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Vorwort
Der Laufsteg
Von Sally Ann Fennely, Laufstegmodel
Alter: gerade 18
Mach da noch 'ne Nadel rein!« Die Garderobieren liefen hektisch durcheinander wie eine Schar kopfloser Hühner.
»Wo rein?«, dachte ich. »Autsch!« Da hatte ich meine Antwort: in mich.
Es war vollkommen irre. Seit dem Casting hatten sie mindestens fünfmal meine Maße genommen. Eigentlich hatte ich gedacht, das wäre das Schlimmste an der ganzen Geschichte: fünfzig hufescharrende Models, ordentlich aufgereiht wie Rennpferde, die in schwarzen Unterkleidchen sabbernd von Cheeseburgern träumen. Eine Fleischbeschau, aber so ganz anders als das, was wir zu Hause in Alabama darunter verstehen.
Zaghaft wagte ich einzuwenden: »Es ist mir zu groß. Vielleicht sollte es lieber eins der kräftigeren Mädchen tragen.«
»Kräftigere Mädchen gibt's hier nicht«, murmelte der Garderobier mit den locker sitzenden Nadeln kaum hörbar.
Verstohlen schaute ich mich um - stimmt, er hatte recht. Letzte Woche war ich noch ein dürres, wenn nicht sogar das dürrste Mädchen südlich der Mason-Dixon-Linie. Früher nannten mich alle immer Bohnenstange und fragten, ob ich unter der Dusche tanzen müsse, um überhaupt nass zu werden. Und plötzlich bin ich die Kräftigste von allen.
»Aufstellen!«, bellte der Typ mich an. Brav stellte ich mich mit den anderen in eine Reihe.
Und versuchte, mich nur auf das Mantra in meinem Kopf zu konzentrieren: atmen, atmen, ein Fuß, der andere Fuß. Atmen. Atmen. Das Mädchen hinter mir störte meine Konzentration mit dem stärksten New Yorker Akzent, den ich je gehört hatte.
»Ich glaube, du trägst heute das Kleid«, sagte sie. Es klang mehr nach einer Warnung als nach einer Feststellung.
»Das Kleid?« Ich kapierte überhaupt nicht, wovon sie redete. Mir fiel schon das Atmen schwer. Und der Laufsteg rückte unerbittlich näher. Sie redete unverdrossen weiter.
»Jedes Jahr gibt es das eine Kleid, nach dem alle verrückt sind. Die VIPs in der ersten Reihe entscheiden, welches Kleid das Kleid wird. Siehst du?« Und damit zeigte sie zur Bühne, wo die beiden voluminösen Vorhänge sich trafen. Sie teilten und bauschten sich und fielen dann wieder zusammen, und währenddessen konnte ich einen kurzen Blick auf die Menschenmenge draußen erhaschen und wünschte mir sofort, ich hätte nicht gesehen, was mich hinter dem Vorhang erwartete.
Sie plapperte unbeeindruckt weiter. »Bis zum Herbst werden die Promis aus der ersten Reihe dieses eine Kleid auf die Zeitschriftentitel bringen, auf den roten Teppich und in die Schaufenster der großen Läden. Und normalerweise ist es ein kleines Schwarzes - so wie deins.«
Wenn man sie so reden hörte, konnte man glatt vergessen, wie umwerfend hübsch sie war. Wie bei den alten Stummfilmstars, von denen meine Großmama immer erzählte. Die waren auch aufgeschmissen, als der Tonfilm groß rauskam. In meinen Ohren klang sie so fremd, als käme sie von einem anderen Planeten. Aber hätte ich meinen Südstaatenakzent ausgepackt, hätte sie vermutlich auch kein Wort mehr verstanden. Weswegen ich, seit ich in New York war, kaum noch den Mund aufmachte. Wenn ich etwas sage, dann möglichst knapp und überdeutlich. Ein, zwei Sätze bekomme ich hin, ohne dass irgendwer was merkt. Ich muss mir große Mühe geben, mindestens dreimal so schnell zu reden wie gewöhnlich, weil mich die Leute sonst bald so ungeduldig angucken, als müssten sie mir jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen. Und meine Gedanken müssen mit dem, was ich sage, ja auch noch irgendwie Schritt halten, was gar nicht so einfach ist. Offensichtlich verstehen sie mich genauso wenig wie ich sie. Womit wir also eigentlich auf Augenhöhe sein müssten. Sind wir aber nicht. Nicht hier.
Reden ist nicht das einzige Problem. Ich versage schon beim Gehen. An meinem ersten Tag in New York habe ich den unverzeihlichen Fehler begangen, einfach wie angewurzelt stehen zu bleiben und staunend an einem Wolkenkratzer hochzuschauen, und, RUMMS, schon gab es den ersten Auffahrunfall. Ein Mann war ungebremst von hinten in mich reingelaufen und schrie mich an: »Hast du sie noch alle, blöde Tussi?« Als hätte ich mitten auf der Interstate 10 eine Vollbremsung hingelegt. Ich stellte mir den daraus folgenden Dominoeffekt vor - wie die ganze Stadt ins Straucheln gerät, alles nur meinetwegen.
Am nächsten Tag regnete es. Schon im Trockenen war es nicht einfach, heil durch die Stadt zu navigieren, ganz zu schweigen von einem sintflutartigen Wolkenbruch. Ich war so eingeschüchtert, als ich sah, wie die New Yorker leichtfüßig die Pfützen umrundeten und gekonnt die Regenschirme hoben und senkten wie in einem perfekt einstudierten Ballett, dass ich es nicht weiter als bis zum Vordach unseres Hauses schaffte. Es kam mir vor, als hätten alle anderen heimlich die Choreografie für jenen Tag einstudiert - alle, nur ich nicht. Starr blieb ich stehen und rührte mich nicht vom Fleck, bis irgendwann die Sonne wieder rauskam.
Währenddessen quasselte das Mädchen mit der unangenehmen Stimme immer noch über das Kleid. Zwischen uns und dem Laufsteg stand noch etwa ein Dutzend Mädchen.
»Es gibt noch ein anderes Kleid, das infrage käme, von einer Show gestern. Meine Freundin Adeline hat es getragen. Das könnte auch das Kleid gewesen sein. Adeline meinte, es war ein irres Blitzlichtgewitter, vor allem als sie ans Ende des Laufstegs kam. Sie hofft, dass es wirklich ihrs ist. Ich wäre gerne das Mädchen, das es seiner Freundin gönnt, das Kleid zu präsentieren. Bin ich aber nicht. Es würde mich fertigmachen, wenn sie es tatsächlich auf den Titel von Women's Wear Daily schafft. Das Kleid erscheint immer auf dem Titel von Women's Wear Daily. Und dann drehen plötzlich alle durch und wollen es unbedingt haben, und auf einmal ist es überall. Das Kleid kann über Nacht zum Star werden und das Model, das es trägt, gleich mit. Das Mädel vom vorletzten Jahr soll angeblich gerade eine Rolle im neuen Woody-Allen-Film bekommen haben. Ein ganz neues Gesicht, genau wie du. Du weißt ja, das neue Gesicht ist man nur einmal. Und das Kleid trägt meistens entweder das neue Gesicht oder ein sehr bekanntes Gesicht. Und jetzt macht Woody Allen ihr neues Gesicht weltbekannt! Meinst du, er ist pädophil? Ich will das gar nicht glauben.«
Sie schien keinen Gedanken ans Atmen zu verschwenden, während ich an nichts anderes denken konnte. Noch acht Mädchen zwischen uns und dem Laufsteg.
Sie redete weiter. »Letzte Woche hat mir jemand erzählt, die Zitronenscheiben, die immer an den Wassergläsern stecken, sollen lebensgefährlich sein. Total verkeimt und verunreinigt, sogar mit Fäkalien - hat dieses Mädchen jedenfalls behauptet. Weil die Kellner sich nicht die Hände waschen. Dabei kommt die Zitronenscheibe in meinem Wasser unter den Sachen, die ich in den letzten drei Jahren gegessen habe, einem Stück Kuchen noch am nächsten. Was soll ich denn jetzt machen? Manchmal glaube ich, ganz egal, wann ich sterbe, meine letzten Worte werden sein, ich hab immer noch Hunger. Ich wünschte wirklich, ich könnte alles, was ich je über Zitronen und Woody Allen gehört habe, wieder ungehört machen. Ich will das gar nicht wissen.«
Eine Zitrone, dachte ich. Das Einzige, woran ich diese Mädchen zum Nachtisch je hatte nuckeln sehen, waren Zigaretten. Sie waren alle gleich. Aus einem Ei gezogen, wie man bei uns zu Hause sagen würde. Sie liefen alle gleich, federleicht und elfenhaft. Sie schwebten förmlich über den Laufsteg, während ich mir vorkam wie ein Bauerntrampel in Gummistiefeln. Und sie redeten alle gleich. Ihre Sätze bestanden aus Wörtern, die in meinen Ohren überhaupt keinen Sinn ergaben. Wie ernsthaft oder echt oder ehrlich. Ehrlich dies und ehrlich das. Man fragte sich, ob alles andere, was ihnen aus dem Mund sprudelte, Lügen waren. Und viele ihrer Geschichten begannen mit »Sei mir nicht böse«. Als wäre das eine »Du kommst aus dem Gefängnis frei«-Karte. »Sei mir nicht böse, aber ich habe mit deinem Freund geschlafen«, oder »Sei mir nicht böse, aber ich habe gestern Abend den ganzen Nusskuchen aufgegessen«. Wobei, ehrlich, den zweiten Satz würde echt keins der Mädchen je im Leben sagen. Ernsthaft, das ist echt ansteckend.
Noch sechs Mädchen vor mir. Ich weiß nicht mal, wie ich hierhergekommen bin. Na ja, wobei, das stimmt nicht so ganz. Ich bin mit einem Greyhound-Bus hierhergekommen. Wenn man mit einem Gesicht wie meinem geboren wird, und Beinen bis zum Kinn, dann braucht man sich gar nicht erst groß den Kopf zu zerbrechen, was man sonst noch so mit seinem Leben anfangen könnte. Ich war immer ganz gut in der Schule, aber das hat niemanden interessiert. Wenn meine nicht viel jüngere Schwester Carly und ich mit unseren Zeugnissen aus der Schule nach Hause kamen, schaute meine Mutter sich das von Carly immer ganz genau an. Meins überflog sie nur. Meine Schwester ist klein, so wie die ganze Familie meiner Mutter. Sie war ziemlich frühreif und in der Grundschule die Größte, aber in der Highschool haben die anderen sie alle überholt. Sie ist normal klug, kein Genie oder so. Ich bin genauso klug wie sie. Aber meine Zeugnisse schaute meine Mutter sich nicht mal richtig an. »Mit deinen Beinen«, sagte sie immer, »brauchst du dir nur den richtigen Mann zu suchen, um ihn damit einzuwickeln. Carly muss lernen, auf eigenen Beinen zu stehen.« Irgendwann hatte ich einfach keine Lust mehr, mich überhaupt anzustrengen.
Es waren ja auch nicht nur die Beine. Es war das Gesicht, die...
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