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Alkohol. Der Grazer Schriftsteller Wolfgang Bauer (1941–2005) begann im Jahre 1993 eine Prosa-Lesung im Kunsthaus Mürzzuschlag mit der Frage: „Was täte der Alkohol ohne die Menschen?“ Verblüffung gelungen. Die Frage stellte alles, was man über Alkohol zu wissen meinte, auf den Kopf, so wie in Wolfgang Bauers Theaterstücken, nicht nur in seinen sogenannten Mikrodramen, manche Dinge auf dem Kopf stehen. Nach der Lesung im Gasthaus, mit verschiedenen Alkoholika auf dem Tisch, ließ die surreale Wirkung zwar nach, hinterließ aber eine seltsame Gesprächigkeit über das Trinken von Alkohol. Das reichte von Bier und Most über Wein bis zur Vielfalt von Gebranntem. Während man beim Essen durchaus ausführlich und lange über Speisen, Rezepte und Zubereitungen sprechen kann, ist es einigermaßen merkwürdig, beim Trinken ausführlich und lange über das Trinken zu sprechen. Man könnte einwenden, es gebe aber doch Trinklieder, noch dazu schöne, und die sprechen sehr wohl über das Trinken („Setzt das Gläschen an den Mund“, aber nicht im Weinkeller, sondern „in den Rosen,/Und trinkt es aus bis an den Grund…“). Gegeneinwand: Wer erinnert sich, jemals in einer Tischrunde Trinklieder gesungen zu haben, es sei denn, er war bei einer schwedischen Familie zum Abendessen eingeladen? Oder er liebt das Schunkeln.
Unter meine Rückblenden in Kindheit und Jugend in Kärnten mischen sich früher oder später dörfliches Essen und Trinken und die Rolle, die Alkohol dabei spielte. Nach dem Krieg war Essen nicht, wie heutzutage jede Nase feststellen kann, immer und überall zugänglich. Auch auf dem Lande nicht, weniger aus Mangel, sondern weil Essen, besonders im bäuerlichen Tagesablauf, mit Zeitordnung verknüpft war. Frühes Frühstück fast immer mit heißer Milch und Sterz, die sogenannte Vorjause um ungefähr 10 Uhr, Mittagessen immer warm, zum Beispiel Knödel in der Suppe, die sogenannte Nachjause um ungefähr 16 Uhr, häufig mit Speck, an besonderen Tagen der „schöne“, sonst der schon etwas überständige, dann Abendessen. Essen zubereiten, das hieß, die Frauen gingen es „richten“. Wenig Zwischendurchnascherei.
Im Tagesablauf weniger und seltener zugänglich war Alkohol. Die Gemischtwarenhandlung im Dorf verkaufte keinen außer Bier, höchstens vielleicht auch noch Rum für Mehlspeisen. In das Gasthaus meiner Tante kamen die Bauern erst nach ihrer Feldarbeit, und die Arbeiter nach Schluss der Schicht. Sie arbeiteten an der Regulierung des Gailflusses und bei der sogenannten Moosentsumpfung, der Trockenlegung saurer Wiesen, die vorher bestenfalls Pferdefutter hergaben, hernach aber Anbauflächen für fast alles waren. Die vormaligen Feuchtareale waren mit Kanälen durchzogen – eiskaltes Wasser mit merkwürdigem Geschmack, von dem die Leute meinten, es eigne sich nicht zum Trinken. Deshalb musste es mitgebrachtes Quellwasser sein, kalt gestellt in eben diesem Mooswasser.
Viele Arbeiter gingen nicht auf Schicht nach der Uhr, sondern auf sogenannten Akkord, d. h. sie übernahmen nicht zu knapp angesetzte Laufmeter an Erdaushub. Wenn sie schufteten, waren sie früher fertig. Einige taten das, um eher zu Hause zu sein und in ihrer kleinen Landwirtschaft zu arbeiten. Andere, häufig Junggesellen, schufteten, um früher mit dem Feierabend zu beginnen, aufs Motorrad zu steigen und dann mit ihren Freundinnen einige Kilometer zu fahren – nicht allzu weit, denn Benzin hatte seinen Preis. Manche, nicht viele, kehrten früher ein und begannen zu trinken: zuerst Bier, selten sofort Wein. An Samstagabenden – die Arbeitswoche endete nicht schon mit dem Freitag – nahm das Trinken Fahrt auf. Ich habe, noch nicht als kleiner Bub, sondern erst etwas später begriffen, was Alkohol damals, nach dem Kriege, bedeutete. Man konnte es mithören, im Gasthaus: Vom Getränk befeuert wurden Kriegserlebnisse erzählt, und immer waren es Erlebnisse der Einzelnen, kaum je war es die Frage nach dem Krieg überhaupt, nach dem Warum. Man hatte überlebt, und gar nicht selten waren da Märsche und Fahrten gewesen, die man jetzt, im Frieden, leider wohl nie mehr unternehmen werde und die deshalb einmalige Erfahrungen bleiben würden. Und oft hatte ich den Eindruck, alles in allem sei der Krieg eine nicht nur einprägsame, sondern auch interessante Angelegenheit gewesen.
Ein Bauer an der Bergstation eines Schilifts führte ein gutes Gasthaus, einen blitzsauberen Stall, war weithin bekannt für seine leicht angeselcht gesottenen Würste und vermietete Sommer-frische-Zimmer für Gäste aus der Bundesrepublik. Beim Wein begann er zu erzählen: „Eines Abends sagte der Alte zu uns: ‚Jungs, morgen früh…‘“ Der Alte, das war der Kommandant seiner Kompagnie. Der Erzähler hatte die Wehrmachts-Erzähl-sprache beibehalten, aufgefrischt wohl durch die notorischen Landser-Hefte aus dem Pabel-Verlag. Der Alkohol half mit, Erzählen und Schwadronieren zu vermengen. Ein Schmied zum Beispiel ging nach etwa vier Achteln verlässlich von Tisch zu Tisch, stand stramm, salutierte und erstattete Meldung, irgendeine. Oft meldete er lediglich, dass er angetreten sei. Doch die, die Schlimmes erlebt hatten und es nicht mehr aus dem Kopf brachten, redeten wenig oder gar nicht vom Krieg.
In den späteren fünfziger Jahren kamen schnelle Fahrten über die nahe Grenze nach Italien in Mode, hinunter zum billigen Wein. Man wusste, dass es dort, wo die Fernlaster standen, auch gutes und preiswertes Essen gab. Jahrelang war das Restaurant Diana in der Kleinstadt Tricesimo, kurz vor Udine, der Inbegriff von Brathuhn mit Rosmarin und Wein. Immer wurde dann daheim von den großen Tischen für große Familien samt Nonno und Nonna und den Bambini erzählt, die, wo gibt’s denn so was, bis in den späten Abend mit dabei sein durften. Die Fahrt nach Hause über die Grenze war nicht ohne Risiko, obwohl das Promille-Limit noch bei null-komma-acht lag. Man sprach von drei Achteln Wein, aber zu denen kamen, die Fahrt sollte sich ja auszahlen, noch einige dazu, denn man konnte doch was vertragen. Dazu die erlaubten zwei Liter pro Person in der stroh-umflochtenen Chianti-Flasche und dann noch zwei weitere, irgendwie geschmuggelte.
Das Dorfgasthaus als Ort des Trinkens: Einige Bauernburschen kamen mit Motorrädern, und wir wussten, wer mit welchem. Durchs Fenster war zu beobachten, wie der Alkoholpegel stieg, wer wann austrat und sich dann wieder vor sein Glas setzte. Somit war sein Motorrad dran. Mit einem Nagel manipulierten wir das Zündschloss, und dann: aufsteigen und abfahren. Das Gefühl der Überwindung des Körpergewichts und sonstiger Erdenschwere, allein durch Aufdrehen des Gasgriffs in der Faust, das Fahren, das im Gegenwind zum Fliegen wurde: gut nachzulesen in dem sorgfältig erzählten Roman Der Amateur von Walter Kappacher. Drinnen in der Gaststube war dann irgendwann eine gesungene Mischung aus Durst und Geldknappheit zu hören: „Ja is denn kana do, der wos an Lita zohlt?“ Das Lied hatte nur diese eine Zeile und wurde so oft wiederholt, bis sich jemand fand, der zahlte. Eine alte Trinkerin tauschte gerne legfrische Eier gegen ein Achtel Rum ein, und beim Gedanken daran holt mein Gedächtnis jetzt die Verkleinerungsformen fürs Alkoholische hervor. Noch ein Halbile (einen halben Liter Wein), noch ein Pudile (Schnaps in einer kleinen Bouteille, sprachlich noch aus der Franzosenzeit), das Schweigile (für das Stadium zwischen Schwips und Rausch, woher?): Wörter, hinter denen der Dialekt die Promille versteckt und Alkoholmenge und Rausch semantisch entschärft. Doch diese Verniedlichung zwinkerte gleichsam mit den Augen. Je mehr Geld – ohnehin in Maßen – in Umlauf kam, desto weniger vereinsamte der Alkohol. Die alte Frau mit den legfrischen Eiern für ihren Rum fiel nur auf, weil sie eine Frau war und zudem ohne Bargeld. Ein Mann hatte es leichter, Trinker zu sein und auch so genannt zu werden. „Den hat der Alk“ galt als witzige Formulierung. An einem Alkoholiker die Krankheit zu erkennen, kam noch niemandem in den Sinn. Aber natürlich ließ man den Alkohol auch in harmloseren Quanten, als Mittel der Geselligkeit, zu seinem Recht kommen. Abstinenzler habe ich keine kennen gelernt, bin auch selbst keiner geworden. In späteren Jahren gab es durchaus Gelegenheiten, bei denen man den Punkt übersah und den Alkohol rumoren ließ. Aber das Gedächtnis ruft lieber andere Anlässe auf, zum Beispiel an der Seite meiner Frau, mit einem in Wien abgeholten Preisgeld in der Tasche, gelassen autoflanierend, in die Wachau, nach Dürnstein, in den Kastaniengarten des Gasthofs Richard Löwenherz mit seiner lobesamen Speisekarte, hoch über der Donau: Wo denn sonst sollte ein Grüner Veltliner getrunken werden?
Den ersten Alkoholiker, der sich selbst als solchen bezeichnete, aber „trocken“ war und auch ein autobiografisches Buch darüber geschrieben hatte, lernte ich in der Person des Schriftstellers Ernst Herhaus (1932–2010) kennen. Das Goethe-Institut in Boston schickte ihn auf Lesereise quer durch Amerika. Er las an der University of Massachusetts in Amherst aus seinem Buch Kapitulation. Aufgang einer Krankheit, wobei Kapitulation die entscheidende Erkenntnis über Alkoholabhängigkeit ist, der Zusammenbruch des Glaubens, man könne,...
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