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Siebenundzwanzig erledigt, blieben noch drei. Und Brad Thatchers Arbeit würde eine der drei letzten sein. Du bist ein Feigling, schalt sich Jenna Marshall. Du hast Angst vor einem Blatt Papier. Genauer gesagt fünf Blatt Papier, säuberlich gestapelt, die Kanten an der linken oberen Ecke ausgerichtet. Mal drei Schüler, deren Arbeiten sie noch zu bewerten hatte. Sie starrte auf den purpurnen Ordner, der die noch nicht benoteten Chemietests enthielt.
Du bist ein Feigling und drückst dich vor dem Unausweichlichen. Plötzlich seufzte sie. Ihr Blick wanderte über den verschrammten alten Tisch, der mitten im Lehrerzimmer stand, und blieb an einer Mauer windschiefer Ordnerstapel hängen, hinter der sich Casey Ryan verbarg und gerade die Arbeiten ihres Englischkurses korrigierte. Die armen Kinder. Dostojewski stand auf dem Programm, und die Schüler mussten nicht nur Verbrechen und Strafe lesen, sondern auch noch einen Aufsatz darüber schreiben. Jenna verdrehte die Augen.
Jetzt mach dich endlich an die Arbeit, Jen. Hör auf, Ausreden zu suchen, und nimm dir Brads Arbeit vor. Sie griff nach ihrem Rotstift, starrte einen Augenblick unversöhnlich auf den Hefter, dachte an Brad Thatcher und den Test, den er mehr als wahrscheinlich in den Sand gesetzt hatte, und schaute sich verzweifelt nach etwas um, mit dem sie sich stattdessen beschäftigen konnte. Der einzige andere Anwesende im Lehrerzimmer war Lucas Bondioli, Vertrauenslehrer am Tag, Topgolfer in seinen Träumen. Lucas war mit allen Sinnen darauf konzentriert, in einen umgekippten Plastikbecher zu putten. Und da der Mann immer sehr ungehalten wurde, wenn man ihn dabei störte, wandte Jenna ihre Aufmerksamkeit wieder Casey zu.
Caseys Hand erschien über den wackeligen Türmen aus Ordnern und grabschte den nächsten Aufsatz. Der Stapel begann, gefährlich zu schwanken, und Jennas Hände schossen instinktiv vor und packten ein paar Arbeiten, um den Turm zu stabilisieren und ein größeres Unglück zu verhindern.
»Hände weg«, knurrte Casey, ohne von ihrer Korrektur aufzuschauen.
»Verdammt!«, stieß Lucas hervor.
»Leg sie einfach zurück, und es wird nichts geschehen«, fuhr Casey fort, als hätte Lucas nichts gesagt.
Jenna schaute auf und sah gerade noch, wie Lucas' Putt weit danebenging, zog den Kopf ein, legte die Ordner zurück und setzte sich wieder. »Tut mir Leid, Lucas.«
»Schon okay«, gab er düster zurück. »Wäre sowieso nichts geworden.«
»Und ich?« Casey blickte über ihre Mauer aus Heftern.
»Dir hab ich doch nichts getan. Ich wollte bloß verhindern, dass hier alles zusammenbricht.« Sie deutete mit einer fahrigen Handbewegung auf die Stapel. »Du bist eine durch und durch chaotische Person.«
»Und du bist unentschlossen und zögerlich«, sagte Lucas freundlich und setzte sich neben Jenna.
Casey griff nach der nächsten Arbeit. »Was gibt es denn zu zögern, Jen? Das sieht dir gar nicht ähnlich.«
Lucas ließ sich auf seinem Stuhl abwärts rutschen. »Sie will Brad Thatchers Chemietest nicht korrigieren, weil sie genau weiß, dass er durchgefallen ist und weil sie eigentlich seinen Vater anrufen müsste, da Brad sich in letzter Zeit völlig anders verhält als üblich, aber leider traut sie sich nicht so recht, schon wieder Eltern anzurufen, weil sie am Mittwoch von Rudy Lutz' Vater übel beschimpft wurde, da sie« - er holte tief Luft - »seinen Sohn im Förderkurs Chemie durchfallen lassen und dafür gesorgt hat, dass er vorübergehend aus dem Football-Team ausgeschlossen wird.« Er atmete aus.
Jenna sah ihn halb verärgert, halb bewundernd an. »Wie machst du das?«
Lucas grinste. »Ich habe eine Frau und vier Töchter. Wenn ich nicht schnell rede, komme ich nie zu Wort.«
Caseys Stuhl schrammte über den gefliesten Boden, sie stand auf, und ihr blonder Kopf spähte über die Mauer aus Arbeiten. Auf Zehenspitzen nur knapp über eins fünfzig groß, sah man sie nur vom Kinn aufwärts. »Brad Thatcher hat den Chemietest versiebt?« Ihr Gesicht legte sich in Falten, sodass sie aussah wie eine verdatterte, körperlose Elfe. »Reden wir hier über den Brad Thatcher, das Wunderkind?«
Jenna senkte ihren Blick auf den Hefter. Ihre Miene war wieder ernst. »Ja. Nur, dass er nicht mehr derselbe Brad ist. Im letzten Test hatte er ein F. Und ich würde mir diesen hier am liebsten gar nicht ansehen.«
»Jenna.« Lucas schüttelte den Kopf und wurde wieder zu dem in sich ruhenden, nachdenklichen Menschen, der für Lehrneulinge wie sie selbst ein so wunderbarer Mentor war.
»Tu es einfach. Danach können wir darüber reden, was wir unternehmen sollen.«
Jenna griff also entschlossen ein weiteres Mal nach ihrem Rotstift, schlug den Ordner auf und fand Brads Test ganz unten in dem dünnen Stapel. Ihr Mut sank, während sie eine Frage nach der anderen mit einem »x« markierte. Brad war ihr vielversprechendster Schüler gewesen; klug, redegewandt, ein sicherer Kandidat für das prestigeträchtige Stipendium, das eine Gruppe von Firmen aus Raleigh vergab. Er hatte diese einzigartige Gelegenheit im Grunde bereits verschenkt. Noch einen Test wie diesen, und er würde den Kurs nicht bestehen. Dann waren seine Chancen vertan, von den Colleges, die er sich ausgesucht hatte, angenommen zu werden. Wie war das bloß geschehen? Sie wusste es nicht. Wieder seufzte sie, als sie auf die erste Seite oben und unten ein »F« schrieb. Eine glatte Sechs. Sie schaute auf und sah, dass Lucas und Casey schweigend warteten.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich auf einer Arbeit von Brad Thatcher mal ein F sehen würde.« Sie legte den Stift auf den Tisch. »Was ist bloß los mit ihm?«
Lucas nahm die Blätter und überflog den Test mit besorgter Miene. »Keine Ahnung, Jen. Manchmal haben die Kids Probleme mit der Freundin, manchmal Probleme zu Hause. Aber ich weiß, was du meinst. Ich hätte auch nie erwartet, dass Brad sich so ändern könnte.«
»Glaubst du, dass es mit Drogen zusammenhängt?«, sprach Casey aus, was alle im Stillen fürchteten.
»Es ist bekannt, dass es auch bei Jugendlichen aus so genanntem gutem Haus passieren kann«, sagte Jenna und schob Brads Test zurück in die Mappe. »Ich werde wohl oder übel seinen Vater anrufen müssen, aber ich bin wirklich nicht erpicht darauf. Der Grund dafür, wie Lucas ganz richtig festgestellt hat, ist die Reaktion von Rudy Lutz' Vater, als ich ihm mitteilte, dass sein Sohn den letzten Test nicht bestanden hat und kein Football spielen darf, bis seine Noten sich gebessert haben.«
Casey kam um den Tisch herum und hockte sich auf die Tischkante neben Jennas Stuhl. »Mr. Lutz hat es dir so richtig gegeben, was?«
Bei dem Gedanken an das Telefonat zogen sich Jennas Eingeweide erneut zusammen. »Ich habe ganz neue Schimpfwörter gelernt«, sagte sie mit einem matten Grinsen. »Sehr inspirierend. Aber was Brad angeht, fühle ich mich furchtbar hilflos. Es kommt mir vor, als ob er sein Leben wegwirft. Wenn ich nur wüsste, was ich tun kann.«
Casey verengte die Augen. Mit ihrer schmalen Hand griff sie nach Jennas Kinn. »Das werde ich dir sagen. Du rufst seine Eltern an, sagst ihnen, dass sie mit deiner Unterstützung rechnen können, und wartest erst einmal ab. Du bist nicht die Retterin der Welt, Jen. Der Junge ist keiner von deinen süßen verlassenen Welpen, die du davor bewahren kannst, eingeschläfert zu werden. Er ist ein Schüler im Abschlussjahr mit genügend Hirn, um eigene Entscheidungen zu treffen. Du kannst ihn nicht zu seinem Glück zwingen. Und das sind leider die harten Fakten. So ist das Leben, klar?«
Schon in ihrer Collegezeit auf der Duke hatte Casey es sich zur Aufgabe gemacht, auf Jenna aufzupassen. Was nicht der Komik entbehrte, da Jenna Caseys kleine Gestalt um einiges überragte. Die beiden waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht: Jenna war groß und dunkel, Casey klein und blond. Casey, ewiger Cheerleader und auf jeder Party anzutreffen, Jenna dagegen ruhig und distanziert. Selbst jetzt noch, da beide die Dreißig erreicht hatten, spielte Casey die Löwenmutter mit echter Hingabe. Jenna hatte es schon vor langer Zeit aufgegeben, sie davon abzubringen. »Jawoll, Ma'am. Du kannst mich jetzt loslassen.«
Casey tat es, ohne jedoch den Blick von ihr zu wenden. »Sag mir, wie das Gespräch gelaufen ist.«
Jenna suchte die Liste, auf der die Eltern und Erziehungsberechtigten der Schüler eingetragen waren. »Brad hat nur noch den Vater.«
»Seine Mutter ist vor vier Jahren umgekommen«, erklärte Lucas. »Bei einem Autounfall.«
Casey schürzte nachdenklich die Lippen. »Das allein würde ausreichen, um ein Kind aus der Bahn zu werfen. Und dann noch die Sache mit seinem Bruder, der gekidnappt worden ist. Hör mal, ich muss jetzt los. Meine Vierte nimmt Macbeth durch, und ich muss noch den Kessel aufsetzen.« Sie ging zur Tür und drehte sich dort noch einmal um. Ihre Miene war ernst. »Sieh zu, dass sie sich nicht zu sehr in Brads Probleme hineinziehen lässt, Lucas. Sie muss immer alles unter Kontrolle haben.«
Lucas' Lippen zuckten. »Ich weiß, Casey. Danke«, sagte er trocken. »Ich pass auf.«
Als die Tür wieder zu war, verdrehte Jenna die Augen. »Ich muss immer alles unter Kontrolle haben?«
»O ja, und ob«, sagte Lucas freimütig. »Genau wie sie. Und du bist sicher, dass ihr zwei nicht verwandt seid?«
»Ganz sicher. Siehst du denn nicht, wie unterschiedlich unsere Augenfarbe ist?« Jenna wandte sich wieder der Telefonliste zu. »Brads Vater arbeitet bei der Polizei. Den...
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