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Freitag, 2. Juli
Richard Wagner hasste Opern. Operetten noch mehr. Aber heute Abend wurde ihm das Potpourri aus Operetten und Opernarien, das in Rheinsberg auf dem Programm gestanden hatte, erspart. Man hatte sich auf einen konzertanten Abend geeinigt, das Festival der jungen Opernsänger und Opernsängerinnen wurde aufs kommende Jahr verschoben.
Dass Richard an diesem Freitagabend im Hochsommer im Schlosshof in Rheinsberg saß, war eine Folge seiner Anpassungsfähigkeit. Immer hatte er sich angepasst. Sein ganzes Leben lang. Auch heute Abend. Er war hier, weil Clara ihn gebeten hatte, sie zu begleiten. Sie war eine großzügige Sponsorin der Kammeroper und hatte sich auf diesen Abend, der der Höhepunkt des Gesangswettbewerbs der Kammeroper gewesen wäre, gefreut. Jetzt gab es stattdessen Beethoven, Sinfonie Nr. 3, »Eroica«. Die knappe Stunde Spieldauer war der Kompromiss, auf den sich die Verantwortlichen geeinigt hatten. So war die Situation im Sommer 2021.
Das anhaltend schöne Hochsommerwetter sorgte dafür, dass das Konzert im Freien stattfinden konnte. Das Publikum genoss die schöne Abendstimmung in diesem Ambiente, nur Richard nicht, der von seinen Erinnerungen gequält wurde. Normalerweise konnte Beethoven ihm nichts anhaben. Das war nicht die Musik, die seine Kindheit und Jugend bestimmt hatte. Aber das revolutionäre Pathos der »Eroica«, von den jungen Musikerinnen und Musikern mit Leidenschaft und Tempo gespielt, erwischte ihn.
Er versuchte, an dem Orchester vorbei auf den See zu schauen. Es war der Grienericksee, der in den Rheinsberger See überging. Siebenundachtzig Hektar groß, an der tiefsten Stelle vierzehn Meter tief, hervorragende Wasserqualität. Die untergehende Sonne spiegelte sich auf dem Wasser. Mit Fakten konnte Richard seine Gefühle fast immer unter Kontrolle bringen. Er bemühte sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen. So, wie man es ihm in der Reha beigebracht hatte. Regelmäßig atmen und den Kopf umprogrammieren: andere Dinge wahrnehmen, wie den Graureiher, der einen Fisch erspäht hatte und sich ins Wasser stürzte. An die guten Dinge denken, nicht an die schlimmen. Weg aus meinem Kopf - am liebsten hätte Richard mit seiner Hand gewedelt. Gegen die Musik zu arbeiten, war schwer. Er seufzte fast unhörbar. Auch das hatte er in den letzten Monaten gelernt. Leise zu seufzen. Clara sollte von seiner Stimmung nichts mitbekommen. Sie hatte sich auf diesen Abend gefreut, trotz der Programmänderung.
Vorsichtig sah er sich um. Viele Einheimische, einige kannte er vom Sehen. Ein paar Reihen hinter ihnen saßen Martin und Christine Riemann, Schafzüchter aus Rosenwinkel. Christine war eine Freundin von Clara, die sich ebenfalls für die Kultur in der Region engagierte. Er hatte das Ehepaar zwei-, dreimal getroffen. Sie waren einander sympathisch, akzeptierten ihn als neuen Partner von Clara und stellten keine Fragen.
Normalerweise dominierte hier die Berliner Society, hatte Clara ihm erzählt. Aber für sechzig Minuten Beethoven und ohne den anschließenden Champagnerempfang kam niemand extra aus Berlin. Außer Hanno Hermann. Nach dem Konzert würde der wieder um Clara herumscharwenzeln und Richard ignorieren. Das hatte er auch neulich in Demerthin getan, als er Clara unbedingt persönlich treffen wollte. Er hielt Richard für Claras Bodyguard. Nicht in der Lage, einen Satz geradeaus zu sprechen.
Ein Kerl von einem Meter neunzig und fast neunzig Kilo, mit Migrationshintergrund und einem schwarzen Pferdeschwanz - das konnte in den Augen von Hanno Hermann nur ein Bodyguard oder ein Gangster sein. Hanno war ein Ignorant: Jenseits von klassischer Musik und gutem Essen verstand er nichts vom Leben. Obwohl er für diverse Berliner Zeitungen Musikkritiken schrieb, hatte er keine Ahnung, dass Richard der ehemalige Sprecher der Berliner Polizei war. Hanno hatte nicht mitbekommen, dass Richard vor allem wegen seines familiären Hintergrunds über Berlin hinaus eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte. Interviews, Talkshow-Auftritte - die Medien hatten sich um ihn gerissen. Damals sah er noch anders aus, hatte einen Kurzhaarschnitt und Uniform getragen. Und keinen schwarzen Designer-Anzug von Paul Smith.
Ganz leicht strich Richard über den dünnen Wollstoff. Er fühlte sich gut an. Ein Anzug, in dem man schlafen und am nächsten Morgen ins Meeting gehen konnte. Immer perfekt. »Ein Anzug, der Sie durch die Jahreszeiten begleitet.« So hatte letzte Woche der Verkäufer im Hamburger Flagship-Store getönt. Und versucht, damit den absurd hohen Preis zu erklären. Kurz hatte Richard an seine Mutter gedacht und daran, wie lange sie für ein neues Sommerkleid sparen musste. Damals. Heute bekam sie eine Rente, mit der sie gut auskam.
Richard war froh, dass Clara sich durchgesetzt und er seine notorische Knausrigkeit überwunden hatte. Auch wenn er für lange Zeit nicht mehr in Meetings gehen würde. Dieser Anzug war die Eintrittskarte zu Veranstaltungen wie diesem Konzert in Rheinsberg. Er war eine Rüstung. Dieser Anzug machte ihn unverwundbar. Fast. Allerdings müsste er nachher im Auto das Jackett ausziehen. Er hoffte, dass er auf der Rückfahrt weniger schwitzen würde. Sonst musste der Anzug am Montag in die Reinigung.
Der Defender machte ihm Angst. Trotzdem würde er ihn später fahren. Das war Teil von Claras Plan. Es gab zwar keine Premierenfeier, aber die wichtigsten Geldgeber der Kammeroper waren zu einem kleinen Umtrunk gebeten worden. Clara würde sich zwar nicht betrinken, das tat sie schon lange nicht mehr, aber trotzdem behaupten, nicht mehr fahren zu können. Er hatte mit dem kleinen Wagen nach Rheinsberg fahren wollen, sie aber hatte entschieden: durchs Bombodrom nur mit dem Range Rover.
Richard seufzte. Diesmal nicht leise genug. Clara schaute ihn kurz von der Seite an. Sie spürte sein Unbehagen und legte ihre Hand auf seinen Unterarm. »Said«, sagte sie leise. Und es funktionierte. Es funktionierte immer: Er beruhigte sich.
Nach dem Applaus verließ das Publikum rasch den Schlosshof. Nur Richard blieb sitzen. So hatte er es mit Clara verabredet. Er trank ohnehin nichts und wäre in der ausgewählten Runde der Sponsoren und Veranstalter fehl am Platz gewesen. Er atmete tief durch. Er hatte es geschafft, er hatte ein Konzert durchgehalten. Etwas, was ihm vor ein paar Monaten noch unmöglich erschienen war. Jetzt, allein im Schlosshof, konnte auch er die Abendstimmung genießen. Er schloss kurz die Augen und hörte auf die vielfältigen Vogelstimmen. Amseln konnte er erkennen, Schwalben und Spatzen. Sehr viele Spatzen.
»Richard, guten Abend, störe ich?« Martin Riemann stand plötzlich neben ihm. Offensichtlich bester Laune. Richard hatte ihn gar nicht kommen hören.
»Nein, Martin, natürlich nicht. Setz dich doch. Wieso bist du nicht beim Empfang?«
»Ich will Christine vor den Honoratioren nicht in Verlegenheit bringen. Ich verstehe nichts von Musik, und leider fällt's mir schwer, so zu tun, als sei das anders. Nichts gegen so ein Konzert, aber darüber im Anschluss zu plaudern, liegt mir überhaupt nicht. Geht's dir nicht genauso? Unsere Frauen sind kulturbeflissen, und wir sind eher praktisch veranlagt.«
Martin lachte sein selbstbewusstes lautes Lachen. Er war ein großer, gut aussehender Mann, fürs Konzert gekleidet in einem edel zerknitterten hellen Leinenanzug. Die ersten grauen Strähnen zogen sich durch das dichte dunkelbraune Haar des Mittvierzigers. Richard mochte ihn. Sie hatten sich zusammen mit den Frauen zwar insgesamt nur ein paarmal getroffen, aber die Chemie zwischen ihnen beiden stimmte.
Er kannte Martin nicht gut genug, um ihm zu sagen, dass er komplett falschlag. Richard verstand sehr viel von Musik, so viel, dass er auch heute Abend jeden falsch gesetzten Takt, jeden nur um Viertelsekunden verstolperten Einsatz überdeutlich gehört hatte. Er hätte jetzt die Noten der »Eroica« aufschreiben können. Einfach so, aus dem Gedächtnis. Er galt früher einmal als musikalisches Wunderkind. Aber das war lange her, und wen interessierte das schon? Er würde nicht darüber sprechen, noch nicht einmal mit Clara und schon gar nicht mit Martin. Also stimmte er ihm kumpelhaft zu und sprach über die herrschende Dürre und die Waldbrandgefahr, bis Martin sich auf die Suche nach seiner Frau und einem Bier machte und Richard allein zurückbleiben konnte.
Nach über einer halben Stunde kam Clara zurück, im Schlepptau Hanno Hermann. Diesmal musste er Richard zur Kenntnis nehmen, denn Clara stellte ihn charmant als ihren Freund vor.
»Oh«, sagte Hanno überrascht, »ich dachte, er sei dein .« Er stoppte abrupt. Was immer er hatte sagen wollen, blieb sein Geheimnis. Denn inzwischen hatte er sich wieder unter Kontrolle, stellte sich Richard kurz und förmlich vor, um sich gleich darauf zu verabschieden.
»Darüber muss er jetzt erst mal hinwegkommen«, lachte Clara, als er außer Hörweite war. »Auf dem Weg hat er mich gefragt, was wir beide mit diesem angebrochenen Abend machen wollen. Der hat ernsthaft geglaubt, er kann mich abschleppen.«
Richard lächelte und schwieg. Gegenüber einem Dritten hatte Clara ihn als ihren Freund bezeichnet. Ja, er war ihr Freund, aber so offen hatte sie das noch nie ausgesprochen. Es fühlte sich gut an, dass sie sich zu ihm bekannte.
Der Defender stand direkt vor dem Schloss - auf dem VIP-Parkplatz. Wo sonst? Clara ging vor Richard her. Kerzengerade wie immer. »Das war doch ein schöner Abend«, sagte sie und dann, als Richard schwieg: »Danke, dass du mitgekommen bist, trotz der Musik.« Sie strahlte ihn an. »Ich habe kaum etwas getrunken. Eigentlich könnte ich noch fahren!«
Er war dankbar für das Angebot, wusste aber, dass er es ablehnen musste. Er würde fahren. So...
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