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Und dann standen sie irgendwann mitten in der Wüste von Nevada, ein Vorderreifen zerplatzt, keine Ahnung, ob es im Mietwagen einen Ersatzreifen gab. Die Plastikflaschen schmolzen langsam, und das Wasser darin würde warm sein wie Earl Grey am Ende des Frühstücks. Natürlich kein Handyempfang, das war ja die Wüste. Kein Auto nirgends. Wenn doch eines kam, hielt es nicht an, sondern hinterließ eine Staubwolke, und sie konnten zusehen, wie es langsam auf Matchboxgröße schrumpfte, bis es über den Horizont kippte. Sie starrten auf die schwarzen Streifen, die der Gummi ihrer Reifen bei seiner Vollbremsung auf die Fahrbahn gerieben hatte. Sie schwiegen. Marie ein bisschen vorwurfsvoller als er. Beide wussten sie, dass ihm das Schlagloch hätte auffallen müssen. Aber nur er wusste, dass es ihm auch aufgefallen wäre, hätte er die Augen offen gehabt.
Hätte ihn diese Mücke nicht die ganze Nacht davon abgehalten, zu schlafen.
So würde es kommen, wenn er nicht endlich einschlief.
Anton zog die Bettdecke bis zur Unterlippe hoch. Seine ausgestreckten Arme pressten die äußeren Enden des Bezuges rechts und links auf die Matratze. Mit den Zehen drückte er die Knopfleiste gegen die untere Bettkante. Nur noch sein Gesicht war jetzt frei, genauer gesagt die oberen zwei Drittel davon, von der Lippe bis hoch zu den Ansätzen seiner Geheimratsecken. Neben ihm atmete Marie leise und regelmäßig. Er hörte es kaum, weil die Klimaanlage so schepperte.
Wenn die Mücke jetzt wieder angriff, konnte sie auf seiner Nase landen, auf der Stirn oder vielleicht auf dem oberen Ohrläppchen. Sie konnte auch versuchen, durch die Bettdecke zu stechen, aber wahrscheinlich würde sie das nicht schaffen. Es sei denn, in der Decke war irgendwo ein Loch.
Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Er senkte sein Kinn, konnte im Dunkel des Motelzimmers aber nur die Schemen seiner bedeckten Brust erahnen. Er hatte die mehrfach befleckte Decke, die einmal weiß gewesen sein musste, im Hellen nicht allzu genau untersucht. Sonst hätte er sich mit der Frage beschäftigen müssen, was genau das für Flecken waren. Es war besser, auch jetzt nicht weiter darüber nachzudenken. Marie hätte ihm sicher einiges zu den Keimen darin sagen können, aber Marie schlief. Er dagegen versuchte einzuschlafen. Er lag starr da wie eine Leiche unterm Tuch.
Morgen war der Tag, an dem sie von Los Angeles nach Las Vegas fuhren. Er würde fahren. Aber wenn er nicht bald einschlief, würde er vor lauter Müdigkeit nicht fahren können. Er würde unkonzentriert sein und Fehler machen. Ein geplatzter Reifen war da noch die glimpflichste Variante. Er kannte die Sekundenschlafstorys der Trucker. Eingenickt. Bamm. Schon war man nur noch ein verkohlter Skeletthaufen unter Löschschaum, von kreisendem Blaulicht beschienen.
Eine Weile versuchte er, mit Marie zu atmen. Kurz ein, lang aus. Ein. Aus. Wie sie die Luft durch die Nase gleiten ließ, hatte etwas Zufriedenes, Wohliges. Er kannte niemanden, der anmutiger schlief. Für einen Augenblick hoffte er, er könnte ihre Ruhe auf sich übertragen. Ein. Aus. Er könnte seine Anspannung hinausströmen lassen. Ein. Aus. Damit er die Jagd nicht beginnen musste. Damit sie weiterschlafen konnte.
Es war ein kurzer Augenblick.
Die Klimaanlage machte eine Pause, sodass er die Mücke jetzt eigentlich sofort hören musste, wenn sie näher kam. Draußen rauschten Autos vorbei. Ab und zu war eine Sirene zu hören. Amerika klang, wie er es aus den Fernsehserien von HBO kannte. Unwirklich und vertraut.
Auf dem Parkplatz im Hof des Motels schlug jemand eine Kofferraumklappe zu. Es konnte nicht ihre sein. Der Ford Escape stand direkt vor ihrem Zimmer. Es hätte lauter geknallt. Ihre Wertsachen waren sowieso nicht im Auto. Seinen Rechner hatte er in eine Wolldecke eingewickelt und in den Schrank geschoben. Sein Bauchgurt mit den Kreditkarten und dem Geld lag unter dem Kopfkissen. Er bildete sich ein, die Plastikkarten durch das Kissen hindurch an seinem Hinterkopf zu spüren.
Wie immer war das Sirren zuerst nur eine Ahnung gewesen, die auch ein Irrtum sein konnte, ein Fehlalarm. Er war im Lauf der Jahre stetig besser darin geworden, Mücken schon auszumachen, wenn sie von einer Zimmerwand abhoben. Das war, musste er sich eingestehen, keine besonders hilfreiche Fähigkeit.
Ihr Sirren war jetzt ganz klar zu hören, keine Ahnung, kein Irrtum, kein Fehlalarm. Er konnte es im Raum aber nur schwer verorten. Vielleicht über seinen Beinen? Die Empfindlichkeit seiner Ohren nannten Ärzte Hyperakusis, eine übertriebene Geräuschempfindlichkeit, die mit dem Pfeifen gekommen war, das Tinnitus hieß.
Das Sirren stoppte. Saß sie etwa schon auf ihm? Er ruckelte mit den Armen. Es fiepte wieder. Vermutlich war die Mücke auf der Decke gelandet und hatte festgestellt, dass sie ihren Rüssel nicht hindurchpressen konnte. Gut möglich, dass sie sich in diesem Moment seinem ungeschützten Kopf näherte. Tatsächlich schien das Sirren lauter zu werden, aber während er versuchte, sich darauf zu konzentrieren, um einen Abwehrschlag in Richtung Kopf vorzubereiten, schepperte die Klimaanlage los. Anton tastete nach der Fernbedienung auf dem Nachttisch. Er erwischte den runden Knopf.
Stille.
Anton hatte seine Mückenempfindlichkeit vor einigen Jahren aus Schweden importiert. Es war am Anfang seines Studiums, ein Urlaub mit Karla, seiner damaligen Freundin. Sie waren an einem Tümpel gewesen, um Wasserski zu fahren. Gefühlte Stunden hatte er im immer kälteren, trüben Wasser auf dem Rücken gelegen, in einer seltsamen Hocke, mit den Skiern an seinen Füßen, und jedes Mal, wenn das Motorboot losfuhr, mit dem irgendein schwedischer Bekannter Karlas ihm das Wasserskifahren beibringen wollte, hatte er versucht, sich aus der Hocke aufzurichten, während er sich mit beiden Händen an den mit der Schnur verbundenen Stab klammerte. Manchmal hatte er es sogar geschafft, sich aufzurichten und die Knie durchzudrücken, wie der Bekannte empfohlen hatte. Nach wenigen Sekunden war Anton aber jedes Mal ins Wasser geplatscht, hatte wieder auf dem Rücken gelegen, sich in die Unterwasserhocke schieben müssen, und alles war von vorne losgegangen. Es war demütigend gewesen.
Anschließend machten die schwedischen Jungs ihm vor, wie man mit den Skiern übers Wasser fahren konnte, wie man hüpfte und sprang. Er stand am Ufer, fühlte sich wie ein Nacktmull auf dem Catwalk, sah die vielen winzigen Insekten an seinen feuchten Beinen und hielt sie nicht für eine Gefahr. Nur ab und zu schlug er lustlos nach ihnen.
In der darauffolgenden Nacht hatte er ernsthaft über eine doppelte Beinamputation nachgedacht, so sehr brannten die Myriaden Stiche.
War das schon ein leichtes Piksen an seinem rechten Bein? Anton schnellte hoch, haute mit der flachen Hand zu und sah sich hektisch im Zimmer um. Die Laterne vor ihrem Fenster warf ein dunkeloranges Licht herein, von den Vorhängen unscharf zerschnitten. Unter den Schatten erkannte er Marie. Sie lag auf dem Bauch, ohne Decke. Mücken begannen sie frühestens am nächsten Morgen zu interessieren, wenn es irgendwo juckte. Es gab bestimmte Gefahren, die würde er ihr nie erklären können. Sie schnorchelte jetzt leise.
Anton erinnerte sich an die Nacht vor zwei Jahren, bevor sie sich zum ersten Mal geküsst hatten. Marie und er saßen an einem Stadtstrand an der Spree. Auf dem schwarzen Wasser kräuselten sich silberne Wellen. Es war warm. Irgendwo lief Reggae. Da waren überall Mücken.
Es war ihm selten so egal gewesen.
Der Abend kam ihm ziemlich lange her vor.
Anton stolperte zur Tür des Motelzimmers und machte das Licht an. Es war bestimmt schon um eins, vielleicht sogar um drei. Er musste diese Mücke jetzt erschlagen, sonst wäre er morgen so müde, dass er den Ford beim Ausparken gleich gegen ihre Zimmerwand knautschen würde.
Er blinzelte in den Raum. Die Leuchtstoffröhre machte ein Licht wie in diesen türkischen Männercafés in Neukölln, wo sie seit kurzem zusammenwohnten. Marie drehte sich um, murrte leise und zog sich die Decke übers Gesicht.
Anton scannte die Wände und die Decke. Über der Tür und beim Fernseher klebten Mückenleichen. An der Wand hinterm Bett war ein schwarzer Punkt. Er ging darauf zu. Nur ein Fleck. Anton schüttelte die Vorhänge. Er trat gegen die Tagesdecke, die vorm Bett lag, ein roter Haufen mit goldenen Punkten.
In diesem Zimmer gab es definitiv zu viele Verstecke für Kleintiere aller Art. Anton wuchtete den Rollkoffer ins Bad, dann die Reisetasche, dann die Tagesdecke. Er schloss die Badezimmertür von außen, stellte sich in die Mitte des Zimmers und ließ seine Blicke im Kreis patrouillieren. Wand, Decke, Wand, Decke. Da! Wieder nur ein Fleck, vielleicht eine tote Motte.
Es war ein Fehler gewesen zu lüften. Lüften war immer gefährlich. Aber Marie hatte darauf bestanden, die Tür eine Weile offen zu lassen. Die Luft stehe in dem Zimmer. Sie hatte mit ihrem Blick signalisiert, dass jedes Sträuben zu einem Abend mit Ich-ersticke-hier-gerade-Gesicht und entsprechender Schnappatmung führen würde. Er wollte das nicht riskieren. Sonst wären sie früher oder später sicher wieder bei der Frage gelandet, warum das mit ihnen manchmal so schwierig war, obwohl doch eigentlich alles so gut war.
Dann sah er die Mücke.
Sie lauerte im Schatten des Fernsehers, der an einem Metallarm von der Wand hing. Anton griff die Zeitschrift auf dem Nachttisch, rollte sie zusammen und schob den Stuhl mit der Ledersitzfläche unter den Fernseher. Langsam hob er die Rolle, bis sie nur zwei Handbreit über der Mücke schwebte. Er stellte sich vor, wie er zuschlug. Hart, ansatzlos. Es war...
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