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Ironischer-, aber vielleicht auch passenderweise habe ich während meiner dreiwöchigen Reise das alte, das ewige, das ländliche China nur zwei Mal zu Gesicht bekommen, einmal durch das Fenster eines Hochgeschwindigkeitszuges von Chengdu nach Chongqing, das zweite Mal aus dem Fenster eines Flugzeuges von Xi'an nach Beijing: tiefgrün und feucht das Land im Süden, regelrecht prangend, eher trocken, braun und von einer Art Sparsamkeit geprägt im Norden. Sehr gebirgig alles. (Eine dieser Seltsamkeiten: China hab' ich mir immer als große Ebene vorgestellt.) Wie ein Garten das Land, so weit man schauen kann, fein unterteilt in nahtlos aneinandergefügte Felder und Beete, das Gelände terrassiert und gegliedert, wo immer es notwendig ist, bis in höchste Höhen hinauf: So entsteht der Eindruck einer zweiten Natur, die sich die erste und gegebene vollkommen anverwandelt hat.
Stellen Sie sich etwa hundert Meter hohe Gebäude vor, dreißig, vierzig Stockwerke hoch, keine Türme allerdings, sondern zwei-, dreihundert Meter breit und wallartig aufragend. Platzieren Sie diese Blöcke, voneinander getrennt jeweils durch Grünflächen, auf ebenem Terrain, so weit die Sicht reicht. Sind Sie am Horizont angekommen, stellen Sie weitere Gebäude derselben Art wieder bis zum Horizont auf und immer so fort. Gliedern Sie das so entstandene Revier durch sechsbahnige Straßen, flankiert von Nebenfahrbahnen, legen Sie einen Schachbrettraster an. Komplettieren Sie das Ganze mit Hochbahnen oder zusätzlichen Autobahnen auf Stelzen: Interchanges, Thruway, Expressway, Highway - Straßen, die zwischen den Blocks gleichsam in die Unendlichkeit führen.
Baudrillard hat Los Angeles als die horizontale Stadt schlechthin beschrieben. Es stimmt schon: Schaut man von den Hills gegen Süden, dehnt sich die Stadt, dehnt und dehnt sich aus, in ihrer Hauptmasse, Downtown abgerechnet, besteht sie aus ein- oder zweistöckigen Häusern. Wer kennt nicht das Bild des nächtlichen Los Angeles, wenn die Boulevards wie Perlenschnüre in der Finsternis glitzern, die Vergnügungsmeilen wie giftig entzündete Herde schillernd sich abheben.
In der chinesischen Metropole ist der urbane Traum zu Ende gedacht: Gleichsam ohne Anfang und Ende, gleichförmig - manche nennen es gesichtslos - und auffällig unfremd präsentiert sich die Stadt, da und dort zu Einkaufsmeilen oder Geschäftsclustern verdichtet: Otto Wagner mit seinen Plänen für die endlose Großstadt hätte hier seine Freude.
Gleich am ersten Abend in Shanghai werfe ich mich ins Getümmel, unter einer Hochbahn durch, an den Straßen entlang Stände, wo ausgekocht wird, Fleischspieße, Omeletten, Suppendunst, in halber Dunkelheit, schwankende Lampen, diesig dunkle, smoggesättigte Luft, der Verkehr tobt, die Passanten kaufen von am Boden ausgebreiteten Planen Zwiebeln oder Lauch, direkt vom Bauern, an den Gehsteigrändern, im Schatten der Wohntürme, möchte ich sagen, sitzen Männer beim Schach, beim Mah-Jongg, oder sie spielen Karten, geradeso, als wäre da ein beschaulicher Dorfplatz und nicht die wild dahintosende Stadt.
New York wirkt im Vergleich dazu wie Historyland, eine Art gepflegter Puppenküche, Chicago wie ein stromlinienförmiges, blankpoliertes Maschinenteil, Detroit wie ein verwahrloster Schrebergarten - und Wien? Das lässt sich eben nicht sagen.
Die chinesische Metropole ist inkommensurabel. Mit europäischen Verhältnissen hat das nichts gemeinsam. Keine Referenzgrößen. Du musst dir eine neue Sprache erfinden, willst du das in den Griff bekommen. Der Umschlag von der Quantität in die Qualität, hier wird er vorgeführt: Macht eine Million Menschen das Gleiche wie, sagen wir, hunderttausend, wird etwas ganz anderes daraus.
Alle Städte, die ich in China besuchte, haben zumindest so viele Einwohner wie ganz Österreich insgesamt, manche ein Mehrfaches.
»Ja, als Kind habe ich gelegentlich die Sterne gesehen«, sagt einer meiner Begleiter während einer Nachtfahrt zu mir. Tagsüber scheint die Sonne, sichtbar als helle Blesse im grauen, bald silbrig glitzernden, bald hastig in Schwaden oder Fetzen vorüberjagenden Dunst. Wie Unterseeboote in einem wellenlosen Meer stehen die Hochbauten da, ahnungsvoll und düster.
Als ich wieder einmal mit einem dieser Taxifahrer die Stadt durchquere - mittlerweile sind mir alle Städte in der Vorstellung zu einer einzigen Superstadt verschmolzen -, wünsche ich mir, er möge doch noch schneller, noch irrer und rücksichtsloser fahren, ich würde dann endlich ans Ziel kommen - an irgendein Ziel.
Wer weiß, gibt es den Dichter schon, der das Schicksal der Millionen Wanderarbeiter beschreibt, die die Gebäude errichtet haben. Hoch oben bei den Wolken arbeiten sie. In der chinesischen Kunst spielen Wolken eine hervorragende Rolle. Dort oben wohnt der mythische Drache. Der Riesenvogel Rokh wird sich einmal erheben und seine Flügel ausspannen und dann .
Wenn der Architekt Wang Shu, der Pritzker-Preisträger, in einem Interview über seine Landsleute anmerkt: »I hope they will realize that our country cannot develop at the cost of destroying our history«, ist da was Wahres dran. (In chinesischen Städten findet sich kaum eine Altstadt.) Wie allerdings Wohnraum für Millionen und Abermillionen von Menschen in so kurzer Zeit sonst hätte geschaffen werden können, ist eine andere Frage.
Es ist doch auch chinesisches Leben, wenn eine Großmutter ihr Enkelkind aus der Flasche füttert, irgendwo im Trubel einer Metrostation, der Menschenstrom zieht im Glanz von Stahl, Neon und Marmor vorbei, wenn die Einwohner abends aus ihren Blocks heraustreten, mit vor der Brust verschränkten Armen dastehen, Bier aus der Flasche trinken und sich über ihre Angelegenheiten unterhalten.
Viele beklagen das Rücksichtslose einer nur aufs Geldverdienen abgestellten Gesellschaft. Hier ist einer nur Mensch, wenn er Geld hat, sagt man voll Bitterkeit zu mir. Richtig: Das erinnert mich an Europa und an den Rest der Welt.
Die Liste der Probleme ist lang: Sozialer Gegensatz zwischen Stadt und Land, Minoritäten und fremde Nationalitäten, Menschenrechte, Demokratisierung, beschädigte Umwelt. Ich traue es den Chinesen zu, diese Probleme in den Griff zu bekommen - oder hoffe ich es nur? Engagiert in die Transformation von der Agrar- zur Industriegesellschaft, in einer Bewegung begriffen, die kein Zurück erlaubt: Wie oft hat dieses Volk sich selbst aufs Neue erfunden? Vom Tiger abzusteigen ist bekanntlich schwer. Wer wüsste das besser als die Chinesen? Wer will den Prozess, der da abläuft, auch restlos durchschauen? Es kann bloß gelingen, einzelne Fakten oder Strukturen herauszugreifen, sie zu analysieren und zu versuchen, sie mit anderen in einen nachvollziehbaren Zusammenhang zu bringen: Die Verhältnisse nicht von außen zu denken und also Ratschläge zu erteilen, sondern von innen her begreifen und also Notwendigkeiten erkennen.
Allerorten in China hört man von Finanzjongleuren, von Spekulanten, von Korruption. Schlägt man China Daily auf: Schon platzt einem der Aufmacher über einen dingfest gemachten Großschieber entgegen. Ist Österreich jetzt am vierten oder am sechsten Platz im internationalen Korruptions-Ranking? Ein Spitzenplatz, immerhin.
Auf den Straßen der Megastädte wird dir schlagartig klar - du hast es gewusst, aber offenbar nicht verinnerlicht -, wie weit die globale Vernetzung schon fortgeschritten ist, wie abhängig wir voneinander geworden sind. In Peking oder Shanghai etwa fahren Millionen von europäischen Autos, hier fährt das Produkt unserer Arbeit, denkst du und dann: Wo gäbe es denn Arbeit, hätten wir nicht diese Kunden? Natürlich gilt das auch umgekehrt. Für die Europäer ist es von höchstem Interesse, dass das chinesische Experiment gelingt, wie es andererseits den Chinesen nicht gleichgültig sein kann, ob wir Europäer mit unseren Wohlfahrtsstaaten auf Kurs bleiben oder pleitemachen.
Bild einer großen Schleife, die die Menschheit zu gehen hat, fort und fort.
Verwechsle deine Euphorien nicht mit den Realitäten! Wenn du etwa vom Platz des Volkes kommend die Nanjing-Straße hinuntergehst, zwischen kulissenhaft aufragenden Wolkenkratzern, Shopping Malls allesamt, und du trittst aus dem Lärm der Leuchtschriften und Glitzerfassaden auf den Bund hinaus, den großartig geschwungenen Kai, mächtig biegt sich der ruhig strömende Fluss her, Schiffe und Lastkähne darauf, schnell gleiten sie bergab und schwerfällig streben sie flussauf, drüben die fantastischen Türme von Pudong, ein technisches Märchenland, es erregt dich, ob du willst oder nicht, auch wenn dir aus dem bestürzend beglückenden Augenschein auch schon die Fragen entgegenpurzeln, jene Fragen, auf die du keine richtige und also beruhigende Antwort weißt.
Da ist eine Aporie, nicht zu übersehen.
Kann man etwas finden, von dem man nicht weiß, was es ist?...
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