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Die Klein'sche Flasche
Als wissenschaftliche Hilfskraft am Heimito-von-Doderer-Institut, das den Vorlass - Manuskripte, Entwürfe, Notizbücher und Fotografien - des Schriftstellers Philipp Artner gekauft hatte, fuhr ich am Tag, an dem sich das Unglück ereignete, zu dessen Wohnung Am Heumarkt. Artner hatte gerade einen Roman beendet, wie er in einer E-Mail an unser Institut geschrieben hatte, der »die sichtbare und unsichtbare Wirklichkeit - wie die Klein'sche Flasche - zugleich außen und innen« abbilde, weshalb man nie wisse, welche der beiden Seiten die äußere und welche die innere sei.
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Da ich die Klein'sche Flasche damals nicht kannte, war ich auf das Gespräch gespannt. Ich hegte aber die Befürchtung, dass es ein vorzeitiges und unangenehmes Ende finden könnte, denn Artner geriet, wie ich wusste, über kurz oder lang mit jedem in Streit. Er hatte mit seinen Freunden gebrochen, seinen Nachbarn, seinem Verleger, mit Journalisten und Hausärzten und nicht zuletzt mit dem Leiter unseres Instituts, Dr. Balthasar, von dem er sich nicht verstanden und nicht genug geschätzt fühlte, worin er vielleicht nicht unrecht hatte.
»I-I-Ich werde s-s-sonst m-mit n-n-niemandem sprechen außer mit I-I-Ihnen, H-Herr Swinden«, war die Redewendung, mit der Artner jedes Gespräch am Telefon stotternd begann, dabei hatte ich ihn als wissenschaftliche Hilfskraft in den zwei Jahren meiner Tätigkeit nie zu Gesicht bekommen. Im Frühling, Sommer und Herbst verschwand er in seinem Haus in St. Johann in der Südsteiermark, wo er zurückgezogen und ohne Telefon an seinen Romanen und Gedichten schrieb und keine Besucher empfing. Wenn er seine Arbeit unterbrach, fuhr er zu seiner Frau nach Wien, blieb dort für ein paar Tage, versorgte sich mit Büchern und dem Notwendigsten und zog sich wieder in die Abgeschiedenheit zurück. Vermutlich bezeichnete er sein Dasein in der Welt der Sprache, der erfundenen Figuren und Geschehnisse, der unsichtbaren Wirklichkeit mithin, als das eigentliche Leben, dachte ich.
Als ich an diesem Tag gegen 16 Uhr in der Reisnerstraße eine Parklücke suchte und endlich ausstieg, verstand ich augenblicklich, dass ich an einem Unglücksort angekommen war, denn es stank nach Rauch, und ein Folgetonhorn gab ohne Unterlass Warnsignale von sich. Autos hupten, und Passanten eilten in alle Richtungen davon. Andere bildeten Gruppen, in denen sie abwechselnd zu einem Gebäude hinstarrten und miteinander sprachen.
Ich lief in die Beatrixgasse und blieb stehen: Schwarzer Rauch zog über das Dach des Gebäudekomplexes, in dem Artner wohnte. Die Anlage war von zwei Seiten begehbar, von der Beatrixgasse aus, über den zweiten Hof, und vom Heumarkt her, gegenüber dem Stadtpark, über den ersten Hof. Beide Höfe waren mit einem Durchgang verbunden. Darüber hatte man mich vorher im Institut aufgeklärt. Der Rauch wurde immer dichter, Männer in Feuerwehr- und Polizeiuniformen liefen ein und aus, und die Beatrixgasse war gleich hinter der Kurve von Einsatzfahrzeugen verstellt. Im stickigen Rauch eilte ich zum Heumarkt, aber dort herrschte ein noch größeres Chaos. Sanitätswagen mit blinkenden Blaulichtern, Polizei- und Feuerwehrfahrzeuge blockierten auch dort den Verkehr. Ich erfuhr, dass nach einer ungeheuren Gasexplosion infolge von Renovierungsarbeiten ein Brand ausgebrochen war, der auf die umliegenden Häuser überzugreifen drohte. Der Polizeibeamte wollte mich zuerst nicht durch die Absperrung lassen, erst als ich behauptete, ich sei ein Bruder des Schriftstellers Artner, der hier wohne, hob er zögernd das gelbe Kunststoffband, ermahnte mich aber, die Arbeiten nicht zu behindern. Im langgestreckten Flur hinter dem Eingang waren Schläuche verlegt, und zwei Feuerwehrmänner mit Helmen liefen mir entgegen und schrien mich an, der gesamte Komplex drohe in die Luft zu fliegen. Ich kam mir wie verrückt geworden vor, als ich zurückschrie, mein Bruder wohne hier. »Sie können nichts tun!«, schrie der andere Feuerwehrmann. Zu meinem Entsetzen sah ich, dass im ersten und zweiten Stock auf der linken Hälfte des Gebäudes, in der vermutlich Philipp Artner wohnte, ein riesiges Stück der Wand fehlte. Die ganze Fensterreihe war weggerissen, schwarzer Rauch und Flammen qualmten und züngelten daraus hervor, und Feuerwehrmänner auf ausgezogenen Leitern versuchten mit Schläuchen den Brand einzudämmen. Einige evakuierte Bewohner wurden gerade von der Polizei aus den Höfen auf die Straße geführt und ein Mann und eine Frau von Sanitätsgehilfen auf Bahren eilig hinausgetragen. Artner war nicht darunter, aber von der Beschreibung der Gebäude her, die ich im Institut erhalte hatte, ahnte ich allmählich, dass seine Wohnung sich genau dort befunden haben musste, wo jetzt ein großer Teil der Wand fehlte. Gleichzeitig bemerkte ich, dass aus der dichten Rauchwolke Papierfetzen wie Schneeflocken zu Boden schwebten, bedruckt und beschrieben, aus Büchern, aus Zeitungen und auch kleine Fragmente von Computerausdrucken. Ich blickte auf den Boden, der schon übersät war mit glosenden, flammenden und halbverkohlten Papierteilchen. Sie wirbelten im Luftzug auf, stoben auseinander und fielen wieder in sich zusammen. Ich bückte mich, hob einige Schnitzel auf und erkannte darauf die Handschrift Artners. Die Worte, die ich zuerst las, waren »stotternde Landzunge«. Natürlich steckte ich das schwarz versengte Papierchen ein und spürte in diesem Moment intuitiv, dass sich meine Befürchtungen bewahrheiteten. Ich suchte nach weiteren Papierschnitzeln mit der Handschrift Artners, bis mir ein Polizist von weitem befahl, »das Areal«, wie er das verwüstete Gebäude und den Hof bezeichnete, sofort zu verlassen.
Zu Hause legte ich die Schnitzel auf meinen Schreibtisch und las: »Verworren« . »Toten« . »Gedanken« . »Atem« . »Postkästen« . »Wolke« . »glühende« . »Zeitung« . »kristalline« . »Kindergebet« . »Lügen« . »Auge« . »Medizinfläschchen« . »Milchzähne« . »blutigen Brief« . »zerstörte Geometrie« . »meines Kopfes« . »Ekzeme« . »Sternenmusik« . »Bienenkorb« . »Eis« . »Staub« . »Wirklichkeit« . »Tapete«.
Die einzelnen Papierschnitzel passten nicht zueinander, natürlich fehlten etliche Wörter, aber welche?
Schließlich rekonstruierte ich den Text mühsam. Bei »verworren« konnte ein »e« fehlen, also »verworrene«, und das folgende Wort war wohl »Gedanken«. Wahrscheinlich war das der Titel des Gedichts »Verworrene Gedanken«. Ich wusste aus verschiedenen Büchern Artners, dass er eine surreale Poesie anstrebte. Je mehr ich mich damit beschäftigte, desto plausibler schien mir mein Vorgehen, und schließlich gelang es mir nach mehreren vergeblichen Versuchen, während der ich immer wieder ähnliche Stellen aus seinem gedruckten Werk las, das Prosagedicht - zumindest in Form einer Variation - sichtbar zu machen:
Zeitungen voller Lügen.
Ihre Exzesse
Verschwinden in der zerstörten Geometrie der Wirklichkeit -
Eine Tapete aus blutigen Briefen.
Glühende Postkästen.
Stotternde Landzungen.
Medizinfläschchen voller Sternenmusik.
Kindergebete aus klappernden Milchzähnen.
Der Atem der Toten.
Meine Augen verschließen den Bienenkorb meines Kopfes,
In dem eine Wolke aus Eis und
Staub alles verwüstet.
Ich war mir natürlich im Klaren, dass ein großer Teil des Gedichts verloren gegangen war, aber es hatte mir ohnedies nur vorgeschwebt, aus den Fragmenten etwas vom Geist Artners sichtbar zu machen.
Das angesprochene Romanmanuskript war, wie sich herausstellte, nicht mehr auffindbar. Und Artner, erfuhr ich weiter, war von der Explosion, die von der Küche ihren Ausgang genommen hatte, zu Asche pulverisiert worden.
Erst ein Jahr später wollte die Witwe mit uns darüber sprechen. Wir hatten vor, im »geheimen Haus« auf dem Land nach den Fotografien, Manuskripten und Aufzeichnungen zu suchen, die Artner dort vielleicht hinterlassen hatte. Unser Institutsleiter, Dr. Balthasar, hoffte sogar, dass wir eine Kopie des verloren geglaubten Manuskripts finden könnten. Die Witwe des Schriftstellers hatte, wie ich bei meinem Besuch feststellte, den Tod ihres Mannes noch immer nicht überwunden, sie weigerte sich überhaupt, ihn zur Kenntnis zu nehmen. »Nein«, sagte sie zu mir, sie wolle das Haus auf dem Land nicht betreten, er habe niemandem gestattet, ihn bei der Arbeit zu stören. Einen Schlüssel besaß sie ohnehin nicht. Ich verstand sie immer weniger, je länger ich mit ihr sprach. Sie war praktisch veranlagt, ihr Auftreten war selbstsicher, und sie machte nicht den Eindruck einer Hilflosen. »Wissen Sie«, erklärte sie mir, »Philipp war so anders als ich, dass ich es bald aufgegeben habe, ihn verstehen zu wollen - erst von da an habe ich ihn paradoxerweise verstanden. Er lebte immer auch in einer anderen Welt, zu der ich keinen Zugang hatte. Aber sobald er diese Welt wieder verließ, war ich die Erste, die er aufsuchte. Philipp machte, auch wenn er gut gelaunt war, einen verlorenen Eindruck. Einen wirklichen Freund hatte er nicht. Sobald ihn jemand verletzte, zog er sich zurück und verzieh nicht. >Ich verzeihe mir selbst nicht<, sagte er einmal, als ich die Rede darauf brachte.« Zuletzt empfahl sie mir, mich an eine Frau Auer zu wenden, die an der Ortseinfahrt von St. Johann wohne und den Schlüssel zum Haus verwalte. Allerdings besitze die Frau kein Telefon.
An dem Tag, an dem ich ohne einen Schlüssel zu Artners Haus und ohne einen Menschen in St. Johann zu...
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