Schweitzer Fachinformationen
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1957-1975 - Der Schreiner
»Do chunnt d'Schriner!«
Zugegeben, das war eine etwas ungewöhnliche Begrüßung für einen dreijährigen Dreikäsehoch, der mit seiner ledernen Brotzeittasche um den Hals den Kindergarten betrat.
Und doch - das, was sich da meine Spielkameraden auf Alemannisch zuriefen, umriss tatsächlich in einem Wort das Programm für mein Leben.
Denn Schreiner - oder norddeutsch Tischler - waren schon mein Opa, mein Vater und mein Onkel. Es bestand also kein Zweifel, dass auch ich eines Tages zum Hobel greifen und denselben Beruf ausüben würde wie die meisten Männer meiner Familie. Da biss die Maus keinen Faden ab, auch nicht mein Opa mütterlicherseits, der ein selbstständiger Maurermeister mit sechs Mitarbeitern war und im Nebenerwerb Landwirtschaft betrieb. Er ließ mich regelmäßig schätzen, wer meiner Meinung nach wohl mehr verdiente: »Ein Baumeister oder ein Holzwurm?«
Doch auch er warf mich nicht aus der Bahn.
Unser idyllisches Dorf Tannenkirch mit dem Ortsteil Gupf, in dem ich aufwuchs, liegt malerisch eingebettet in den Hügeln des Markgräfler Lands, zwischen Schwarzwald und Rhein, zwischen Reben und Tannen. Die wärmste Region Deutschlands, das Dreiländereck zwischen Deutschland, Frankreich und der Schweiz, bildet das grüne Herz Europas. Die Grenzen, die heute offen sind, hatten schon zu meinen Kinderzeiten Anfang der 60er-Jahre ihre trennende Funktion verloren. Trotzdem stellte ein Ausflug ins schöne Elsass oder in die Schweizer Berge für meinen Vater ein Abenteuer dar, das man tunlichst vermied. Und so ging unser Aktionsradius kaum über Lörrach, Müllheim oder Kandern hinaus. Ein Ausflug nach Freiburg, das 45 Kilometer weit in nördlicher Richtung lag, hatte schon was von einer Weltreise. Diese aufregende Expedition in die südlichste Großstadt Deutschlands genossen wir drei Kinder - meine beiden Schwestern Christa und Astrid und ich - besonders, weil das für uns ein besonderes Ereignis war.
Ja, mein Vater war ein vorsichtiger Mensch. Er hatte die Schreinerei von seinem Vater übernommen und seinen Bruder ausbezahlt. Umsichtig und fleißig, wie er war, führte er den Betrieb sein Leben lang erfolgreich durch gute und weniger gute Zeiten.
Zu seinem planvollen Handeln gehörte auch, dass er mich, seinen Nachfolger in spe, schon früh mit in die Werkstatt nahm - so früh, dass es noch reichte, den Zollstock zweimal aufzuklappen, um meine Größe festzustellen. Manchmal schaute ich ihm einfach nur zu, manchmal durfte ich ihm auch in allen Arbeitsschritten zur Hand gehen, von der Vorbereitung bis zur Umsetzung der Projekte. Diese Stunden an seiner Seite haben mich tief geprägt. Ein besonderes Highlight waren für mich die Auswärtstermine. Wenn es mit dem Maßband in der Hand durch die Stuben unserer Kunden ging, fiel das Addieren und Dividieren gar nicht mehr so schwer. Jedenfalls leichter als mit dem Füllfederhalter in der Hand vor einem kleinkarierten Blatt in einer grauen Studierstube. Fast automatisch begann ich, unsere Arbeit durch die Brille eines selbstständigen Unternehmers zu betrachten. Ideen zu entwickeln und sie dann in greifbare Ergebnisse umzusetzen, vermittelte mir ein Gefühl tiefer Befriedigung.
Da konnte die Schule natürlich nicht mithalten. Dementsprechend setzte ich auch meine Prioritäten. Hausaufgaben fielen da nicht unbedingt drunter. Wie auch? Entweder verbrachte ich meine Nachmittage bei meinem Vater in der Schreinerei oder der Karlfrieder aus der Nachbarschaft klopfte an unsere Tür. Mit ihm zusammen bildete ich ein hochproduktives Architekten- und Bauteam. Jede freie Minute nutzten wir, um Baumhaus auf Baumhaus, Hütte auf Hütte hochzuziehen. Kaum war mein Vater aus dem Haus, hatte ich unbegrenzt Zugriff auf Holzplanken, Werkzeuge und Nägel aller Art. An Projekten herrschte kein Mangel. Und wenn ein Bauwerk fertig war, wurde schon umgebaut, angebaut oder abgerissen und weitaus prächtiger neu konstruiert. Uns packte manchmal ein regelrechter Baurausch. Da konnte es schon mal passieren, dass meine beiden Interessensgebiete kollidierten und ich in der Schreinerei helfen musste, obwohl es so gar nicht in meinen »Terminplan« passte. Betroffen davon war nicht nur meine rege Bautätigkeit, das Nachsehen hatten auch die anderen Spezis, die ihre freie Zeit auf dem Fußballplatz verbrachten. Doch es half alles nichts, der Familienbetrieb hatte Vorrang und meine Arbeitskraft war gefragt.
Musste ein Auftrag termingerecht fertiggestellt werden, packte zuweilen auch meine Mutter mit an. Ansonsten erledigte sie die Büroarbeit. Sie arbeitete sich so intensiv in die Aufgaben einer Buchhalterin ein, dass sie schon bald die Unterlagen für unseren Steuerberater in Lörrach vorbereiten konnte. Nebenher kümmerte sie sich um ihre drei Kinder, das Haus und den Garten, in dem sie Gemüse und Beeren anbaute. Während im Betrieb mein Vater das Sagen hatte, regierte sie Haus und Hof - und das tatkräftig und energisch. Nicht selten klingelte beim Mittagessen das Telefon. Meistens waren es Kunden und meistens nahm meine Mutter den Anruf an. Mein Vater überließ ihr nur zu gerne den Vortritt, weil ihm das mehr Zeit zum Überlegen verschaffte. Unsere Mutter war ihm in allen Dingen eine nahezu perfekte Partnerin, eine Unternehmerfrau, wie sie im Buche steht.
Und für mich hielten sich unter dem Strich Arbeit und Freizeit, Pflicht und Freiheit die Waage, sodass ich heute dankbar und gerne an die Jahre meiner Kindheit zurückdenken kann.
* * *
Schreiner - mein Berufsziel stand fest und mein Weg dorthin war vorgezeichnet. Ich machte mit fünfzehn Jahren den Hauptschulabschluss, besuchte dann ein Jahr lang die Holzfachschule in Schopfheim und begann schließlich meine Ausbildung zum Schreiner in Mühlheim/Baden. Mein Lehrherr, Herr Fünfgeld, begrüßte mich an meinem ersten Arbeitstag mit den Worten: »Helmut, ich kenne deinen Vater. Der ist ein guter Schreiner. Ich denke, damit dürfte klar sein, was ich von dir erwarte. Erweise dich als seiner würdig und schließe deine Lehre als Innungsbester ab.« Das war eine deutliche Ansage. Der Erwartungshorizont, in dem ich mich bewegte, war jedenfalls klar abgesteckt. Doch Herr Fünfgeld forderte mich nicht nur heraus, er sorgte auch dafür, dass ich eine Menge lernte. Schon nach wenigen Wochen warf er mich ins kalte Wasser.
Ich durfte bei konkreten Projekten Hand anlegen, selbstständig Türen, Fenster und einen Einbauschrank bauen. Und er stellte mich seinem besten Gesellen zur Seite - dem Eugênio aus Portugal. Auch wenn der sich eher wortkarg gab - ein Satz war ihm wichtig und den schärfte er mir von Anfang an ein: »Du musst mit den Augen stehlen.« Damit meinte er, ich solle ihm aufmerksam zusehen und alles, was zum Erfolg führt, kopieren. Getreu diesem Motto verfolgte ich also jeden seiner Handgriffe und Arbeitsschritte. Bevor er loslegte, dachte er gründlich nach, dann machte er einen Plan und daraufhin ging er ans Werk. Ich habe unwahrscheinlich viel von ihm gelernt.
Irgendwann brach das dritte Lehrjahr an und ich musste mir überlegen, wie mein Gesellenstück aussehen sollte. Mit dieser Arbeitsprobe stellt ein Lehrling sein handwerkliches Können unter Beweis. Er fertigt es in seinem Lehrbetrieb über einen Zeitraum von drei Wochen an und zeigt damit, dass er in der Lage ist, Anforderungen unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade zu erfüllen. In die Note fließen sowohl Design als auch handwerkliche Ausführung ein.
Ich entschied mich für ein Dielenschränkchen aus Eiche. Der Korpus bestand aus Eichenfurnier mit umlaufender Maserung, für die Türen verwendete ich Massivholz. Einen besonderen Glanzpunkt aber wollte ich mit der Gestaltung der Front setzen. Ich plante, sie durch achtzehn Holzquadrate zu gliedern, die alle eine schalenförmige Vertiefung aufweisen sollten. Ein ehrgeiziges Unterfangen für einen Lehrling, doch die Herausforderung reizte mich, die Arbeit machte mir Spaß und letzten Endes war ich es auch meiner Familienehre schuldig.
Herr Fünfgeld verfügte über ein spezielles Kreissägeblatt, mit dem man flache Trichter in ein hölzernes Werkstück einfräsen kann. Man fährt das Sägeblatt so hoch, dass es über dem Tisch frei rotiert, montiert daneben eine Holzplatte, die man mit mehr oder weniger starkem Druck über dem Sägeblatt dreht, bis sich eine gleichmäßig geformte Kuhle gebildet hat. Ein Verfahren, das großes Fingerspitzengefühl erfordert. Mein Herz klopfte bis zum Hals, als ich die Maschine anwarf. Millimeter für Millimeter drang das Sägeblatt in das Holz ein. Achtzehnmal. Beim ersten Durchgang zitterten mir noch die Hände vor Anspannung, doch mit jedem Quadrat gewann ich an Sicherheit. Nach einer gefühlten Ewigkeit hielt ich mehrere gleichmäßig geformte Werkstücke in meinen Händen, die zusammen die Türfüllung ergaben.
Immer wieder musste ich die Frage beantworten: »Wie hast du das denn gemacht?« Ich spürte, wie eine bis dahin kaum gekannte, tiefe Zufriedenheit die Aufregung und die Angst vor dem Scheitern verdrängte. Konnte es etwas Besseres im Leben geben?
Mein Gesellenstück wurde mit der Bestnote bewertet. Als Innungsbester durfte ich am Kammerwettbewerb in Freiburg teilnehmen, wo die Juroren meinen Dielenschrank auf Platz eins setzten. Ich erhielt eine besondere Prämie in Form eines Gutscheins, der mir ein spezielles Förderprogramm im Vorlauf der Meisterprüfung zusicherte. Als mein Möbelstück bei einer Leistungsschau des Landesfachverbandes Baden-Württemberg auch noch den zweiten Platz belegte, waren alle stolz - Herr Fünfgeld, meine Eltern und ich, hatte ich doch mein Gesellenstück genau so umgesetzt, wie ich es...
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