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Auch ohne den Kult, der bereits zu seinen Lebzeiten entstand und nach seinem gewaltsamen Tod im Jahr 1959 an Popularität gewann, war Stepan Bandera eine faszinierende Persönlichkeit. Es war kein Zufall, dass er zu einem zentralen Symbol des ukrainischen Nationalismus wurde. Mit seiner Radikalität, seiner doktrinären Entschlossenheit und seinem festen Glauben an eine ultranationalistische ukrainische Revolution, die die »Wiedergeburt« der ukrainischen Nation herbeiführen sollte, erfüllte Bandera die ideologischen Erwartungen seiner Gesinnungsgenossen. Im Alter von 26 Jahren wurde er nicht nur von ukrainischen revolutionären radikalen Nationalisten bewundert, sondern auch von anderen Gruppen der ukrainischen Bevölkerung, die in der Zweiten Polnischen Republik lebten. Aus diesen Gründen avancierte er zum Führer (Ukr. Prowidnyk oder Woschd) und wirkmächtigen Symbol der gewalttätigsten westukrainischen politischen Bewegung des 20. Jahrhunderts: der Organisation Ukrainischer Nationalisten (Orhanisazija Ukraïnskych Nazionalistiw, OUN), die um die Jahreswende 1942/43 die Ukrainische Aufständische Armee (Ukraïnska Powstanska Armija, UPA) bildete. Obwohl oder vielleicht gerade weil Bandera einen großen Teil seines Lebens außerhalb der Ukraine im Gefängnis, in KZ-Haft oder unter Hausarrest verbrachte, wurde er zu einer legendären Persönlichkeit, nach der Tausende seiner Anhänger, Sympathisanten und sogar unpolitische Westukrainer als Banderisten (Ukr. banderiwzi, Pol. banderowcy, Rus. banderowzy) bezeichnet wurden. Einige Personen behaupten auch, dass er wegen seines bemerkenswert klingenden Namens, der auf Polnisch und Spanisch »Banner« bedeutet, zum Symbol des ukrainischen Nationalismus geworden ist.
Eine biographische Untersuchung Banderas ist aus mehreren Gründen schwierig und herausfordernd. Der politische Bandera-Mythos ist eingebettet in unterschiedliche Ideologien, die die Wahrnehmung der historischen Person Stepan Bandera verzerrt haben. Nicht ohne Grund unterscheiden sich die seit den 1990er Jahren in Polen, Russland und der Ukraine erschienenen Bandera-Biografien stark voneinander und enthalten nur wenige verifizierbare Informationen über die Person Bandera und ihren historischen Kontext. Nur sehr wenige dieser Biographien ziehen überhaupt Archivmaterial zu Rate. Viele sind in verschiedene postsowjetische nationalistische Diskurse eingebettet. Ihre Autoren stellen Bandera als Nationalhelden dar, manchmal sogar als Heiligen, und ignorieren oder leugnen seine radikale Weltanschauung und seinen eigenen Beitrag sowie den Beitrag seiner Anhänger zu ethnischer und politischer Gewalt. Andere Autoren stellen Bandera als eine biblische Form des Bösen dar und leugnen ihrerseits die von Polen und Sowjets begangenen Kriegsverbrechen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung.
Die Untersuchung von Bandera erfordert nicht nur einen Vergleich von Biographien und anderen Veröffentlichungen über ihn, sondern vor allem die Untersuchung zahlreicher Archivdokumente sowie Memoiren von Personen, die ihn persönlich kannten. Von zentraler Bedeutung sind die von ihm selbst verfassten Dokumente und Veröffentlichungen. Eine Analyse dieser Quellen gibt Aufschluss darüber, auf welche Weise und warum Bandera zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort agierte und wie er von seinen Zeitgenossen wahrgenommen wurde. Diese historisch-kritische Perspektive ermöglicht eine genauere Antwort auf die Frage, welche Rolle Bandera in der ukrainischen und europäischen Geschichte spielte. Auch können auf diese Weise Antworten auf weitere schwierige Fragen gefunden werden, die mit seiner Biografie zusammenhängen, z. B. ob und inwieweit er für die Gräueltaten von OUN und UPA verantwortlich war, an denen er zwar persönlich nicht beteiligt war, die er aber billigte oder mit vorbereitete.
Der Führerkult ist ein Phänomen, das zu einer bestimmten Zeit von einer bestimmten Gruppe bzw. Gemeinschaft geschaffen wird. Ein Führer taucht oft in realen oder vermeintlichen Krisenzeiten auf. Seine Anhänger glauben, dass er der Gemeinschaft helfen wird, sie zu überstehen. Das Charisma eines Führers geht in der Regel nur teilweise auf ihn selbst zurück. Hauptsächlich ist es ein soziales Produkt gesellschaftlicher Erwartungen und kollektiver Projektionen.[1] Die Führerfiguren, um die sich Persönlichkeitskulte bilden, sind also entweder charismatisch oder, was häufiger der Fall ist, sie werden für charismatisch gehalten. Charisma kann eine »persönliche Gabe, ein situativer Zufall oder ein besonderer Pakt zwischen einem Führer und seinen Anhängern« sein.[2]
Ein charismatischer Führer kann nicht ohne eine »charismatische Gemeinschaft« existieren, die seine außergewöhnlichen Qualitäten akzeptiert, bewundert, feiert und an sie glaubt. Um diesen Zustand zu erreichen, muss eine emotionale Beziehung zwischen dem Führer und der Gemeinschaft hergestellt werden. Die Gemeinschaft fühlt sich ihrem Führer verbunden, weil er sich, wie seine Anhänger glauben, um sie kümmern und sie in eine bessere Zukunft führen wird.[3] Eine der wirksamsten Möglichkeiten, eine emotionale Beziehung zwischen dem Führer und der Gemeinschaft herzustellen, ist die Einführung und regelmäßige Praktizierung von Ritualen. Die Ausübung politischer Rituale ist wiederum entscheidend für die Bildung einer kollektiven Identität, die eine Gruppe oder Gemeinschaft eint und nationale Bindungen schafft oder verfestigt. Rituale beeinflussen die moralische Haltung und den Wertekompass des Einzelnen, der sie praktiziert, und verändern dadurch gleichzeitig den emotionalen Zustand der Gemeinschaft.[4]
In der Praxis kann der Prozess der Erschaffung eines Führerkultes je nach Art der politischen Bewegung auf unterschiedliche Weise ablaufen. Kleine Bewegungen in multiethnischen Staaten - wie die OUN oder die kroatische Ustasa - wandten andere Methoden an als Bewegungen, die bereits die Kontrolle über den Staat übernommen und ein Regime errichtet hatten, wie etwa die italienischen Faschisten oder die deutschen Nationalsozialisten. Die charismatische Bindung zwischen Führer und Geführten endet nicht immer mit dem Tod der Führergestalt. Eine charismatische Gemeinschaft kann auch nach dem Tod des Führers weiter unter dessen Einfluss stehen und ihn daher auch weiterhin bewundern und ihm huldigen. Nicht nur der Körper des Führers, sondern auch seine persönlichen Gegenstände, wie seine Kleidung, sein Schreibtisch oder seine Schreibfeder, können nach seinem Tod mit sakraler Bedeutung aufgeladen werden. Die Mitglieder der charismatischen Bewegung können sie wie Reliquien behandeln, als letzte Überbleibsel ihres legendären Führers und einzigen wahren Helden.[5]
Die Kulte faschistischer und anderer totalitärer Führer entstanden in Europa nach dem Ersten Weltkrieg. Ihre Entwicklung hing mit dem Verschwinden der Imperien und der Kaiserkulte zusammen, die nach der Auflösung der Imperien eine Lücke im Leben vieler Menschen hinterließen.[6] Der NS-Parteisekretär Rudolf Heß beschrieb 1927 in einem privaten Brief das religiöse Potential des Führertums: »Hier trifft sich der große Volksführer mit dem großen Religionsstifter: Den Hörenden muß ein apodiktischer Glaube vermittelt werden, nur dann vermag die Masse der Anhänger dorthin geführt zu werden, wohin sie geführt werden soll. Sie wird auch dann dem Führer folgen, wenn Rückschläge eintreten, aber nur dann, wenn sie den unbedingten Glauben an die unbedingte Richtigkeit des eigenen Volkes vermittelt erhielt«.[7]
Der Historiker Emilio Gentile stellte fest, dass »der charismatische Führer von seinen Anhängern als Führer akzeptiert wird, die ihm mit Verehrung und Hingabe gehorchen, weil sie glauben, dass er mit der Aufgabe betraut wurde, eine Mission zu verwirklichen; der Führer ist die lebendige Inkarnation und mythische Interpretation seiner Mission«.[8] In diesem Sinne kann der Führer als charismatische Persönlichkeit die Eigenschaften eines Heiligen oder sogar eines Messias annehmen, die den Bedürfnissen der Gemeinschaft entsprechen.[9] Die Anhänger einer solchen Führergestalt glauben, dass dieser als »Schicksal aus dem inneren Wesen der Menschen« kommt,[10] weil er die Idee der Bewegung und ihre Politik verkörpert. Roger Eatwell hat beobachtet, dass ein solcher Führer den Menschen helfen kann, »komplexe Ereignisse zu begreifen« und »die Komplexität durch das Bild einer einzelnen Person zu bewältigen«.[11]
Von einem faschistischen Führer wird erwartet, dass er idealistisch, dynamisch, leidenschaftlich und revolutionär auftritt. Er ist der »Träger einer Mission«. Er versucht, den Status quo zu stürzen, und hat eine sehr klare Vorstellung von seinen Gegnern. Seine Mission wird von den Anhängern der Bewegung als revolutionär und absolut unentbehrlich verstanden. Er stellt sich häufig als jemand dar, der bereit ist, sein Leben und das Leben seiner Anhänger für die Idee der Bewegung zu opfern. Seine Verwandlung in eine mythische Gestalt ist fast unvermeidlich, und er kann zum Gefangenen seines eigenen Mythos werden.[12]
In der Zwischenkriegszeit gab es eine Reihe von charismatischen Führern und Personenkulten. Einige wenige dieser Führer, wie Tomás Masaryk in der Tschechoslowakei, waren weder faschistisch noch autoritär.[13] Andere, wie Józef Pilsudski in Polen, waren...
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