Auf dem Mississippi,
am Morgen des 10. Juli 1865
»Geht es Ihnen gut, Sir?«
Tom lehnte an der schneeweißen Reling und starrte auf die schlammigen Wassermassen, die unter ihm dahinzogen wie brauner Nebel. Wegen der schmutzigen Färbung nannten die Leute den Fluss, an dessen Ufer er groß geworden war, auch »Big Muddy«.
Tom blickte zu den steilen Felsen auf der Seite von Missouri. Hinter ihm, nach Backbord, lagen die bewaldeten Ufer von Illinois. Schildkröten sonnten sich auf entwurzelten Baumstämmen im Mississippi.
»Alles klar bei Ihnen, Mister?«, erkundigte sich der Lotse der Excelsior erneut. Er warf Tom über die randlose Brille einen prüfenden Blick zu, während er gegen seinen ungepflegten Schnurrbart pustete. Graue Locken hingen dem Mann in die Stirn. Seine Weste spannte über dem Bauch.
Tom nickte. »Alles klar. Bin nur etwas müde. Die Nacht war kurz.«
Der Lotse grinste. »Oh, die Nächte in Keokuk haben's in sich, was? Und die Ladys in den Saloons lassen einen nicht zur Ruhe kommen, wie?« Er lachte meckernd.
Tom antwortete nur mit einem schmalen Lächeln.
Der Lotse kam näher. »Mein Bruder Orion wohnt in Keokuk; ich weiß, wovon ich rede, Mister. Haben Sie das Schlitzauge im »Golden Goose« gesehen, der für einen Vierteldollar eine Nudelsuppe durch die Nase schlürft? Haben Sie?« Wieder lachte er meckernd.
Als er merkte, dass Tom ihm kaum zuhörte, folgte er Toms Blick zum Ufer und senkte verschwörerisch die Stimme. »Sie sehen sich das Mistding an, hm?«
Tom blickte den Lotsen verständnislos an.
Der ältere Mann deutete auf eine Rauchsäule hinter den Bäumen am Ufer. »Die Eisenbahn. Macht uns Schiffern das Leben schwer. Einfach zu schnell für uns, und heutzutage hat's ja jeder so verflucht eilig. Aber wenn Sie mich fragen, ist das eine verdammt armselige Art zu reisen, meinen Sie nicht?«
Tom nickte träge.
Der Lotse klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Ich muss dann mal wieder. Diese verdammten Untiefen hier lassen einen Mann nicht zur Ruhe kommen. Aber Sie haben noch eine Stunde, bis wir in St. Petersburg sind. Und ich kann Sie beruhigen: Verglichen mit Keokuk ist das wirklich ein verschlafenes Nest. Bis dahin können Sie sich ausruhen, hauen Sie sich aufs Ohr! Sie werden die alte Lady schon hören, wenn wir da sind.« Grinsend deutete er auf die große Glocke, die vor dem verglasten Steuerhaus am Texasdeck hing, und machte sich auf zum Bug des Dampfschiffes.
Von irgendwoher zog der Duft von Bratkartoffeln in Toms Nase, und er hörte das Lachen aus dem Saloon, wo ein Ministrel-Sänger mit schwarz geschminktem Gesicht seine Version von Jumping Jim Crow, dem hinkenden Stallburschen, zum Besten gab. Die Nummer war lahm, Tom hatte sie schon zweimal gesehen. Er schüttelte sich. Seine Lider waren bleischwer, und seine Finger fühlten sich taub an.
Hauen Sie sich aufs Ohr.
Tom schnaubte. Wann hatte er das letzte Mal richtig geschlafen? Im Ford's Theatre in Washington? An jenem Karfreitag? Sicher, es gab jede Nacht ein oder zwei Stunden, in denen sein Geist wegdriftete. Aber die Regel waren durchwachte Nächte in schweißnassen Laken.
We never sleep - Wir schlafen nie.
Das war Pinkertons Motto gewesen. Der Wahlspruch von Toms ehemaligem Arbeitgeber prangte über dem wachsamen Auge, das Amerikas berühmtester Detektiv sich als Erkennungszeichen erwählt hatte.
We never sleep.
Tom hatte geschlafen, als es darauf ankam, und es spielte keine Rolle, dass er zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr Mitarbeiter in Allan Pinkertons Detektivagentur gewesen war. Der Präsident hatte Tom in seinem Umfeld behalten wollen, auch nachdem Pinkerton in Ungnade gefallen war. Seither waren andere für den persönlichen Schutz des Präsidenten zuständig.
Aus Pinkertons Truppe war nur Tom bei Lincoln geblieben, weil Lincoln es so wollte. Und Tom ebenfalls. Er bewunderte den Präsidenten. Nicht wegen seines Charismas. Damit war es nicht weit her, fand Tom. Lincoln wirkte oft herb, fast hölzern, und die lange hagere Erscheinung mit den schweren Tränensäcken und der öligen Haut war wenig einnehmend. Aber früher oder später konnte sich niemand, der ihn kennenlernte, seiner Tiefe, seiner Weisheit und seiner Leidenschaft für die gerechte Sache entziehen. Tom zumindest konnte es nicht. Für einen wie ihn, der ohne Vater aufgewachsen war, gab es beileibe schlechtere Vorbilder als Lincoln, der in einer armseligen Blockhütte in Kentucky geboren worden war und durch harte Arbeit zum Präsidenten der Vereinigten Staaten aufstieg. Und der durch einen Derringer Philadelphia in der Hand von John Wilkes Booth getötet wurde.
Dieser Mann darf nicht entkommen.
Oh nein, Sir. Das wird er nicht.
Und er war auch nicht entkommen.
Tom hatte gedacht, der Tod von Booth würde ihm den Schlaf zurückbringen. Aber er hatte sich getäuscht. Auch die Kapitulation der letzten konföderierten Truppen bei Fort Towsen im Indianergebiet brachte ihm die ersehnte Ruhe nicht zurück. Genauso wenig wie die Hinrichtung der vier anderen Verschwörer. Obwohl Mary Surratt, Lewis Powell, David Herold und George Atzerodt vor drei Tagen im Innenhof von Fort McNair aufgeknüpft worden waren, hatte Tom in der Nacht wach gelegen.
So hatte er, als Sids Telegramm ihn erreichte, nicht gezögert, die Gelegenheit zu ergreifen, um so viele Meilen wie möglich zwischen sich und Washington zu bringen. Obwohl man ihn gebeten hatte zu bleiben.
Andrew Johnson, bis zu jenem Karfreitag Vizepräsident, wurde noch am 15. April als neuer Präsident vereidigt, und die Metropolitan Police hatte Tom angeboten, er solle für Johnson das tun, was er für Lincoln getan hatte. Tom überlegte noch, ob er das Angebot annehmen sollte. Es war ein großzügiges Angebot, und bisher hatte niemand ihm die Schuld an Lincolns Tod gegeben. Noch nicht.
Tom vermutete jedoch, es würde nicht lange dauern, bis man vergessen hätte, dass er an jenem verhängnisvollen Abend gar nicht Dienst gehabt hatte und aus freien Stücken im Ford's Theatre geblieben war. John F. Parker, der dickliche Polizist der Metropolitan Police, war drei Stunden zu spät gekommen, um Tom bei seiner Schicht abzulösen. Parker war ein unzuverlässiger Säufer, und da Tom sein Rendezvous an diesem Abend durch Parkers Schuld ohnehin versetzt hatte und Parker sichtlich angetrunken war, als er im Ford's Theatre ankam, beschloss Tom zu bleiben, um den Heimweg des Präsidenten zu sichern. Er hätte nicht gedacht, dass es zu einem Anschlag im Theater kommen würde. Er hätte nicht gedacht, dass Parker so faul und so dreist wäre, nach einer kurzen Stippvisite in der Präsidentenloge schnurstracks in den »Star Saloon« nebenan zu gehen, um seinen Rausch aufzuwärmen.
Er hätte es nicht gedacht. Und doch war es so gekommen.
Irgendwann, da war sich Tom sicher, würde man ihn dafür verantwortlich machen, dass er den Präsidenten nicht geschützt hatte. Ganz einfach, weil er da gewesen war. Und Parker, der da sein sollte, würde nicht zur Rechenschaft gezogen werden, weil er eben nicht da gewesen war. So dachten die Menschen in Washington nun mal. Und im ganzen Rest der Welt auch, vermutete Tom.
Er wühlte in den Taschen seines Gehrocks und zog zwischen einem Taschenmesser, einem Stück Schnur, ein paar Münzen und einem Talisman, auf dem Sankt Christophorus mit dem Kinde abgebildet war, das Telegramm hervor, das sein Halbbruder ihm geschickt hatte.
HEIRATE IN ZWEI WOCHEN +++ STOP +++ FREUE MICH, WENN DU KOMMST +++ STOP +++ IN LIEBE, SIDNEY
Die Nachricht hatte ihn vor acht Tagen in Washington erreicht. Tom sah es als ein Zeichen dafür an, seine Zelte in der Hauptstadt abzubrechen und St. Petersburg einen Besuch abzustatten. Tante Polly, bei der er gemeinsam mit Sid aufgewachsen war, würde ihn bestimmt kaum wiedererkennen, so ausgezehrt und von der Sonne verbrannt, wie er war. Er hatte seine Familie zum letzten Mal vor dem Krieg gesehen. Zehn Jahre war das jetzt bald her.
Tante Polly war bestimmt schon in heller Aufregung wegen der anstehenden Hochzeit. Die energische Frau würde für ihren kleinen Siddy alles organisieren - von der Sitzordnung über das Buffet bis zum Kleid ihrer künftigen Schwiegertochter. Welches Mädchen wohl dumm genug war, Sid Sawyer zu heiraten? Bestimmt irgendeine langweilige, hochnäsige Kuh.
Tom runzelte die Stirn und stopfte das Telegramm wieder in seine Rocktasche. Er hielt nicht allzu viel von seinem Bruder. Wenn er früher mit seinem Freund Huck Finn die Schule geschwänzt hatte, um schwimmen und angeln zu gehen, hatte Sid brav in der Bank bei ihrem Lehrer Mr Dobbins gesessen und sich für eine Extraaufgabe gemeldet. Und wenn Tom dann mit zerrissener Hose heimgekommen war, hatte Sid mit gewaschenen Händen und gekämmten Haaren beim Abendbrot gesessen und ihn schon bei Tante Polly verpetzt.
Trotzdem freute Tom sich, Sid zu sehen. Und auf Huck freute er sich auch - falls der noch in St. Petersburg war. Vielleicht würde ihm ja St. Petersburg den Schlaf schenken, den er so dringend brauchte.
Tom ging in seine enge Kabine und packte seine Sachen zusammen. Das schmale Bett war unbenutzt. Er spülte sich den Mund mit Backnatron und Whiskey aus und warf einen kurzen Blick in den Spiegel über der Waschschüssel. Seine Haut spannte sich über die Wangenknochen, und der Anblick des rasierten Kinns ließ ihn wieder zusammenzucken. Vor drei Tagen noch hatte er einen Bart bis zum obersten Hemdknopf getragen. Er fuhr sich mit den Fingern durch die langen dunklen welligen Haare....