Schweitzer Fachinformationen
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Ich bin fünf Jahre alt.
Fast genau.
Ich weiß das. Fünf Jahre und ein paar Tage und ein paar Nächte.
Es ist, als hätte ich eben erst am Küchentisch gesessen - mit Mama auf der einen Seite, Papa auf der anderen und Eliot und Julia gegenüber - und fünf Kerzen auf einmal ausgepustet, sie standen mitten auf der Torte und waren rot und auch ein kleines bisschen blau, aber nur ganz unten, wenn man ganz genau hinguckte.
Ein paar Tage und ein paar Nächte.
Ich räuspere mich und lache, wie immer, wenn ich singe. Ich mag dieses Lied furchtbar gern. Hochsollsieleben. Und wenn ich ganz laut singe, prallt meine Stimme an der Decke und an den Wänden ab und kommt in meine Arme zurück, ich kann sie auffangen, sie festhalten.
Hochsollsieleben. Hochsollsieleben.
Wenn ich singe, höre ich den Fernseher nicht. Kinderfernsehen. Ich habe fast den ganzen Tag ferngesehen. Genau wie gestern. Und gesterngestern. Das durfte ich früher nie. Jetzt darf ich es.
Ich stehe auf, es ist schwierig, auf dem Boden sitzen zu bleiben, wenn meine Beine hüpfen wollen, und das wollen sie oft. Ich hüpfe aus dem Wohnzimmer, das groß ist und in dem ich vorsichtig sein muss, wegen dem Sofa, das fast neu ist, und dem Tisch, der aus Glas ist und den ich nicht anfassen darf, weil er dann Flecken bekommt, die aussehen wie meine Finger.
Ich hüpfe den ganzen Weg bis in Eliots Zimmer, er sitzt mit angeknipster Lampe auf seinem Schreibtischstuhl und tut so, als würde er lesen, aber das Buch liegt nur aufgeschlagen vor ihm. Er kann lesen, das weiß ich, er geht schon in die zweite Klasse. Eliot ist in den letzten Tagen netter geworden. Wahrscheinlich, weil ich Geburtstag hatte. Ich bin nicht mehr vier, ich bin jetzt groß. Er schubst mich nicht mal mehr von seiner Rennbahn weg, die er immer ganz oben auf den Schrank stellt, nur damit ich nicht drankomme. Und er hat mich gewinnen lassen, zwei Mal, mit dem blauen Auto mit dem gelben Streifen auf dem Dach, das hat er früher nie gemacht.
Ich darf immer nur auf einem Bein hüpfen. Abwechselnd. Wenn ich mit beiden Beinen gleichzeitig hüpfe, muss ich zurück und noch mal von vorne anfangen. Das habe ich mir selbst ausgedacht.
In Julias Zimmer steht ein Puppenhaus. Es ist sehr alt. Und ich darf es nicht anfassen. Wenn ich es doch tue, rennt Julia sofort in mein Zimmer, greift sich mein Puppenhaus und schüttelt es ganz doll. Aber meine große Schwester schläft. Auf dem Bauch und mit zur Seite gedrehtem Gesicht. Sie sieht nicht, dass ich die winzigen Puppenmöbel, die im obersten Stock stehen sollen, nach unten stelle.
Jetzt darf ich nicht hüpfen. Dann würde sie mich bemerken. Ich muss mich rausschleichen. Wenn Julia aufwacht und mich am Puppenhaus entdeckt, fängt sie an zu schreien und boxt mir vielleicht gegen den Arm.
Mama sitzt auf einem Stuhl in der Küche. Sie lacht. Nicht so, dass man es hört, aber ihr Mund ist fröhlich, als sie auf meine hopsenden fünfjährigen Füße blickt. Sie ist schon lange fröhlich, das ist schön. Wenn Mama lacht, macht es nichts, wenn man gelben Orangensaft direkt aus der großen Tüte trinkt und ein bisschen Saft am Kinn runterläuft und auf den Boden tropft, oder wenn beim Backen Zucker und Mehl auf dem Küchentisch landen. Ich ziehe mich an der Tischkante hoch und setze mich auf Mamas Schoß. Auf Mamas Schoß ist es immer leicht, mit ihr zu reden, dann kann ich mein Ohr an ihren Bauch und ihre Brust legen und ihre Stimme hören, die schon tief in ihr klingt, bevor sie rauskommt.
Nachdem ich bei Mama gesessen habe, hopse ich immer abwechselnd auf einem Bein in den Flur zu dem knarrenden Korbstuhl in der Ecke, zu Papa. Da sitzt er gerne und liest seine Zeitungen, weil es bei den Schuhen und den Jacken und der großen Vase mit den Regenschirmen wohl leiser ist. Ich lausche. Ja, es stimmt, es ist leiser. Und der Stuhl ist groß, fast wie ein Sessel. Ich habe genug Platz neben ihm, und ich glaube, es gefällt ihm, wenn ich so sitze, dann kann er seine Arme bewegen und seine Zeitungen umblättern, die rascheln und groß sind.
Eliot und Julia und Mama und Papa. Ich glaube, ich mag sie jetzt noch lieber als vorher. Ich darf so viel reden, wie ich will. Und sie hören zu.
Es ist schön, fünf zu werden.
Auch ein paar Tage später noch.
Ich fange wieder an zu singen. Hochsollsieleben. Hochsollsieleben. Ich singe laut, superlaut, so muss ich nicht hören, wie es an der Tür klingelt. Und noch mal klingelt. Aber irgendwann höre ich auf zu singen und höre es doch, ein bisschen. Ich springe von Papas Stuhl und renne, so schnell ich kann, und wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle und hochspringe, komme ich gerade so an den länglichen Knauf, den man drehen muss, wenn man die Tür aufmachen will.
Das hat Mama mir beigebracht. Dass man hinter sich abschließen muss. Dass der glänzende Knauf immer wie ein Strichmund aussehen muss und nicht wie eine Nase.
Diesen Knauf versuche ich jetzt zu drehen.
Eine schöne Tür.
Dunkles, massives Holz, frühes zwanzigstes Jahrhundert. Sie passt gut zu dem dumpfen Geläut, das zaghaft den runden Treppenaufgang füllt, von den ein wenig ausgetretenen Stufen widerhallt, der hohen weißen Stuckdecke und der geblümten Tapete, die von Stock zu Stock immer echter zu blühen scheint. Ewert Grens steht im dritten Stock in einem Haus in der Stockholmer Innenstadt vor einer Wohnungstür und drückt ein drittes Mal auf die Klingel.
»Es ist jemand da. Ich höre es den ganzen Tag. Durch den Wohnzimmerfußboden, im Flur, sogar im Badezimmer. Haben Sie eine Ahnung, wie dünn die Decken in diesem Gebäude sind?«
Eine Stimme in seinem Rücken, irritierend und fistelig. Grens dreht sich nicht um, antwortet nicht und klingelt stattdessen ein viertes Mal an der Tür.
»Irgendjemand singt - wahrscheinlich eins der Kinder, da bin ich mir ziemlich sicher, sie haben drei. Und der Fernseher läuft ununterbrochen, jedenfalls klingt es so, seit Tagen. Nicht nur tagsüber - auch nachts. Ich habe Sie angerufen, ich wohne in der Wohnung obendrüber.«
Jetzt sieht der Kriminalkommissar den Menschen hinter ihm an. Ein Mann um die vierzig, die Arme vor der Brust verschränkt, einer dieser Menschen, die er nicht mag, ohne zu wissen, warum, einfach so aus dem Bauch heraus. Einer, der sein Ohr an Türen legt, um zu lauschen.
»Hoch soll sie leben.«
»Wie bitte?«
»Das singt das Kind. Hoch soll sie leben. Immer wieder.«
Ein Nachbar, der ein merkwürdiges Geräusch gemeldet hat.
Und erneut anrief, als aus dem merkwürdigen Geräusch ein merkwürdiger Geruch geworden war.
»Ich muss Sie jetzt bitten, in Ihre Wohnung zurückzugehen.«
»Aber ich habe Sie .«
»Ja - und das haben Sie richtig gemacht. Aber jetzt möchte ich, dass Sie in Ihre Wohnung zurückgehen. Ich kümmere mich darum.«
Grens wartet, bis er allein im Treppenhaus steht, dann drückt er ein letztes Mal auf die Klingel, länger diesmal. Als niemand öffnet, bückt er sich, um die Briefklappe in der Tür anzuheben, doch er kommt nicht dazu. Auf der anderen Seite der Tür versucht jemand, den Knauf umzudrehen. Jemand, dem es nicht gelingt, der es wieder probiert. Er hört, wie jemand auf dem Fußboden landet.
»Polizei.«
Hops, hops, als würde jemand springen.
»Polizei. Machen Sie die Tür auf.«
Ein Schloss, das mühsam geöffnet wird. Eine Klinke, die sich bewegt.
Ewert Grens trägt nicht gerne Waffen. Jetzt aber zieht er seine Pistole aus dem Schulterholster und tritt einen halben Schritt zurück.
Ihre Haare sind ziemlich lang. Hell. Er kennt sich mit Kindern nicht aus, aber er schätzt sie auf vier, höchstens fünf Jahre.
»Hallo.«
Sie trägt ein rotes Kleid. Mit großen Flecken auf Brust und Bauch. Sie lächelt, ein Gesicht mit noch mehr Flecken, vermutlich Essensreste.
»Hallo. Sind deine Mama oder dein Papa zu Hause?«
Sie nickt.
»Gut. Kannst du sie holen?«
»Nein.«
»Nein?«
»Sie können nicht laufen.«
Eigenartig. Wie dieser Geruch - dieser aufdringliche, stechende Geruch, den er so gut kennt, der ihm schon in dem eleganten Treppenhaus schwach in die Nase gestiegen ist und ihm mit unverminderter Intensität entgegenschlug, als das Kind mit dem fleckigen Kleid die Tür öffnete -, wie dieser Geruch erst Teil seines Bewusstseins wird, nachdem er ein paar Schritte in den Flur hinein gemacht hat und vor einem Mann steht, der zusammengesackt auf einem Stuhl zwischen Hutablage und Schuhregal sitzt.
»Das ist mein Papa.«
Das größere Loch ist das rechts in der Stirn. Die Kugel ist frontal eingetreten, aus geringer Distanz, vermutlich ein Revolver und ein Teilmantelgeschoss, die eine Hälfte Blei, die andere Titan.
»Ich hab's ja gesagt.«
Das zweite Einschussloch ist etwas kleiner, der Treffer ist in schrägem Winkel unterhalb der linken Schläfe erfolgt.
Ewert Grens ist zu gelähmt, um zu verhindern, dass das...
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