Schweitzer Fachinformationen
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Es war schwül an diesem Abend. Nicht das leiseste Lüftchen regte sich im ORF-Park. Der Landeshauptstadt stand eine weitere Tropennacht bevor. Bereits zum elften Mal in diesem Jahr würde es nachts nicht unter 20 Grad Celsius abkühlen. Ein neuer Rekord in Graz, und vermutlich nicht der letzte, der mit dem Klimawandel einherging.
Sandra Mohr schlug nach einer Gelse auf ihrem Unterarm. »Verdammtes Mistviech!« Etwas Mineralwasser schwappte aus ihrem Glas und ergoss sich auf ihren rechten Slingback. Ein unschöner dunkler Fleck breitete sich auf dem sandfarbenen Wildlederschuh aus. Das Insekt war auf und davon. Bestimmt lauerten unzählige dieser Blutsauger im Schilfgürtel, der den Funkhausteich säumte. Spätestens in der Dämmerung würden sie sich gierig auf die Besucher stürzen, die sich zur Lesung zwischen Schilf und Seerosen eingefunden hatten. Mittlerweile breiteten sich hierzulande auch exotische Gelsenarten wie die Asiatische Tigermücke aus, die Zika-, Dengue- und Chikungunya-Viren übertragen und tropisches Fieber und andere unangenehme Symptome auslösen konnte. Der Einwanderer war jedoch auffällig schwarz-weiß gemustert, während die schlammbraune Stechmücke, die Sandra gerade entkommen war, vermutlich zu den rund 100 heimischen Hausgelsenarten zählte, die zumeist keine ärgeren Beschwerden verursachten als einen juckenden Gelsendippel. Der Gelsenspray steckte freilich in einer anderen Handtasche, die zu Hause geblieben war. Wie immer, wenn Sandra Taschen wechselte, fehlte etwas, das sie gerade benötigt hätte.
»Hast du sie erwischt?« Der gut aussehende Mann an ihrer Seite hatte den versuchten Totschlag beobachtet.
Sandra verneinte. »Dafür ist jetzt ein Fleck auf meinem neuen Schuh«, sagte sie, auf ihre Fußspitze blickend.
»Es ist doch nur Wasser«, beschwichtigte Hubert lächelnd. »Da bleibt bestimmt nichts zurück.« Er hob sein Weinglas und prostete ihr zu. Seine ozeanblauen Augen lächelten mit.
Wie lange kannten sie sich eigentlich schon, fragte sich Sandra. Das erste Mal war sie ihrem neuen Nachbarn vor neun Monaten im Stiegenhaus begegnet, rechnete sie nach, während Hubert einen Schluck Sauvignon Blanc trank. Kaum war er in ihr Wohnhaus eingezogen, lief er ihr ständig über den Weg - im Supermarkt, in der Tiefgarage, im Aufzug. Und zwar dermaßen häufig, dass sie ihn anfangs für einen Stalker hielt. Dass ein lediger, fescher, intelligenter, gebildeter, amüsanter Mann in den besten Jahren hinter ihr her war, kam der Abteilungsinspektorin des LKA Steiermark höchst verdächtig vor. Wäre er ein Verbrecher gewesen, den sie irgendwann überführt hatte und der sich, wieder auf freiem Fuß, an ihr rächen wollte, hätte sie seine Motivation ja verstanden. Aber so? Hubert Müllner konnte jede Frau haben. Weshalb wollte er ausgerechnet sie?
Dann wurde Sandra bei einem misslungenen Polizeieinsatz schwer verletzt, und Hubert wich noch immer nicht von ihrer Seite. Seither waren sie zusammen - mehr oder weniger. Es war kompliziert. Wie immer bei ihr. Mittlerweile kannte sie auch seine Schwächen. Insbesondere seine Bindungsangst ließ sie manchmal zweifeln, aber nicht verzweifeln. Schließlich war niemand perfekt. Auch sie nicht. Dass sie in Sachen Mord und Totschlag ermittelte, machte ein Leben mit ihr auch nicht unbedingt einfach. Und so nahmen sie ihre Beziehung hin, wie sie war - ohne Ansprüche zu stellen oder den anderen verändern zu wollen. Theoretisch war das sehr reif und vernünftig, praktisch aber nicht immer ganz einfach. Doch die Liebe war kein Wunschkonzert. Wer wusste das besser als sie, die früher oder später immer enttäuscht wurde.
Sandra richtete ihren Blick zu den Klappbänken, die vor der Bühne am Teich hintereinander aufgereiht waren. Einige Besucher hatten bereits Platz genommen. Andere standen plaudernd beisammen, die meisten mit einem Getränk in der Hand. Außer Hubert kannte sie hier niemanden persönlich. Allerdings hatte sie die blonde Frau im knöchellangen weißen Sommerkleid, die abseits für ein Interview vor der Kamera stand, schon einige Male in Zeitungen und Magazinen gesehen. Beatrice Franz würde in zwölf Minuten aus ihrem neuesten Roman lesen, verriet Sandra ein Blick auf die Uhr. Am Buch der Grazer Starautorin hatte sie sich selbst bereits mehrfach versucht, war jedoch immer wieder darüber eingeschlafen. Nach 30 Seiten hatte sie es endgültig aufgegeben und das Buch Andrea geschenkt. Ihre Freundin litt neuerdings unter Schlafstörungen.
»Die sind richtig gut«, riss Hubert sie aus ihren Gedanken. Er meinte das junge Damenquartett, von dem Sandra noch nie etwas gehört hatte.
Steirische Harmonika, Gitarre, Schlagzeug und Gesang verschmolzen zu progressiver Volksmusik, die Einflüsse von Blues und Jazz erkennen ließ. Einem stimmungsvollen Abend stand nichts im Wege, außer den lästigen Gelsen und ihrem Bereitschaftsdienst.
Sandra schob den Gedanken, dass sie jederzeit ein Anruf aus der Landesleitzentrale erreichen konnte, beiseite und trank noch einen Schluck Mineralwasser.
Im nächsten Moment machte Hubert sie mit dem charmanten Kulturredakteur des ORF Landesstudios Steiermark bekannt. Er sei kurzfristig für seine erkrankte Kollegin, die für die Veranstaltungsreihe zuständig war, eingesprungen, erklärte er und stellte ihnen die Praktikantin an seiner Seite vor. Ihr klobiges schwarzes Brillengestell erinnerte Sandra an den alten Fernsehapparat ihrer Großmutter. Was thematisch zwar zum Funkhaus passte, jedoch nicht zu den jugendlichen Zügen der Brillenträgerin, die vermutlich intellektueller, vielleicht auch älter wirken wollte, als sie war. Sonst hätte sie wohl zu einem schmeichelhafteren Modell gegriffen und nicht zu diesem Monstrum, das ihr fein gemeißeltes Näschen zu erdrücken drohte. Doch über Mode und Geschmack ließ sich bekanntlich streiten. Auch in der Literatur, selbst wenn sie aus der Feder einer hochgelobten Schriftstellerin stammte. Kaum hatte sich die Praktikantin auf die Toilette verabschiedet, steuerte Beatrice Franz schnurstracks auf sie zu.
Als Literaturübersetzer und Autor kannte Hubert die preisgekrönte Literatin freilich persönlich, wie die meisten Schriftsteller, die in der heimischen Szene Rang und Namen oder zumindest Talent hatten.
Die beiden Männer wurden mit Wangenküssen begrüßt. Für Sandra hatte Beatrice Franz nur ein simples »Hallo« übrig.
Die verkniff es sich, auf den respektlosen Gruß mit einem Spruch ihrer Volksschullehrerin zu antworten: >Der Hallo ist schon gestorben und liegt gleich neben dem Heast am Friedhof.< »Guten Abend«, grüßte sie stattdessen zurück.
»Darf ich dir Beatrice Franz vorstellen?«, fragte Hubert förmlich. »Bea, das ist Sandra Mohr, meine Nachbarin.«
Wie jetzt? Bloß seine Nachbarin? Sandra rang sich ein Lächeln ab, das die Schriftstellerin gekünstelt erwiderte. Während sie sich eine goldblonde Locke aus dem Engelsgesicht strich, wanderten ihre wasserblauen Augen zum feschen Hubert zurück. Dort blieben sie kleben, ohne Sandra eines weiteren Blickes zu würdigen.
Hatte es das Liebkind des Feuilletons auf ihn abgesehen? Verhielt sie sich deshalb so abweisend Sandra gegenüber? Oder war sie bloß angespannt vor ihrem Auftritt? Sandras Abneigung gegen sie schien jedenfalls auf Gegenseitigkeit zu beruhen - wie die Vertrautheit zwischen Hubert und Bea.
Schweigend beobachtete Sandra, wie eine Gelse am Schwanenhals der Autorin saugte, bis der Tontechniker mit einem Headset an sie herantrat und ihr beim Aufsetzen half - ein ziemliches Gewurschtel mit den vielen Haaren.
Hubert sah ihrer anmutigen Gestalt hinterher, die im Schilf verschwand.
Hübsch war sie ja, außerdem auch noch klug und talentiert, musste Sandra zugeben. Ihr Charakter ließ jedoch zu wünschen übrig. »Was für eine Trutschn«, sagte sie. »Ist die immer so arrogant?«
»Aber geh«, beschwichtigte Hubert. »Du musst Bea nur näher kennenlernen.«
Nein, das musste sie nicht. Sandra spülte ihren Groll mit einem weiteren Schluck Mineralwasser hinunter. Ihre Lust, sich die Lesung anzuhören, tendierte gegen null.
»Kommst du jetzt?« Hubert nahm sie an der Hand und steuerte zwei freie Plätze an - ausgerechnet in der ersten Reihe.
Sollte Sandra unverhofft aufbrechen müssen, würde es jeder mitbekommen, auch die Autorin auf dem Floß direkt gegenüber. Kein Wunder, dass bei Lesungen die ersten Reihen meist am längsten oder - bis auf die reservierten Plätze für Ehrengäste - weitgehend frei blieben. Allerdings nicht bei diesem Andrang, der heute Abend herrschte. Entweder setzten sie sich ganz vorne hin oder sie blieben hinter den letzten Bankreihen stehen, was Sandra lieber gewesen wäre. Doch jetzt war es zu spät für einen unauffälligen Rückzug. Der Moderator hatte sich bereits in Position gebracht, um die Künstlerinnen und das Publikum zu begrüßen.
Artiger Applaus setzte ein.
Hubert zog Sandra zu sich auf die Bank.
Ihre Frage, weshalb er sie der Schriftstellerin bloß als seine Nachbarin vorgestellt hatte, verschob sie auf später. Immerhin verband sie beide doch mehr als nur die Tatsache, dass er im vergangenen Herbst die Wohnung unter ihrer bezogen hatte. Bindungsangst hin oder her. Gedankenverloren klatschte Sandra mit den anderen mit, während die Autorin auf hohen Keilabsätzen auf die Bühne stolzierte.
Sie warf ihre Lockenpracht in den Nacken, um sich anschließend manieriert auf dem Sessel niederzulassen. Ihr Buch legte sie vor sich auf das...
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