Kapitel 1
Der erste Schultag nach den Ferien ist immer der schlimmste. Grundsätzlich gehe ich gerne zur Schule. Aber nach den Ferien, wenn man sich gerade daran gewöhnt hat, nicht lernen oder früh aufstehen zu müssen, bin noch nicht mal ich ein Morgenmensch.
Ich habe sogar meinen Wecker überhört, den ich mir für gewöhnlich extra früh stelle, wenn ich vor der Schule noch eine Runde laufen will. Jetzt ist dafür nicht mehr genug Zeit und nach der Schule ist es noch zu heiß. Es ist Juli und damit Winter hier in Brisbane, Australien. Zum Sport machen aber trotzdem zu heiß. Sieht wohl so aus, als müsste ich das nach dem Abendessen machen. Immer noch im Halbschlaf schließe ich meinen I-Pod an die Dockingstation an und Taylor Swifts Song Picture to Burn ertönt aus den Lautsprechern. Na also, schon besser. Ich gehe in das ans Schlafzimmer angrenzende Badezimmer, das ich mir - Gott sei Dank - nicht mit meiner kleinen Schwester Maddie teilen muss. Das würde vermutlich täglich im dritten Weltkrieg enden.
Mit einem flüchtigen Blick über die Schulter auf meinen Digitalwecker entscheide ich mich achselzuckend für eine Katzenwäsche. Egal - ich war gestern, bevor ich ins Bett gegangen bin, duschen - das muss reichen.
Meine auf Kinnlänge geschnittenen braunen Haare brauchen morgens zum Glück kaum Aufmerksamkeit, einmal mit der Bürste durchfahren und fertig.
An Schultagen benutze ich nur Mascara, da ich nicht aufgestylt durch die Schule laufen mag.
Das kommt mir heute zugute, denn wenn ich mich nicht beeile, kann ich mein Frühstück vergessen. Also schnell in die Schuluniform geschlüpft, die aus einem dunkelblauen Rock und einer weißen Bluse besteht, und den dazugehörigen Blazer angezogen, auf den wir leider nur im Sommer verzichten dürfen, egal, wie warm es jetzt ist.
Mein schwarzer Rucksack mit dem Schullogo, welchen ich glücklicherweise schon gestern Abend gepackt habe, steht schon neben der Tür. Ich greife danach und gehe die Treppe runter in die Küche.
»Morgen«, begrüße ich meine Mutter, die noch im Pyjama am Küchentisch sitzt und die Zeitung liest.
»Guten Morgen, Elena. Ich habe deinen Tee schon fertig gemacht. Ich dachte mir schon, dass du heute nicht pünktlich unten bist, ist ja schließlich der erste Schultag«, sagt sie mit einem Augenzwinkern.
Ich lächele Mum gleichzeitig dankbar und entschuldigend an.
Auf meinem Platz steht die Tasse mit schwarzem Tee, der schon halb abgekühlt ist - genauso wie ich ihn am liebsten mag. In einer Schüssel bereite ich mein Frühstück aus Joghurt, Müsli, einer Banane und ein paar Weintrauben zu. Aus dem Eisfach hole ich ein Glas und fülle es mit Wasser. Es gibt nichts Besseres als etwas Eiskaltes zu trinken. Egal zu welcher Jahreszeit.
Plötzlich stutze ich. »Wo ist Maddie?«, frage ich Mum. Meine jüngere Schwester Maddison müsste längst in der Küche sein. Sonst kommt sie noch zu spät zum Unterricht.
»Oh, sie ist schon vor zehn Minuten los. Wollte wohl noch was erledigen.«
Das ist ziemlich ungewöhnlich. Eigentlich bin ich die Frühaufsteherin und Maddie die Langschläferin. Wenn Mum, Dad oder ich nicht regelmäßig an ihre Zimmertür klopfen würden, dann würde sie wahrscheinlich jeden Tag zu spät zur Schule kommen. Ich habe sie echt lieb, aber ihr Zeitmanagement ist mir manchmal ein absolutes Rätsel.
Da wir nur etwa drei Kilometer von unserer Highschool entfernt wohnen, gehe ich meistens zu Fuß, außer wenn ich mal einen faulen Tag habe, was eher selten vorkommt, dann nehme ich den Bus. Aber heute werde ich es wahrscheinlich nicht mehr pünktlich zur Bushaltestelle schaffen. Und um zu Fuß zu gehen, ist es auch schon fast zu spät, vor allem wenn ich nicht erst in letzter Minute an der Schule auftauchen will, und das ist nicht meine Art. Also öffne ich das Garagentor und schiebe mein Fahrrad heraus. Als ich das Tor gerade schließen will, spüre ich etwas Nasses und Kaltes in meiner Kniekehle.
Lachend drehe ich mich um und begrüße unsere beiden Australian Cattle Dogs Gecko und Chipper ausgiebig, bevor ich hochschaue.
»Hey, Dad, wie war eure Morgenrunde?«
Mein Vater wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Gut, aber schon ziemlich heiß. Verrate deiner Mutter bloß nicht, dass ich das gesagt habe, sonst darf ich mir wieder anhören, was ich denn im Sommer machen würde, wenn wir 35 Grad haben, oder sogar noch mehr.« Er zwinkert mir zu.
Ich weiß genau, was er meint. An manchen Tagen kann einen das Wetter hier echt fertig machen. Aber meistens mag ich es. Schmunzelnd schüttle ich den Kopf.
Wenn ich nicht am ersten Tag zu spät kommen will, muss ich jetzt wirklich los.
»Sorry, Dad, ich bin spät dran. Wir sehen uns.«
Mit dem Rucksack auf dem Rücken steige ich auf mein Rad und mache mich auf den Weg zur Schule.
Obwohl ich mich beeile, komme ich fast zu spät zu meinem Kurs in englischer Literatur bei Mr Woods. Die ersten beiden Kurse des Tages liegen schon hinter uns und ich habe mich beim Mittagessen mit meinen besten Freundinnen Holly, Jasmin und Grace verquatscht. Gerade in dem Moment, in dem ich mich auf meinen Stuhl in der letzten Reihe am Fenster fallen lasse, betritt der Lehrer mit den ergrauten Schläfen und der schwarzen Brille das Klassenzimmer. Ich mag Mr Woods und englische Literatur zählt zu meinen Lieblingskursen. Seit ich klein war, lese ich für mein Leben gerne und alles, was mit Literatur zusammenhängt, liegt mir einfach.
Es dauert ein paar Minuten, bis Ruhe im Raum eingekehrt ist. Mit den Worten: »Ich habe die Ferien dazu genutzt, eure Klausuren zu korrigieren«, holt Mr Woods eine rote Mappe aus seiner braunen Ledertasche und lächelt in die Runde. Mindestens die Hälfte meiner Mitschüler stöhnt laut auf. Ich nicht. Ich habe nichts zu befürchten. Wie immer habe ich mich wochenlang gut auf die Klausur vorbereitet. Daher bin ich auch nicht besonders überrascht, als Mr Woods mir meine Arbeit zurückgibt und auf dem Papier ein rotes A prangt.
Mir fällt auf, dass ich vor lauter Quatschen in der Mittagspause vergessen habe, meine Wasserflasche wieder aufzufüllen. Schnell verlasse ich den Raum und gehe auf dem Flur zum nächsten Wasserspender. Da wir im Schnitt eine Temperatur von fünfundzwanzig Grad haben, brauchen wir nie um Erlaubnis zu bitten, wenn wir ein Klassenzimmer verlassen, um etwas zu trinken zu organisieren.
Ich biege gerade um die Ecke, um zurück zum Unterricht zu gehen, als jemand in mich hineinrennt. Kurz verliere ich das Gleichgewicht, kann mich aber zum Glück an der Wand abfangen, um nicht zu Boden zu stürzen. Ich schaue hoch und sehe, dass die Person, die mich beinahe zu Fall gebracht hätte, Sophia James ist. Schon seit ein paar Jahren gehen wir auf dieselbe Schule. Sie sitzt auch in englischer Literatur bei Mr Woods und ich glaube, dass sie sogar mit Grace zusammen im Schwimmteam ist. Beim genaueren Hinsehen fällt mir auf, dass ihr Tränen über die Wangen laufen.
»Ist alles okay?«, frage ich vorsichtig. Vor ein paar Minuten saß sie noch zwei Reihen vor mir und jetzt scheint sie völlig aufgelöst zu sein.
Sophia schüttelt den Kopf. »Ich bin in Literatur durchgefallen. Mein Vater wird mich umbringen.«
»Ist er so streng?«, frage ich und sehe sie mitfühlend an. Meine Eltern sind zum Glück ziemlich locker, was meine Noten angeht. Das könnte aber auch daran liegen, dass meine schlechteste Note bisher ein D war. Und selbst das kommt nur in einem einzigen Fach vor, nämlich in Mathe.
Sophia wischt sich mit dem Arm über die Augen. »Mein Vater will nur das Beste für mich. Ich liebe ihn, aber seine strengen Prinzipien können manchmal schon sehr anstrengend sein. Meine nächste Klausur muss auf jeden Fall besser werden. Leider habe ich mich in Literatur schon immer gerade so durchgeschlagen. Ich lerne und lerne und habe am Ende des Tages doch immer nur das Gefühl, keine Ahnung vom Thema zu haben.« Sophia schlägt sich mit der Hand vor den Mund. »Entschuldige bitte, Elena, ich wollte nicht so drauflos plappern.«
Ich winke ab und sage, ohne großartig zu überlegen: »Wenn du willst, kann ich dir beim Lernen helfen. Wir können die letzte Klausur zusammen durchgehen und schauen, wo deine Schwächen und wo deine Stärken liegen. Für die nächste Klausur können wir dann zusammen lernen, wenn du magst.«
Ein Lächeln breitet sich auf Sophias Gesicht aus und lässt ihre haselnussbraunen Augen strahlen. »Das würdest du tun? Das wäre klasse! Du bist eine der Besten im ganzen Kurs!«
Ich zucke die Achseln. »Kein Problem. Sag deinem Vater einfach, dass du jetzt eine kostenlose Nachhilfelehrerin hast, dann ist er vielleicht beruhigt. Wollen wir uns direkt morgen nach der Schule bei mir zu Hause treffen?«
Sophia stimmt meinem Vorschlag sichtlich beruhigt zu und gemeinsam gehen wir zurück in die Klasse.
Nachdem der Rest des ersten Schultages relativ schnell vergangen ist, mache ich es mir nachmittags auf der Terrasse mit einem Buch und einer Kanne selbstgemachtem Eistee gemütlich. Gott...