist Hopfen und Malz verloren«, hatte Mike, der Vorsitzende ihrer Sportabteilung, gesagt.
Seither versuchte der Wundertrainer sich an der verklemmten Gangschaltung in Jennifers Laufstil. Dass sie noch immer durch Parks lief, machte ihn rasend. »Wozu soll das gut sein? Wenn du auf Crosslauf umsatteln willst, sag's mir, denn dann steige ich aus.«
»Crosslauf ist keine olympische Disziplin«, sagte Jennifer.
»Den Größenwahn lass stecken.« Cyrus spuckte auf den Boden. »Und hör auf, mit deiner Rennerei im Park Kraft zu verschleudern.«
Sie zur Qualifikation für Helsinki zu melden war in seinen Augen sinnlos: »Nicht über zehntausend Meter, Jen, und schon gar nicht in diesem Jahr. Da gibt jetzt jeder alles, weil er bei Olympia im eigenen Land antreten will. Du hättest nicht die Spur einer Chance, warum sollten wir uns also die Mühe machen?«
Weil ich auch bei Olympia im eigenen Land antreten will, hätte Jennifer antworten können. Weil ich davon träume, seit ich mit sieben Jahren eine Stoppuhr geklaut habe, um vor der Schule um den Häuserblock zu laufen. Sie zog es vor, zu schweigen und sich eine weitere Bemerkung über Größenwahn zu ersparen.
»Ja, wenn du dich auf fünftausend Meter verlegen würdest«, setzte Cyrus seine Predigt fort. »Über fünftausend könntest du ganz vorn mitlaufen, und da bekämen wir auch deine Nerven in den Griff. Aber du willst ja nicht. Du hast dir etwas in deinen sturen Schädel gesetzt, und ob es vernünftig ist, schert dich einen Dreck.«
Weil es in meinem sturen Schädel schon so lange sitzt, dachte Jennifer.
Sie konnte keinen Gregory O'Reilly brauchen. Vielmehr musste sie Cyrus beweisen, dass bei ihr nicht mehr als ein Hebel klemmte. Dass sie durch Parks lief wie die personifizierte Unaufhaltsamkeit und nur einen Weg finden musste, den Hebel zu lösen, damit sie im Stadion vor tausend Menschen das Gleiche tat. Ein rothaariger Leichtathletik-Freak, der sich im Lodenmantel zum Trainer aufschwang, war wirklich das Letzte, was sie brauchte.
Es schüttete inzwischen wie aus Eimern. Vom Tor des Parks bis zu dem Haus, in dem sie wohnte, brauchte Jennifer nur fünf Minuten, aber als sie die Stufen zur Haustür emporlief, war sie bis auf die Haut durchnässt. Das Haus machte etwas her. An seinem schäbigen Fin-de-Siècle-Schick war nie herumgebessert worden. Zwei nutzlose Säulen taten so, als stützten sie ein Vordach, und die Balustrade des Balkons war aus Kavala-Marmor. Kallimarmaro, so nannte Jennifers Stiefvater den Balkon, um ihr eine Freude zu machen. Das war der Name des Athener Sportstadions, in dem die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit stattgefunden hatten.
Das Haus lag eingebettet in eine geradezu idyllische Siedlung, die mit einem Feinkostgeschäft, einem Biobäcker und einer sardischen Osteria wie eine freundliche Farce mitten in Londons Problembezirk prangte. Village nannten die Bewohner diese paar Straßenzüge, als hätte ihr Dorf mit der Riesenstadt nichts zu tun. Die Häuser hier waren für großbürgerliche Haushalte gebaut worden und mindestens hundert Jahre alt, sie waren hoch und schmalbrüstig und machten auf ihre behäbige Weise durchaus etwas her.
Das Schild über der Tür passte dazu. Keine Nummer, sondern ein Name: Casa Feldman. Mommas Idee. Abe Feldman, Jennifers Stiefvater, war derlei Imponiergehabe peinlich, aber er war nicht der Mann, der seiner Frau einen Wunsch abschlug.
Ehe Jennifer ihren Schlüssel aus der Trainingsjacke gefingert hatte, flog die Tür auf, und eine Handvoll Mitglieder des Feldman-Haushalts schwappte ihr entgegen. Zac, Phil und Giora, ihre drei kleinen Halbbrüder. Bellini, der Golden Retriever. Und Stasiek, der Au-pair-Junge aus Krakau. »Jenny, Jenny, wir sind zu spät dran für die Schule, und Giora muss ein Gedicht aufsagen!«
Sie waren an den meisten Tagen zu spät dran für die Schule. Ihre Mutter, die Helen hieß, ließ sich von aller Welt Momma nennen, weil sie die Empfängnis von Kindern als Krönung ihrer Weiblichkeit erlebte, aber sie war zu deren Aufzucht gänzlich ungeeignet. Statt eines Au-pair-Mädchens hatte sie unbedingt einen jungen Mann haben wollen, weil ihre Aromatherapeutin ihr erklärt hatte, das sei der Entwicklung von Söhnen zuträglich. Dass Stasiek weder einen Wecker noch das geringste Gefühl für Verantwortung besaß, war daneben zweitrangig.
Hinter Stasiek stakste auf hohen Absätzen Rachel, Abe Feldmans Schwester, ein weiteres gestrandetes Mitglied seiner Familie. Abe sammelte menschliches Strandgut wie andere Leute Bierdeckel. Rachel reckte sich, soweit ihr Schuhwerk es erlaubte, und küsste Jennifer auf die Wange. »Ach, Jenny, du Fleißige. Schon wieder so früh auf den Beinen, und dann auch noch bei solchem Hundewetter!«
Rachel selbst war nur auf den Beinen, wenn ein Termin sie zwang. Sie sammelte Material für eine Biographie ihrer Familie. Die Feldman-Saga. Das Material sammelte sie schon, solange Jennifer denken konnte, aber die Recherche verlieh ihrem Leben zumindest einen Ansatz von Struktur.
Die Horde drängte sich an Jennifer vorbei und tollte im Regen den Gartenweg hinunter. Sie musste ihnen hinterherschreien: »He, ihr Chaoten, fängt einer von euch vielleicht den Hund ein?«
Bellini war schon auf der Fahrbahn, wo er sich hinhockte, um sein Geschäft zu verrichten, ehe Zac ihn am Halsband erwischte. Jennifer, die weder Bruder noch Hund verlieren wollte, rannte los. »Komm runter von der Straße, Zac! Stasiek, behalt diese Kinder gefälligst im Auge - und nimm einen Schirm mit, um Himmels willen!«
»Werd mir geben Mühe, Miss Jenny!« Stasiek schlug grinsend die Hacken zusammen. »Haben wir gesiegt?«
Das fragte er sie immer. Er nannte sie seine Läuferin von Marathon. »Zumindest haben wir überlebt«, sagte sie. »Jetzt macht aber, dass ihr weiterkommt.«
Sie nahm Zac den Hund ab und zog ihn hinter sich ins Haus. Als er sich im Windfang die Tropfen aus dem Fell schüttelte, war sie versucht, das Gleiche zu tun.
»Jenny! Du armes Schätzelchen bist ja völlig verrückt.« Aus dem Raum, den sie Morgenzimmer nannte, tapste Momma und streckte ihrer Tochter die Arme entgegen. »Kannst du denn nicht mal bei dem Regen zu Hause bleiben, wie es normale Menschen tun?«
Momma gehörte zur den Frauen, die selbst mit dem Kopf voller Lockenwickler und dem Speck der Wechseljahre um die Taille noch aussahen, als hätten sie die Sünde erfunden. Wie meist trug sie einen flattrigen Hauch, den Jennifers nasse Kleidung komplett durchsichtig machen würde. Sie war eine dieser Mütter, die nie erwachsen, sondern irgendwann zu Kindern ihrer Kinder werden. Aufseufzend öffnete Jennifer die Arme. Das Unerträglichste an Momma war, dass man sein Herz hätte zwangsversteigern müssen, um sie nicht zu lieben.
»Ich bin nicht aus Zucker, Momma.«
»Aber du hast nicht einmal einen Regenmantel an!«
»Erzähl mir nicht, du wüsstest, welches deiner Kinder einen besitzt. Deine Söhne im Grundschulalter sind gerade ohne losgezogen. Und ich bin dreiundzwanzig. Um mich zu bemuttern, ist es zu spät.«
»Ach, Jenny.«
»Ach, Momma.« Jennifer schob sie sacht beiseite, um endlich ins Bad und an ein Handtuch zu kommen.
»Was hast du nur davon, schneller als zehn andere Verrückte fünfundzwanzig Mal um ein Stadion zu laufen?«, stöhnte Momma hinter ihr her. »Ich werde nie begreifen, woher ein Kind von mir solch brennenden Ehrgeiz hat.«
Jennifer musste lachen. »Das fiele mir an deiner Stelle auch schwer.«
Zu Mommas nettesten Eigenschaften gehörte es, dass sie nie beleidigt war. Eifrig nickte sie mit ihrem halb aufgewickelten Lockenkopf. »Mir genügt es, zum Inventar der Feldman-Saga zu gehören. Ich brauche nicht noch neue Kapitel beizutragen.«
Die Feldman-Saga, so nannte Momma die Geschichte der Familie, in die sie eingeheiratet hatte. Zweimal. Zuerst den schönen, schlimmen Andy, der ihr eine Tochter geschenkt hatte und sich drei Jahre später an einer Leitplanke den Schädel zertrümmerte. Und dann den guten, alten Abe, der die Scherben aufgesammelt hatte.
»Ich gehe duschen, Momma.«
»Wickle dich hinterher aber schön warm ein. Willst du Kaffee?«
»Wer hat den gemacht - du oder Rachel?«
»Abe.«
»Dann gern.«
»Abe würde dich im Übrigen gern sprechen, wenn es dir passt.«
»Mit Abe sprechen passt mir immer.«
»Ja, weil er dir nicht wegen dieser Lauferei in den Ohren liegt«, meinte ihre Mutter. »Weißt du, was ich manchmal denke?«
Ich wäre froh, wenn ich es nicht wissen müsste, dachte Jennifer.
»Du müsstest mal jemanden kennenlernen. Einen Herzliebsten. So was lenkt doch ab.«
»Ich habe jemanden kennengelernt«, hörte Jennifer sich sagen und erschrak.
»Tatsächlich? Oh, Jenny! Aber wo denn?«
Im Park. Beim Laufen. Einen Iren mit Haar wie ein Feuermelder, der Frauen anmacht, indem er sich ihnen als Trainer andient.
»Vergiss es«, sagte sie. »Als Herzliebster taugt der nicht.«
»Das habe ich befürchtet.« Momma legte die Stirn in Falten. »Im Übrigen weiß ich, von wem du deine Besessenheit hast. Von Grandma Alberta. Als die Witwe wurde, war sie jünger als ich jetzt, und danach hat sie nie wieder einen Herzliebsten gehabt. Hatte nur noch ihre Stiftung im Kopf. Für mich wär das nichts.«
»Ich weiß«, erwiderte Jennifer liebevoll und zog die Tür des Badezimmers...
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