Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Donnerstag, 29. Juli, 3.30 Uhr
Das schrille Klingeln ihres Handys ließ sie augenblicklich erwachen. Sie hatte einen leichten Schlaf. Das war nicht immer so gewesen, aber das Gefängnis veränderte einen nachhaltig. Und obwohl sie schon sechs Monate draußen war, war dies eine lästige Angewohnheit, die geblieben war. Obwohl sie schon sechs Monate draußen war, dachte sie beim Aufwachen noch immer als Erstes ans Gefängnis.
Und allein dafür musste jemand bezahlen.
Nur ihr Bruder Bryce kannte ihre Handynummer, und doch blieb sie misstrauisch. »Ja?«
»Ich bin's.«
Sie setzte sich auf und verfluchte ihren steifen Nacken. Die Rückbank eines Kleinwagens war nicht gerade komfortabel, aber sie hatte schon in schlechteren Betten geschlafen. »Sind sie zu Hause?« Ihr Herzschlag beschleunigte sich, ihre Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. Die Vaughns waren zurück. Hatten das Chaos in ihrem Haus entdeckt. Das leere Bett. Den Zettel auf dem Kopfkissen. Das Geschenk im Schuppen. Sie würden sich entsetzlich fürchten. Sie würden weinen. Sie würden machtlos sein.
Machtlos. Das war nicht annähernd genug, aber es war ein verdammt guter Anfang.
»Ich b-bin n-nicht s-sicher«, stotterte Bryce furchtsam.
Ihr Triumph löste sich rasch auf. »Was soll das heißen?«, fragte sie mit beherrschter Stimme. Wenn er die Sache verdorben hatte, würde er weit mehr Grund haben, sich zu fürchten. »Wo bist du?«
»Im Gefängnis.« Sie schloss die Augen. Rief sich in Erinnerung, dass das Prepaid-Handy, das sie in Maryland gekauft hatte, nicht zurückzuverfolgen war. Dennoch brachte sie der Gedanke, dass er sie aus dem Gefängnis anrief, zum Kochen. »Die haben mich verhaftet, weil ich einen Laden ausgeraubt habe. Du musst mich hier rausholen.«
Ihr Lachen war kalt. Sie standen kurz davor, Millionen zu verdienen, und er raubte einen gottverdammten Laden aus. »Du willst, dass ich dich raushole? Du machst Witze.«
»Verdammt noch mal«, zischte er. »Ich hab dich angerufen, weil . du weißt schon. Ich hätte auch Earl anrufen k-können.«
Er hatte sie angerufen, weil er nicht länger auf seinem Posten war. Weil er nicht länger das Haus der Vaughns beobachtete, um ihr Bericht zu erstatten. Weil er ihr nicht mehr sagen konnte, ob sie nach Hause gekommen waren und ob sie die verdammten Bullen gerufen hatten.
»Du bist erst siebzehn. Die hauen dir auf die Finger und stecken dich in die Jugend.«
»Nein!« Bryces Flüstern war voller Angst. »Sie haben gesagt, die wollen mich wie einen Erwachsenen behandeln. Ich komme in den Knast. B-bitte«, flehte er. »Hol mich doch hier raus.«
Dass sie und Bryce dasselbe Erbgut hatten, kam ihr unmöglich vor. Und selbst die Tatsache, dass dem so war, würde sie nicht dazu bringen, jetzt den Kopf für ihn hinzuhalten. Aber sie musste ihn aus dem Gefängnis herausholen, bevor irgendein windiger Anwalt ihn dazu veranlasste, alles auszuspucken. Dass Bryce seine stotternde Klappe halten würde, war nicht zu hoffen; er würde auch unter überaus zivilisierten Verhörmethoden plappern wie eine alte Klatschtante. Bei Onkel Earl aufzuwachsen hatte sein Hirn zersetzt. Bei Tante Lucy aufzuwachsen hatte seinen Willen zersetzt. Es war eine Schande, dass sie sich nicht selbst um seine Erziehung hatte kümmern können, aber sie war . indisponiert gewesen. Inhaftiert. Und nun war auch Bryce auf dem Weg dorthin. Ihr Vater musste im Grab rotieren wie ein Hähnchen am Spieß.
»Ich rufe Earl an«, sagte sie barsch. »Ich behaupte, ich sei eine Angestellte im Gefängnis.« Dass ihr Onkel ihre Stimme erkennen würde, war unwahrscheinlich, da sie seit Jahren nicht miteinander gesprochen hatten. »Wo bist du?«
»O-Ocean City.«
Wenigstens war er schlau genug gewesen, es nicht in diesem elenden Kaff namens Wight's Landing zu tun. Ocean City war eine Stunde Fahrt entfernt. Niemand würde die zwei Ereignisse miteinander in Verbindung bringen, selbst wenn die Vaughns die Bullen riefen. »Ich melde mich bei Earl. Du hältst den Mund und die Augen offen.« Sie grinste. »Und wenn jemand die Seife fallen lässt, bück dich nicht, um sie aufzuheben.«
»D-das ist nicht l-lustig, Sue.«
Als sie ihn ihren Namen nennen hörte, schwand das Grinsen augenblicklich. »Nein, ist es nicht. Und dass du mich aus dem Knast anrufst, auch nicht.« Sie brach die Verbindung ab und starrte aus dem Rückfenster in den dunklen Wald, in dem sie geparkt hatte, um ein wenig zu schlafen. Sie war weit weg von allen größeren Straßen, und das schon, seit sie am Morgen zuvor die Ostküste Marylands verlassen hatte.
Sie war nur langsam vorangekommen, weil sie alle paar Stunden anhalten musste, um dem Kind im Kofferraum zu trinken zu geben, damit es nicht dehydrierte, aber es war besser, die großen Straßen zu meiden. Sie war nicht sicher, wann die Vaughns wieder zu Hause eintreffen würden, und obwohl sie sie gewarnt hatte, nicht die Polizei zu informieren, konnten sie es dennoch tun. Aber sie würden sie nicht kriegen. Zu viel stand auf dem Spiel. Der Preis, der auf sie wartete, war zu wertvoll.
Sie stieg aus dem Wagen und machte den Kofferraum auf. Betrachtete die zwei Gestalten darin, die sich wie Föten zusammengerollt hatten. Sie waren noch da, sie waren noch gefesselt.
Ihr Preis. Ihre Rache.
Alexander Quentin Vaughn. Ein großer Name für ein so schmächtiges Kind. Er war zwölf, sah aber nicht älter als zehn aus. Bryce hatte es hübsch treffend ausgedrückt, als sie den Bengel, der sich im Schrank des Strandhauses versteckt hatte, gesehen hatten. »Sieht nicht aus, als ob er 'ne Million wert ist.« Aber wörtlich genommen hatte er Recht. Der Junge war fünfmal so viel wert.
Aber Geld war nicht alles.
Manchmal war die Rache bedeutender.
Und wenn man beides gleichzeitig bekommen konnte . war das ausgleichende Gerechtigkeit.
Alexander Quentin Vaughn und seine Sprachtherapeutin, die sich gewehrt hatte wie eine Löwin. Cheryl Rickman hätte in Zukunft ein Leibwächter-Gehalt verdienen können, falls sie denn eine Zukunft gehabt hätte, was natürlich nicht der Fall war. Und der entsetzte Ausdruck ihrer Augen belegte, dass sie das auch wusste. Sue hatte Rickman nur deshalb bisher am Leben gelassen, weil sie mit dem Jungen kommunizieren konnte.
Der Junge versuchte gerade, seine Tränen zurückzudrängen. Versuchte zurückzuweichen, bis sein magerer Körper gegen Rickmans stieß. Ihn zu fesseln war wahrscheinlich unnötig gewesen. Triefend nass konnte er nicht mehr als achtzig Pfund wiegen, und er kämpfte wie eine Gummipuppe. Der Knebel war wahrscheinlich auch überflüssig, aber Sue war sich nicht sicher, ob er nicht schreien konnte. Taubstumm zu sein bedeutete nicht, keine Laute ausstoßen zu können.
Seine Behinderung hatte Sue anfangs ein wenig durcheinandergebracht. Sie hatte eindeutig eine gute und eine schlechte Seite. Er konnte den Leuten, die sie auf dem Weg trafen, zwar nichts verraten, aber er konnte auch seine Eltern nicht herzerweichend anflehen, das Lösegeld zu bezahlen. Sehr schade. Sie hatte sich auf dieses Flehen so gefreut. Aber so musste man eben umdisponieren.
Annehmen, anpassen, verbessern. Ein guter Leitsatz. Witzigerweise der ihres alten Herrn. Wenn sie nicht die Stimme des Kindes verwenden konnte, würde sie eben sein Gesicht nehmen. Ein Foto sagte mehr als tausend Worte.
Sie blickte hinab auf ihre Geisel, auf ihren Gewinn, und spürte, wie sie die Kontrolle zurückerlangte. Bryces Verhaftung hatte im Grunde nur wenig geändert. Solange sie ihn da herausholte, bevor er einem übereifrigen Rechtsverdreher irgendetwas erzählen konnte, hatte sie nur einen Beobachtungsposten eingebüßt. Und es wäre zwar schön gewesen, von Bryce zu hören, wie entsetzt die Vaughns gewesen waren, aber letztendlich spielte es keine Rolle. Sicher hätte es ihr genützt zu wissen, ob Streifenwagen vor dem Strandhaus standen, aber auch die Bullen würden sie nicht kriegen. Sie würde schon weit, weit weg sein und sich in Earls Haus verstecken. Das musste sich nicht ändern. Es war sogar noch einfacher, wenn Earl und Lucy unterwegs waren, um Bryce aus dem Knast zu holen. So würde Sue das Haus noch ein paar Tage für sich haben.
Und wenn sie aus Maryland zurückkehrten, würden Earl und Lucy und sie Wiedersehen feiern. Ein Wiedersehen, das sie mit Begeisterung geplant hatte. Sie nahm ihr Telefon und wählte Earls Nummer. Er würde noch schlafen und benebelt abnehmen. Keine Chance, dass er ihre Stimme erkannte.
Beim ersten Klingeln wurde abgehoben. »Ja?«, erklang eine tiefe Stimme.
Sue erstarrte, jeder Muskel bis zum äußersten angespannt. Die Stimme war nicht schläfrig oder benebelt. Die Stimme war auch nicht Earls. Sie sagte nichts, brachte kein Wort heraus. Der Mann am anderen Ende der Leitung lachte leise.
»Bist du's, Bryce?« James. Sue gefror das Blut in den Adern. Unmöglich. James war tot. Sie selbst hatte ihm die Kehle aufgeschlitzt. Aber offensichtlich nicht gründlich genug.
»Nicht Bryce?«, sagte er freundlich. »Dann musst du Sue sein. Sue, wie geht's dir denn so?« Seine Stimme verhärtete sich. »Ein Rat von mir und ganz umsonst. Wenn du jemanden umbringen willst, dann vergewissere dich, dass er wirklich tot ist. Und? Willst du mit deinem Onkel Earl reden?« Ein Stöhnen drang durch das Telefon. »Tja, leider kann er gerade nicht rangehen.«
Sue knirschte mit den Zähnen. »Du Dreckschwein. Finger weg von ihnen.«
»Na, na, liebe Sue, du als brave kleine Nichte. Ich bin wirklich schockiert.« So klang er nun wirklich. Schockiert. »Du willst Onkel und Tante, die du verabscheust, beschützen?«
»Nicht...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.