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Die Fahrt nach Würzburg im Alter von zweieinhalb Jahren war seine erste Erinnerung und damit auch seine wahre Geburt.
Er hatte die Geschichte so oft gehört, dass er nicht mehr wusste, was er sich selbst gemerkt und was er zu den Erzählungen dazufantasiert hatte.
Sein Vater, hatte ihm seine Mutter kurz vor ihrem Tod noch in einem Brief geschrieben, sei in einem Lazarett im unterfränkischen Mainbernheim als Stabsarzt stationiert gewesen und habe sie, da die Russen nach Österreich vorstießen, gedrängt, von Graz zu ihm nach Deutschland zu kommen, wo die Amerikaner erwartet wurden. Seine Besorgnis habe er mit dem schlechten Ruf der russischen Soldaten als Vergewaltiger begründet, und mit seiner und ihrer Mitgliedschaft bei der NSDAP, für die er bei den Amerikanern mehr Gnade erhoffte.
Am 19. Januar 1945 sei seine Mutter mit ihm und seinen beiden Brüdern Paul, damals vier Jahre alt, und Helmut, den sie im November des Vorjahres zur Welt gebracht hatte, aufgebrochen. Sie seien jedoch nicht bis zum Bahnhof gekommen, da die Stadt kurz nachdem sie das Haus verlassen hatten bombardiert worden sei und sie im Schlossbergstollen hatten Zuflucht nehmen müssen, wo sie mehrere Stunden auf das Ende des Angriffes warteten. Durch die Annenstraße, in der die meisten Häuser getroffen waren und brannten, habe seine Mutter mit ihren Kindern und zwei Reisekoffern sodann den Bahnhof erreicht, es hätte jedoch die ganze Nacht gedauert, bis die Eisenbahnschienen wieder repariert waren, weshalb sie in der zugigen Halle und in Befürchtung eines weiteren Bombenangriffs den Morgen abgewartet habe. Erst dann sei der Zug, der sie nach München bringen sollte, eingefahren. Man habe sie jedoch mit ihren Kindern nicht einsteigen lassen wollen, da es sich um keine reguläre Verbindung, sondern um einen Verwundetentransport gehandelt habe, dessen Waggons mit einer weißen Kreisfläche und dem roten Kreuz gekennzeichnet waren. Trotzdem sei es ihr gelungen, in einem Abteil Platz zu nehmen. Als sie ein wütender Feldwebel, der ihr vom Bahnsteig gefolgt war, wieder hinausgewiesen habe, hätte sie sich an einen Offizier gewandt, der die Angelegenheit mit einem knappen Befehl regelte.
Meine Erinnerung setzt ein, als mich ein verwundeter Soldat mit einem Kopfverband und einer Augenbinde auf seine Knie hebt. Ich will mich losreißen, aber meine Mutter ermahnt mich, stillzuhalten. Mein Bruder Paul sitzt auf dem Schoß eines Gefreiten, dessen Mütze mir in Erinnerung geblieben ist, während ich sein Gesicht vergessen habe. Helmut liegt in den Armen meiner Mutter. Sie ist eine groß gewachsene, hübsche und selbstbewusste Frau und wird von den verwundeten Soldaten mit Höflichkeit behandelt.
Das Abteil ist eiskalt, denn die Fenster haben keine Scheiben mehr. Ich erinnere mich an die draußen vorbeiziehenden Wälder, Wiesen und Häuser ohne Menschen. Es ist eine echolose Leere, durch die wir fahren, und im Zug ist es still, als sei der Ton des Films, in dem wir selbst zu sehen sind, ausgefallen. Der Krieg hat allem die Farbe entzogen, der Himmel ist hell, die Landschaft ein sich stetig veränderndes Schattenbild, die Soldaten tragen graue Uniformen. Wenn ich mich in die Erinnerung vertiefe, sehe ich ein sich allmählich in Schwärze verwandelndes Farbbild, auf dem es noch ein Dunkelbraun von Mutters Pelzjacke und Strümpfen gibt und einen roten Schal, der einem Soldaten im Hintergrund gehört. Der Waggon zittert und rüttelt in einem fort, wir werden durch die Fliehkraft zuerst auf die eine, dann auf die andere Seite gedrückt. Plötzlich die Schwärze eines Tunnels. Anstelle der unterbelichteten Bilder das Schwarzbild des Schlafes, der Ohnmacht und des Todes.
Ich höre nur die Geräusche der Dampflokomotive, das Zischen, das Pfeifen, das Rattern, das schwere, harte Keuchen, unterbrochen vom regelmäßigen Klopfen der Schwellen.
Unser Atem ist als weißer Dampf sichtbar, wie Plasma auf Fotografien von okkultistischen Sitzungen. Der Dampf löst sich auf und wird von neuen Atemgebilden abgelöst. Mir fällt das Phänomen des Atems als Merkwürdigkeit auf, eine schrecklich zur Schau gestellte Verwundbarkeit der Menschen.
Der Zug hält. Von meiner Mutter werde ich erfahren, dass es der Bahnhof Mautern war, und auch mein Freund Günter Brus, der als Kind den Vorfall zufällig vom Balkon seines Großvaters aus mit dem Fernglas beobachtet hatte, wird mir die Ereignisse bestätigen, als wir vierzig Jahre später auf der Reise nach Amsterdam den Bahnhof passierten und ich anfing, darüber zu sprechen.
Schon kurz nach der Weiterfahrt des Zuges werden die Geräusche der Dampflokomotive von Explosionslärm übertönt, der die Gesichter der Soldaten und das meiner Mutter augenblicklich verändert. Der Wandel ist so unmittelbar, dass ich die Bedrohung spüre, die aus dem Nirgendwo auf uns zukommt. Nicht der Explosionslärm ist es, der mich plötzlich mit Angst erfüllt - ich finde ihn im Gegenteil »interessant« (er weckt meine Neugier) -, sondern das Mienenspiel der Soldaten mit ihren verbundenen Köpfen und Gliedmaßen, das Anspannung, Schrecken und Verstörung ausdrückt. Bevor ich zu weinen beginne, bremst der Zug, und die Fahrgäste und Gepäckstücke beginnen ein Eigenleben, fliegen durch die Luft, und auch wir fallen auf den Fußboden, werden hochgerissen, verlieren das Gleichgewicht und tauschen es gegen eine Hundertstel Sekunde der Schwerelosigkeit ein, um schließlich irgendwohin geschleudert zu werden. Das alles sehe ich in Form von Schwarz-Weiß-Aufnahmen vor mir: Koffer, Säcke, menschliche Körper, die für ewig fliegen, ein in allen Phasen wie in den Fotografien von Muybridge festgehaltenes Chaos, ein Durcheinanderwirbeln, Fallen und Aufschlagen, ohne jedoch selbst einen Schmerz zu verspüren, so als sei ich ebenfalls nur ein Gegenstand. Und ohne Übergang wird daraus ein farbiger, flimmernder Film, der ein Hinausgehoben- und -geschobenwerden von Körpern durch die Fenster zeigt, ein Gedränge, einen Menschenstrom, der sich aus dem Eisenbahnwaggon ergießt in eine grelle Außenwelt. Der Himmel ist weiß, milchig, zu Füßen die Stoppeln abgeernteter Maispflanzen auf weicher Ackererde. Inseln von Schnee in einer offenen Welt. (Ich habe keine Erinnerung an Wörter, nur an Bilder.)
Meine Mutter hält den Säugling im Arm, ich spüre ihre Hand auf meiner. Jetzt zeigt mir Paul sein Gesicht. Im Gegensatz zu dem meiner Mutter sehe ich seines nur in Schwarz-Weiß. Paul zeigt mit dem Finger zum Himmel, und ich höre seinen Schreckenslaut, der in meiner Erinnerung nachhallt. Als ich in die Richtung schaue, in die mein Bruder weist, sehe auch ich hinter einem Telegrafenmast und -drähten das Flugzeug. Es ist nahe genug, dass ich das Emblem auf den Flügeln erkennen kann (von dem ich später erfahren werde, dass es das »Pfauenauge« der englischen Luftwaffe gewesen ist) und Einzelheiten der Maschine, eine »Spitfire«. Wie ein mechanischer Raubvogel nähert es sich uns im Tiefflug und feuert einen Hagel von Geschossen auf uns ab. Zuvor sehe ich aber (in meiner Erinnerung zu einem Standbild gefroren) die Kanzel des Flugzeugs, darin jemand, der einen Lederhelm trägt, eine starre Pilotenfigur in einem Riesenspielzeug, als betrachtete ich in einem dunklen Raum ein auf die Leinwand projiziertes Dia, und wie das strahlend helle Lichtbild ist auch meine Erinnerung etwas Immaterielles, nicht Greifbares, nur ein Phantom.
Einige Jahre später ging ich mit meinem Großvater ins Panoptikum, wir saßen vor einem optischen Gerät und blickten durch das Okular in ein scheinbar riesiges Gehirn, in dem die gespeicherten Erinnerungen zu sehen waren: Tiere, die Ansicht eines Dampfers im italienischen Badeort Grado, der Start eines Doppeldeckers der Gebrüder Wright, die Erstbesteigung des Matterhorns durch Edward Whymper und sein Todessturz oder einfach der schneebedeckte Chimborazzo. Genauso blicke ich heute in mein eigenes Gehirn und sehe, wenn ich daran denke, das Standbild des Piloten im Glaskörper seiner Kanzel. Er trägt eine Fliegerbrille und hat das Aussehen eines Insektenwesens, etwas Kaltes und Tödliches geht von dieser Kopffotografie aus, die ich nun weiterbewege, als würde ich die Namen auf einem Abspann verschwinden lassen und durch andere ersetzen .
Wir laufen in völliger Stille über den Stoppelacker, und meine Mutter stürzt mit Helmut am Arm und reißt mich mit. (»Dreimal mussten wir uns auf das abgeerntete Maisfeld werfen«, schrieb sie in ihrem Brief an mich.) Auch die Soldaten liegen verstreut am Boden, als wir uns schon wieder erheben und weiterlaufen. Überraschenderweise wirkt alles harmlos, nur das Gesicht meiner Mutter ist verzerrt, sie bleibt stehen und betrachtet das Blut und die zerrissenen Strümpfe an ihren Knien. Ich höre ihren keuchenden Atem. In Zeitlupe schwenkt mein Blick jetzt zu einer Gestalt, die auf dem Boden liegt, ein Blutfaden rinnt aus dem Mundwinkel, die Lider sind halb geschlossen und die Augäpfel verdreht, dass man das Weiß sieht. Es ist der erste Tote, den ich zu Gesicht bekomme, ohne zu wissen, dass es ein Toter ist und was der Tod bedeutet. Paul läuft in das Bild und zeigt aufgebracht auf Patronenhülsen aus Messing - seltsame Gegenstände, die wie zufällig zwischen den Maisstoppeln liegen. Meine Mutter zieht uns hastig weiter, wir haben kein Ziel, es gibt kein Ziel, nur den endlosen Acker und den Himmel und hinter uns einen metallenen Schatten - die dampfende Eisenbahn und darüber in der Luft jener, der uns vor sich hertreibt und vor...
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