Schweitzer Fachinformationen
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8. 9. 1989
Besuch U. Hegewald. Reden die halbe Nacht über Infantilität und Unterwürfigkeit der hier Aufgewachsenen. Selbst Wolfgang, er ist nun schon fünf Jahre hier weg, wäre dergleichen fortwährend anzumerken.
Zerknirschungsgesichter.
Blatternarbige Häuser.
Uringeruch und Bahnpolizei.
Gestern früh mit Birgit in verzweifelter Stimmung nach Heidenau. Natürlich werde ich kontrolliert, belege den Polizisten: Seit zwanzig Jahren kontrolliere man mich, aber nun nicht mehr lange.
Freilich hat es auch sein Tröstliches, daß ich besonders von diesen armseligen Bahnhofsmützen mit Vorliebe kontrolliert werde: Völlig verbürgerlicht kann ich noch nicht aussehen. Nach stundenlangem Laufen endlich wieder Gefühl der Leichtigkeit: Die Kirnitzsch im Grund, ein Wasser von rätselhafter Sauberkeit, manchmal schimmert sie türkisfarben durch die Bäume zum Hangweg herauf.
Am Schluß, Waldausgang, ein »kommen Sie mal her hier«, gleich vom Motorrad aus. Offenbar ein sogenannter Grenzhelfer. Unsere Antwort, vielleicht eine kleine Sensation für uns selbst, lautet, beinahe im Chorus: »Wir denken nicht daran.« Das Aufheulen des davonfahrenden Motorrads kommt uns vor wie ein langgezogener Wutschrei. Freilich bekommt meine Frau hernach eine Art hysterischen Anfall. »Dieses Land, dieses Land.« Ich habe ihr versprochen, mich nun doch um ein Stipendium in Worpswede zu bewerben, nicht gleich um zu bleiben, sondern um eben einen Fuß in den Westen zu setzen. Freilich hinsichtlich dieser Entscheidung auch schlechtes Gewissen: Ist ja doch eine Flucht aus der schlichten Lebenspraxis, da im Westen vieles viel geschmierter geht, die Entfremdung des zu Hause hockenden Künstlers daher gewiß größer ist. Hier brauche ich nur in die sogenannte Kaufhalle (eigentlich ein ehrlicher Name) zu gehen, um einigermaßen Bescheid zu wissen. Hinzu käme dieses Im-Stich-Lassen der anderen. Ein Fuß drüben ist früher oder später sowieso der ganze Kerl, siehe Uwe Kolbe, Wolfgang Hilbig usw. Aber der Entschluß steht fest, falls sich hier nicht bald eine Änderung anläßt. Dieser fortlaufende Landeskummer macht provinziell. Das immergleiche Gejammer über Unfreundlichkeit und Verfall macht utopie- also kunstunfähig. Längst bin ich Meyers Hund, der fortwährend bellend ums Haus läuft.
11. 9.
Früh im Halbschlaf höre ich vom Übertritt der ersten 1000er Pulks von Ungarn nach Österreich.
Gesellschaft bei Lühr: »Ich-will-hier-raus«-Bazillus. Ab heute alkoholfreie Woche. Der Depression ist nur mit Arbeit zu begegnen.
Das gespenstische Schweigen der Zeitungen.
12. 9.
Die fortwährenden Übertritts-Reportagen aus dem Westradio. Das pausenlose Gemurmel der Hiergebliebenen: »Was soll nur werden.« Keine Solidarität. Eher das Gefühl, zum Häuflein der Dummen zu gehören.
Canetti, in »Masse und Macht«, schade, daß ich das Buch zurückgegeben habe, erzählt von einem orientalischen Despoten, der seine Stadt evakuieren läßt: Allein ist die Macht ungestört. Nur, wenn keiner mehr da ist, kann sie wirklich grenzenlos sein.
Übertrittsinterviews: »Warum haben Sie die DDR verlassen?« »De Freiheid is ja immor de Haubtsache.« Sprachlosigkeit. Oft wird, genauso wie zu Hause, sofort das Erwartete geliefert. Derselbe Mann wäre zu Hause vor einem Mikrofon gewiß unverzüglich ins Funktionärische verfallen.
Alkoholfreie Woche hat nur einen Tag angehalten.
Mitschuld, meine, am So-Sein der derzeitigen Verhältnisse: Nicht nur die Funktionäre haben sich diesen Staat verdient, auch wir, zumindest haben wir ihn hingenommen. Allein daß ich studiert habe, zeigt, daß ich ein Lügner bin. Wäre ich kein Lügner, hätte ich nicht studieren dürfen. Freilich, meine verteufelte sächsische Höflichkeit.
13. 9.
Gestern abend im herbstlichen Biergarten. Ein Mann wollte dicht neben unserem Tisch an eine Birke pinkeln. Birgit ruft »Weitergehen!« Der Betrunkene wankt auf die offene Elbwiese. Dann kommt er schwankend an unseren Tisch: »Wer hat hier Weitergehn gerufn. Das is meine Birke. Die wäßre ich schon seit dreißig Jahrn.« Tatsächlich ist es in der Reihe die kräftigste Birke.
Daß plötzlich auch mir das Ende des Dreibuchstabenlandes möglich erscheint??. bin ich ein Rechtsaußen geworden? Jedenfalls brauchen die bloß so weiterzuwursteln, damit sich dieser Staat von selbst auflöst. Selbst ein demokratischer Sozialismus scheint mir nur noch ein schwacher Damm. Werden nicht die Leute auch während der Reformen davonlaufen? Zumal es ja dann wirtschaftlich erst einmal eher schlechter gehen wird, allein schon, weil die verrotteten Industrien in den nächsten Jahren ohnehin endgültig verrottet sein werden, wir längst auf Kosten der Zukunft leben. Andererseits ist der jetzige Kapitalismus eben auch ein Übel, und ein demokratischer Sozialismus wäre vielleicht doch eine Alternative.
15. 9.
Gestern Wanderung. Fünfundvierzig Minuten warten, kurz vor dem Bahnhof Rathen, in einem dieser unglaublich verschmutzten, wie Nachkrieg anmutenden Waggons der sogenannten S-Bahn. Essen in Königstein in der Selbstbedienung. Eine alte Frau schiebt Kartoffeln und Kraut vor deinen Augen umständlich mit der Hand auf dem Teller zurecht. Die Riesenbiere des DDR-Bürgers. Sie sind der eigentliche Generalsekretär des kleinen Mannes. Natürlich trinke auch ich eins. Mit Schwere angefüllt, gewinnt der Leibesballon kurzzeitig eine Art Zufriedenheit, lastet fester auf seinem ostdeutschen Trauerstuhl. Aber dann erhebe ich mich doch. Birgit verordnet ihren raschen Wanderschritt. Gewitter und Regen. Feuchte Gründe. Rückfahrt, vorüber an armseligen Bahnhöfen mit Reklamen von kurz nach dem Krieg, schmutzigen Durchgängen, an leeren Fenstern, verkrebsten Häusern. Armutei. Ob es mir gelingen wird, noch einmal hinzusehen? Den muffigen Landesgeschmack zu schmecken, ehe ich ins Schicki-Micki-Land abfahre?
17. 9.
Gestern kurzer überraschender Besuch von Dieckmanns. Gespräch über die stehengebliebene Zeit. Auch das Leben scheint hier zu verharren. Zu verharren im Verfall. Vielleicht fliehen die Leute, eigentlich Industriegesellschaftsmenschen, die bei sonstiger scheinbarer Geborgenheit eben auch den raschen Wechsel brauchen, ebenso vor dieser stehengebliebenen Zeit: Der immergleichen Bierflasche, dem immergleichen, langsam vor sich hin mebbelnden, unsäglich stinkenden Auto namens Trabant, den überall gleichen Städten, die, wo sie sich auch immer befinden, stets Wilhelm-Pieck-Stadt, Guben oder Eisenhüttenstadt heißen.
19. 9.
»Begründe die Notwendigkeit eines immer stärkeren sozialistischen Staates« - Moritz macht Schularbeiten. Schreibt seine Lügen rasch hin, »nur ehm ma«, aber so fängt es an und so geht es weiter, und dann bist du vierzig und hast es schon zur Hälfte verpaßt, einmal in deinem Leben geradegestanden zu haben.
22. 9.
Alles auf das System oder die Funktionäre zu schieben, entläßt den einzelnen, mich, aus der Schuld, der sich keiner entziehen kann, und schon gar nicht durch das Davonlaufen nach drüben. Immerhin war es doch eine verhältnismäßig geringe Dosis an Zwang, die zu dieser Zwangsgesellschaft geführt hat. Manchmal war es aber auch der pure Irrtum: so hielt ich Idiot die Enteignungen in der Kleinindustrie Anfang der siebziger Jahre für ökonomisch sinnvoll! Die kleine Druckerei in Zschachwitz: »Jetzt bekommen Sie einen Pausenraum«, habe ich den Leuten da erklärt. Die werden wohl gleich gewußt haben, was da für ein Trottel zu ihnen spricht. Andere Formen der Mitläuferei: Kritisches Denken, das gerade in der Art des sich kritisch Äußerns gegenüber dem Gesprächspartner Übereinstimmung signalisiert, ein Für-den-Sozialismus-Sein, das sich nicht vollständig vom Stalinismus abzusetzen wußte.
Heute nacht aufgewacht: Ich selbst hatte mich im Traum aufgefordert, nach Leipzig zu fahren und an einer der dortigen Demonstrationen teilzunehmen. Tatsächlich Angstschweiß.
Höre den Satz: »Das Land, dessen Züge nicht mehr pünktlich fahren, ist verloren.«
23. 9.
Die jetzt oft gehörte Behauptung, daß dieser Staat krank mache, kann ich an mir selbst beobachten. Eine Art durch den Schlaf gehendes Zahnweh. Birgit nach einem Besuch im Kaufhaus: Sie macht die Verkäuferinnen vor, Figuren aus dem Totenreich, starren Gesichts, fast wortlos einen Pullover haltend und wieder weglegend und das »hä-hä-nä-Gespräch« durch ein endgültiges Kopfschütteln mit gleichzeitigem Sich-Abwenden abbrechend. Das Schlimmste an diesem Land: Neben Verfall und Zerstörung und offizieller Verlogenheit, eben auch der Niedergang der Umgangsformen, die unter uns herrschende Unfreundlichkeit, die längst in den Gesichtern festgeschriebene Verdrossenheit.
Gruppierung »Neues Forum« unter offensichtlichem Verfassungsbruch als staatsfeindlich erklärt. Alles scheint auf eine Entscheidung hinzudrängen.
Lieber bezahle ich für einen Becher Quark 4,- M als weiterhin diese verlogenen Wurstblätter Tag für Tag aus dem Briefkasten zu ziehen. Gewiß prägt auch das schon die Physiognomie. Bestimmt habe auch ich längst den DDR-Blick. Zumindest an meinem schadhaften Gebiß bin ich erkennbar.
Ausgerechnet die Schlagersänger haben das Neue Forum...
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