Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Im Jahr 2022 bestimmten die Corona-Epidemie und der Ukraine-Krieg die Schlagzeilen. Es war aber auch das Jahr, in dem sich eine Medienkritik jenseits von »Lügenpresse«-Vorwürfen in Erinnerung gerufen hat. Beinahe zeitgleich erschienen zwei Bücher, die - auf ganz unterschiedlichen Ebenen und mit verschiedenen Zielrichtungen - die Medienkritik (wieder einmal) in die öffentliche Debatte holten.
Jürgen Habermas' Buch Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Demokratie, das bereits im Titel an sein Standardwerk Strukturwandel der Öffentlichkeit von 1962 anknüpft,[1] setzt aktuelle Tendenzen des digitalen Wandels mit seinem Konzept einer kritischen Öffentlichkeit in Verbindung. Medienkritik taucht darin eher indirekt auf, bei der Frage nämlich, welche Auswirkungen die medialen Veränderungen der letzten Jahre auf die Teilhabe an der demokratischen Willensbildung haben, die bisher maßgeblich durch Gatekeeper in den Massenmedien reguliert wurde. Habermas kritisiert vor allem den Verlust an diskursiver Orientierung: »Die Infrastruktur dieser zu Gefallens- und Missfallensklicks abgerüsteten plebiszitären >Öffentlichkeit< ist technischer und ökonomischer Art.«[2] Dadurch nehme »ein demokratisches System [.] im Ganzen Schaden, wenn die Infrastruktur der Öffentlichkeit die Aufmerksamkeit der Bürger nicht mehr auf die relevanten und entscheidungsbedürftigen Themen lenken und die Ausbildung konkurrierender öffentlicher, und das heißt: qualitativ gefilterter Meinungen nicht mehr gewährleisten kann«.[3]
An diesem Punkt setzt der zweite medienkritische »Bestseller«[4] des Jahres 2022 an. In ihrem Buch Die vierte Gewalt diskutieren Richard David Precht und Harald Welzer, wie dieser Filter in den sogenannten Leitmedien funktioniert, welche Veränderung er durch die sozialen Medien erfährt und welche Auswirkungen das auf das Medien- wie Systemvertrauen der Bürgerinnen und Bürger hat: »Denn je einflussreicher die Leitmedien wurden und werden, umso misstrauischer werden ihre Konsumentinnen und Konsumenten«.[5] Mit ihrem Buch betreiben Precht und Welzer jedoch nicht nur selbst Medienkritik; sie wollen auch Ursachen für die lauter werdende Medienkritik der letzten Jahre aufzeigen, die ihrer Ansicht nach vor allem aus der »Inkongruenz von öffentlicher und veröffentlichter Meinung«[6] erwachsen ist.
Man kann über beide Bücher mit guten Gründen streiten: Schon das ist ein Gewinn. Sie haben jedenfalls eine starke Resonanz über das Fachpublikum oder die Feuilletonredaktionen hinaus erfahren. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zählte Gregor Peter Schmitz, 2022 zum Chefredakteur des Magazins stern berufen, jene Themen auf, die besonders viel Anklang bei der Leserschaft gefunden hatten: »Wir haben zuletzt mehrere Seiten Leserbriefe gedruckt, weil wir so viele Reaktionen erhalten haben - zum Krieg, zu Putin, zu Schröder, auch zum Streitgespräch über die Rolle der Medien mit Richard David Precht und Harald Welzer.«[7] Medienkritik rangiert offenbar auf einer Stufe mit den existentiellen Bedrohungen des Jahres 2022.
Das Thema scheint einen >Nerv< in der Gesellschaft zu treffen; und das nun schon seit einigen Jahren, in denen »sich der Unmut des Publikums über die Massenmedien allmählich aufgebaut hat«.[8] Sogar von Medienkritik als »Breitensport«[9] geht die Rede. In ihr artikuliert sich ein »Unbehagen in der Kultur«,[10] das den Zivilisationsprozess zwar seit seinen Anfängen begleitet, das aber mit der technisch aufgerüsteten Moderne und ihrer mediatisierten Kommunikation zunehmend als Bedrohungsszenario wahrgenommen wird. Dass in einer digitalen Welt der sozialen Medien und der künstlichen Intelligenz, wo die mediale Durchdringung des Alltags ungeahnte Ausmaße angenommen hat, ein solches Unbehagen vornehmlich als Medienkritik in Erscheinung tritt, kann eigentlich wenig verwundern.
Umso merkwürdiger ist es, dass die Medienwissenschaft vergleichsweise indigniert auf dieses Phänomen reagiert. Medienkritik führte, sieht man von der Glanzzeit der >Kritischen Theorie< in den 1960er und 1970er Jahren ab, meist nur eine Nischenexistenz. Durch die breite Pädagogisierung ihrer Themen hoffte man zudem, das Problemfeld gleichsam >wegdidaktisieren< zu können. Mit der Medieneuphorie der 1990er und 2000er Jahre, die nicht allein dem Internet, sondern auch neuen Sendern und Formaten im Bereich des privaten Rundfunks und Fernsehens galt, schien sich Medienkritik dann vollständig erübrigt zu haben: Der »Herbst der Medienkritik« wurde ausgerufen, sie stände »kurz vor dem eigenen Tod«.[11] Überlebenschancen hätte sie lediglich als eine »Produktkritik«,[12] die einzelne Medienangebote auf ihre Professionalität und sozialverträgliche Ausgestaltung hin befrage. Noch 2010 resümierte der Medienwissenschaftler Marcus S. Kleiner: »Der Ist-Zustand lässt sich weitgehend beschreiben als Kapitulation vor den (vermeintlich) übermächtigen (medien-)ökonomischen Parametern.«[13] Ähnlich argumentierte noch zehn Jahre später mit Blick auf die Medienpraxis der Publizist Wolfgang Michal. Seine Kritik am Zustand der Medienkritik ist unter der Überschrift Die Hofnarren des Medienbetriebs mit dem Datum 5. März 2020 auf seiner Webseite nachzulesen.[14] Darin beklagt er »die Unempfindlichkeit der Medien gegenüber der Kritik«, denn »Medienkritik lässt sich bequem als unterhaltendes Element in die Medienwelt integrieren«.
Dies mag für bestimmte Formate wie Kalkofes Mattscheibe zutreffen; die demokratietheoretische Medienkritik von Jürgen Habermas auf der einen und die »Lügenpresse«-Vorwürfe auf der anderen Seite lassen sich in ein solches Unterhaltungsprogramm hingegen nur bedingt integrieren. Sie zeigen vielmehr eine Politisierung des medienkritischen Diskurses an, die für seine Positionierung im wissenschaftlichen Feld nicht unbedingt hilfreich gewesen ist. Medienkritik, lange Zeit ein Spezialgebiet linker Publizistik, wurde nun teilweise zu einem rechten Projekt.[15] Quer durch Europa sind es überwiegend rechtspopulistische Parteien, die beispielsweise den öffentlich-rechtlichen Rundfunk kritisieren oder gar abschaffen wollen. Medienkritiker müssen sich nun umgekehrt vorwerfen lassen, ihre Kritik richte sich im Kern gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung.
Unter dieser Prämisse erscheint der Vorschlag von Wolfgang Michal, es sei »überfällig, die Medienkritik aus ihrer Nischenexistenz zu befreien und zur großen Gesellschaftskritik zu machen«, durchaus zwiespältig. Bedingung dafür sei die »bewusste Anknüpfung an die historische Tradition der Kritik«. Michal plädiert dafür, »Medienkritiker müssten erst einmal einen Schritt zurücktreten. Nur so ließe sich ein größerer Zeitraum überblicken, nur so würde man Traditionen entdecken, an die man heute anknüpfen könnte.«
Ein solcher theoretisch wie historisch adäquater Rahmen, medienkritische Stellungnahmen einzuordnen und zu bewerten, fehlt jedoch bislang. So durften sich Richard David Precht und Harald Welzer (wie alle Medienkritiker vor ihnen) den Einwand gefallen lassen, sie selbst wären ja ständig in den Medien präsent; ihre Kritik daher Teil des Systems, das sie kritisieren. Genau dieses >Medienparadox< ist aber eine der Grundvoraussetzungen des medienkritischen Diskurses.[16] Der Einwand gegen Precht und Welzer zeigt, wie wichtig es ist, Medienkritik in ihrer Funktionsweise zu verstehen, bevor man ihre Akteure und Äußerungsformen in den Blick nimmt. Dann stellt sich vielleicht heraus, dass Medienkritik mehr und anderes sein kann als »ängstliche Phantasielosigkeit«.[17]
Allerdings liegt eine historisch-systematische Einführung zur Medienkritik, trotz der verdienstvollen Quellenauswahl von Kleiner, noch immer nicht vor. Mit diesem Buch soll ein erster Versuch unternommen werden, das Phänomen der Medienkritik in seinen theoretischen wie historischen Grundzügen zu beschreiben. Medienkritik, so wird sich am Ende der Lektüre hoffentlich zeigen, ist kein Störgeräusch, sondern Voraussetzung und - um im Bild zu bleiben - Begleitmusik moderner Mediengesellschaften.
Die Pläne für dieses Buch reichen weit vor das Jahr 2022 zurück. Im Jahr 2018 konnte ich mit Hilfe eines Fellowships des Leibniz-Forschungsverbundes Historische Authentizität am Institut für Europäische Geschichte in Mainz wichtige historische Stationen der Medienkritik erforschen. Im Jahr 2020 war es mir durch einen Zuschuss der Richard & Emmy Bahr-Stiftung möglich, in einem Studienprojekt medienkritische Stellungnahmen im zeitgenössischen Feuilleton stichprobenartig zu erfassen. Diesen Institutionen gilt ebenso mein Dank wie dem interfakultären Medienforum der Universität Innsbruck, insbesondere seinem langjährigen Leiter Theo Hug, sowie meinem Kollegen Thomas Schröder, mit denen ich zentrale Kapitel der Arbeit besprechen durfte. Zu Dank verpflichtet bin ich darüber hinaus den studentischen Mitarbeiterinnen Marie-Therese Franke und Sophie Modert, die mich bei der Literatur- und Quellenrecherche unterstützt haben, sowie Judith Kerschbaumer fürs Korrekturlesen.
Die rasante Entwicklung von Medientechnologie und Medienkommunikation geht weder an der Medienkritik noch an ihrer Erforschung spurlos vorüber. Ob und auf welche Weise sich der medienkritische Diskurs in den digitalen (oder postdigitalen) Raum...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.