Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Der Wagen setzte ihn an der Ecke vor dem Haupteingang zur Aristoteles-Universität in der Panepistimiou ab. Es war fünf Minuten vor zehn, am 1. Mai 199.. In der Nacht zuvor hatte Gartner von einem Film geträumt, den er vor vielen Jahren gesehen hatte. Vielleicht musterte er deshalb das Areal durch die Windschutzscheibe wie eine Kinoleinwand. Das von Betongebäuden umgebene Gelände lag verlassen da, und der kalte Regen und die Windstöße draußen ließen ihn schon jetzt frösteln.
Er bat den Fahrer, auf ihn zu warten, bis er zurückkehren würde. Erst dann stieg er aus. Der Platz, über den er schritt, ähnelte mit seinen Haufen Mörtelresten und verrosteten Eisengittern einer Baustelle. Er suchte die Wegbeschreibung in seiner Hosentasche. Dabei berührte er das Medaillon, das er am Tag seiner Ankunft in Thessaloniki von einem Straßenhändler gekauft hatte, ein Stück Bernstein mit einer darin eingeschlossenen Heuschrecke. Aber das Medaillon war natürlich aus Kunststoff, und nur das Insekt war echt. Er wäre bestimmt nicht darauf hereingefallen, wenn er nicht betrunken gewesen wäre. Gartner vergewisserte sich, daß er das Paläontologische Institut vor sich hatte. Plötzlich wurde er von jemandem angesprochen. Er blickte sich irritiert um: Hinter einem Holzverschlag stand ein Mann, der ihn, eine Zigarette in der Hand, um Feuer bat. Gartner ging mit einer bedauernden Geste weiter, aber er war beunruhigt. Er hatte es doch vermeiden wollen, gesehen zu werden, dachte er, als er auf das mit Bildern und Sprüchen besprayte Haus zuschritt. In der Vorhalle war es vollkommen still. Die schmalen, verschmutzten Gänge waren leer, im ersten Stock wies ein Pfeil zum Institut, in dem Dr. Bosic arbeitete. Vor der unversperrten Tür hingen Schaukästen mit Fossilien, Muscheln, Steinen und kleinen Tierplastiken: ein Elefant, ein Nashorn, ein Gürteltier. Gartner fiel jetzt wieder die Heuschrecke in seiner Hosentasche ein.
Noch vor einer Woche hatte er zu den angesehensten Redakteuren seiner Zeitung gehört, aber ein Artikel, in dem er einen Politiker beschuldigt hatte, von einem illegalen Waffengeschäft gewußt zu haben, ohne dies aber juristisch beweisen zu können, hatte nicht nur seinem, sondern auch dem Ruf der Zeitung geschadet, weshalb man ihn kurzfristig zum Wochenend-Journal strafversetzte, einem Tummelplatz für freie Mitarbeiter, gescheiterte und vor der Pensionierung stehende Kollegen. Der Chefredakteur, der ihm eine Reisereportage zur Mönchsrepublik Athos zuteilte, ahnte allerdings nicht, daß Gartner mit diesem Auftrag eigene Absichten verband, für die er die Hilfe von Dr. Bosic benötigte. Er wollte den serbischen Dichter Goran R. im Kloster Chilandar auf dem Berg Athos ausfindig machen. R. hielt sich dort angeblich versteckt, weil er im Jugoslawienkrieg Augenzeuge des Massakers von S. geworden war, bei dem sechstausend bosnische Moslems ermordet worden waren. Dr. Bosic war vor zwanzig Jahren Novize im Kloster Chilandar gewesen. Der gebürtige Serbe war Assistent am Paläontologischen Institut Thessaloniki, in dem sich der älteste, nahezu vollständig erhaltene Schädel eines Europäers befindet. Also konnte Gartner ihn treffen, ohne Verdacht zu erregen. Natürlich hatte er Dr. Bosic über einen Mittelsmann, einen Literaturprofessor und Übersetzer, von seinen wirklichen Absichten informiert und sich mit ihm geeinigt, aber Dr. Bosic, von dem Gartner nur eine Fotografie gesehen hatte, war bei aller Höflichkeit ein mißtrauischer Mann und behandelte Gartner mit größter Vorsicht.
Der Flur führte zu einem kleinen Studienmuseum mit verschiedenen Skelettfunden. Die meisten anthropologischen Präparate in der Vitrine waren aus Knochensplittern zusammengesetzt - Beweise für die akribische Forschungsarbeit von Dr. Bosic. Gartner lauschte und beschloß, an Ort und Stelle Notizen für seine Geschichte zu machen. Er holte seine Pocketkamera heraus und fotografierte die braunen altmodischen Vitrinen, aus denen ihn die leeren Augenhöhlen der Tierschädel anstarrten. In Kisten lagen verschiedene in Packpapier eingewickelte Schachteln, Gartner vermutete darin weitere Knochenstücke. Er widmete sich dann den schwarzgerahmten Fossilien an den Wänden, den versteinerten Fischen und Vögeln, die ihn zusammen mit den farbigen Drucken von Sauriern und Urtieren an Bücher seiner Kindheit erinnerten.
Gartner öffnete die Tür zu einem weiteren Raum. Dr. Bosic hatte offenbar schon alles vorbereitet: Auf dem abgenutzten Metallschreibtisch stand ein Aluminiumkoffer, daneben, in eine Schaumgummimanschette gebettet, der pergamentgelbe Skelettkopf des Archäanthropus, dessen Alter beinahe 800 000 Jahre betrug. Gartner hätte ihn für einen Affenschädel gehalten, wegen der starken Überaugenwülste, der fliehenden Stirn und der großen Nasenöffnung, doch hatte er gehört, daß diese Merkmale auch beim Neandertaler und beim stammesgeschichtlich älteren Homo erectus zu finden sind. Er hatte sich vom Wiener Anthropologen Professor Seidler in die komplexe Materie einführen lassen, denn die Reiseschilderung, sofern er sie wirklich verfassen würde, sollte mit diesem Kopf beginnen. Er schob den Schädel gegen das Fensterlicht, fotografierte ihn, und wunderte sich insgeheim, weshalb Dr. Bosic nicht erschien. Gleichzeitig registrierte er, daß die Tür zum Nebenraum durch einen Keil am Zufallen gehindert war. An der Wand gegenüber hing eine geologische Landkarte von Griechenland in zarten Abendwolkenfarben, die Gartner, wie es seine Gewohnheit war, ebenfalls aufnahm. Er wollte gerade seine Kamera einstecken, als er hastige Schritte und hierauf eine Tür in das Schloß fallen hörte. Instinktiv wußte er, daß etwas Ungewöhnliches passierte.
Er bewegte sich nicht. Leise klatschten Regentropfen gegen die Fensterscheibe, es kam Gartner wie eine Entdeckung vor, daß sie, unbeeindruckt von dem, was geschah, durchsichtige Rinnspuren auf dem Glas hinterließen. Der automatische Objektivschutz seiner Kamera schloß sich mit einem kaum vernehmbaren Surren, während er den Namen von Dr. Bosic in die Stille rief. Seine Stimme versickerte ohne Echo. Noch einmal rief er den Namen, aber tatsächlich schien ihn niemand zu hören. Er trat in den Flur und erschrak: im Glas einer Vitrine sah er jemanden auf sich zukommen. Die Bewegung der Gestalt hielt inne, und erst jetzt erkannte er sie als seine eigene. Er atmete leise zischend die Luft ein. Hinter der Scheibe des Schaukastens lagen asselhafte Trilobiten und Querschnitte großer Gehäuse von Ammoniten, die ihm wie Modelle von turbinenförmigen Maschinen vorkamen.
Seit seiner Kindheit war ihm klar, daß ihn ein Universum der Gleichgültigkeit umgab, in dem alles nur vorläufig existierte. Ihm fielen die nebensächlichsten Details besonders dann auf, wenn eine Nachricht ihn niederschmetterte, er in Gefahr war oder wenn er vor einer schweren Entscheidung stand. Die Einzelheiten erinnerten ihn immer an den Tod, der ihn häufig beschäftigte wie auch an diesem Morgen, als er beim Erwachen nicht gewußt hatte, wo er sich befand.
Am Ende des Flures entdeckte Gartner eine halboffene Tür, dahinter ein kleines Büro. Er näherte sich vorsichtig und sah an einem Schreibtisch eine massige Gestalt, deren Kopf auf die Brust gefallen war. Der korpulente Mann mit schütterem Haar und brauner Hornbrille schien zu schlafen. Sein Hemd, soweit es nicht durch ein Jackett verdeckt war, war von Blut tiefrot gefärbt. Es hatte auch auf der eleganten, eierschalenfarbenen Sommerjacke dunkle Flecken hinterlassen. Ein Ohr war verstümmelt, und von dort lief ein dünner Blutfaden in den Kragen. Dr. Bosic rührte sich nicht. Gartner bückte sich, blickte in sein Gesicht und schaute in große, braune Augen, die über eine andere Welt staunten. Quer über den Hals verlief ein klaffender, blutiger Schnitt. Nachdem Dr. Bosic durch einen Schlag, der offenbar ein Ohr getroffen hatte, betäubt worden war, hatte man ihm die Kehle durchgeschnitten, dachte Gartner. Er blieb stehen und bemühte sich, nichts zu übersehen. Neben dem Löschpapier lag ein Militärmesser mit einem grünen Kunststoffgriff und einer scharfen, blutigen Klinge. Der Mörder hatte den Wissenschaftler möglicherweise in dem Moment getötet, als Gartner den Schädel fotografierte, überlegte er weiter. Jedenfalls hatte er hierauf die Schritte und das Geräusch der ins Schloß fallenden Türe gehört.
Gartner ging zurück in den Flur und sah schon von weitem, daß die Institutstür innen keine Klinke, sondern nur einen Knopf aufwies - er war mit dem Ermordeten eingeschlossen. Er versuchte die Tür trotzdem durch das Drehen des Knopfes zu öffnen, was, erwartungsgemäß, vergeblich war. Resigniert kehrte er in das Büro zurück. Gartner kannte den Anblick von Leichen aus der kurzen Zeit seines Journaldienstes im Lokalteil und später vom Jugoslawienkrieg, deshalb wohl blieb er gefaßt.
Dr. Bosic war vermutlich vom Geheimdienst ermordet worden, um zu verhindern, daß er mit ihm, Gartner, zusammenarbeitete, dachte er weiter. Er hatte immer damit gerechnet und in seinem tiefsten Inneren sogar gehofft, eines Tages in einen schwierigen, gefährlichen Fall verwickelt zu werden. Nun aber befürchtete er insgeheim, der Situation nicht gewachsen zu sein. Dr. Bosic hockte da. Das Blut tropfte von seiner Hemdbrust langsam auf die Schreibtischplatte. An der Wand hinter seinem Kopf hing ein Farbdruck mit Delphinen und Sauropoden im blauen Gewässer, ein behäbiger, tonnenschwerer Iguanodon fraß Laub von Bäumen, während ein Rudel räuberischer Deinonychi gerade hinter einem Hügel zum Vorschein kam. Das Bild wirkte wie...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.