Schweitzer Fachinformationen
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»Es ist bloß ein Haus«, murmelte Dr. Faith Corcoran und umklammerte das Lenkrad, während sie ihren Jeep auf Schrittgeschwindigkeit drosselte. »Stell dich nicht so an. Bloß vier Wände, Boden, Dach.«
Dennoch fuhr sie, die Augen stur geradeaus gerichtet, am fraglichen Haus vorbei. Sie musste nicht hinsehen, sie wusste genau, wie es aussah. Ein dreistöckiges Gebäude aus grauen Ziegeln und Natursteinen mit zweiundfünfzig Fenstern und einem eckigen Turm, der kerzengerade in den Himmel wies. Der Boden in der Eingangshalle bestand aus italienischem Marmor, das Mobiliar war aus kostbarem Edelholz, die breite Treppe hatte ein elegant geschwungenes Geländer aus Mahagoni, und der Kristalllüster im Speisesaal funkelte, als sei er aus Edelsteinen gemacht. Das alles wusste sie. Sie kannte das Haus in- und auswendig.
Sie wusste auch, dass es nicht die vier Wände, Boden, Dach waren, die sie wirklich fürchtete, sondern das, was sich darunter befand. Zwölf Stufen und ein Keller.
Am Ende des Wegs wendete sie und hielt schließlich vor dem Haus an. Fast nüchtern stellte sie fest, dass sich ihr Herzschlag beschleunigte. »Das ist ganz normal. Dein Körper reagiert auf Stress. Der beruhigt sich auch wieder.«
Aber wen wollte sie eigentlich damit überzeugen? Die Furcht hatte sich mit jeder Meile, die sie in den vergangenen zwei Tagen gefahren war, kontinuierlich aufgebaut. Als sie eben den Fluss nach Cincinnati überquert hatte, war sie als körperlicher Schmerz in ihrer Brust spürbar gewesen. Und nun, dreißig Minuten später, hyperventilierte sie fast, was nicht nur albern, sondern vollkommen inakzeptabel war.
»Herrgott noch mal, werde endlich erwachsen«, fauchte sie, würgte den Motor ab und riss den Schlüssel aus der Zündung. Als sie aus dem Jeep sprang, gaben ihre Knie beinahe nach, was sie umso wütender machte. Es konnte doch nicht wahr sein, dass allein der Gedanke an das Haus ihr das Gefühl gab, wieder neun Jahre alt zu sein.
Aber du bist nicht mehr neun. Du bist zweiunddreißig und hast bereits mehrere Mordanschläge überlebt. Da wirst du doch wohl keine Angst vor einem Haus haben.
Mit der Kraft ihrer Wut hob Faith endlich den Blick und sah das Anwesen zum ersten Mal seit dreiundzwanzig Jahren. Es wirkte . alt und wuchtig. Bedrückend. Und es war mehr als nur ein bisschen heruntergekommen, doch noch immer eindrucksvoll.
Es wirkte alt, weil es alt war. Das Haus stand seit über hundertfünfzig Jahren auf O'Bannion-Land und zeugte von einem Lebensstil, der schon lange nicht mehr existierte. Hoch und finster erhoben sich die drei Stockwerke vor dem Betrachter, und der Turm war wie ein Befehl, nach oben zu schauen.
Faith gehorchte selbstverständlich. Als Kind war sie nie in der Lage gewesen, sich dem Turm zu widersetzen. Das hatte sich nicht geändert. Und der Turm selbst auch nicht. Er hatte seine eigensinnige Würde behalten, obwohl die Fenster vernagelt waren.
Tatsächlich waren alle zweiundfünfzig Fenster vernagelt, da das O'Bannion-Haus seit dreiundzwanzig Jahren unbewohnt war. Und das war nicht zu übersehen.
Die steinernen Mauern waren intakt, wenn auch verwittert, doch die hübschen viktorianischen Holzverzierungen waren ausgeblichen und voller Risse. Die Veranda war eingefallen, die Glastür blind durch jahrzehntelange Schmutzablagerung.
Vorsichtig bahnte sie sich ihren Weg über die fleckige Rasenfläche zum Tor. Der Zaun war aus Schmiedeeisen. Altmodisch. Errichtet für die Ewigkeit, wie das Haus selbst. Trotz rostiger Angeln ließ sich das Tor öffnen. Die steinernen Gehwegplatten waren geborsten, Unkraut zwängte sich durch die Risse.
Faith nahm sich einen Moment Zeit, ihr jagendes Herz zu beruhigen, bevor sie ihren Fuß probeweise auf die Treppe zur Veranda setzte.
Die Veranda. Ihre Großmutter hatte den überdachten Vorbau, der sich einmal ganz ums Haus herumzog, geliebt. Oft hatten sie hier draußen gesessen und Limonade getrunken, sie und Gran. Und Mama auch. Vorher natürlich. Danach . gab es keine Limonade mehr.
Danach gab es gar nichts mehr. Eine lange, lange Zeit gab es absolut nichts mehr.
Faith schluckte den bitteren Geschmack, der sich in ihrem Mund breitmachte, aber die Erinnerung an ihre Mutter blieb. Denk nicht an sie. Denk an Gran, denk daran, wie sehr sie an diesem alten Kasten gehangen hat. Und sie wäre so traurig gewesen, wenn sie gesehen hätte, wie es hier ausschaut.
Aber Gran würde das Haus nie wiedersehen, denn sie war tot. Und deshalb bin ich hier. Das Haus und alles, was sich darin befand, gehörte nun Faith. Ob sie es wollte oder nicht.
»Du musst ja nicht hier wohnen«, sagte sie zu sich selbst. »Verkauf den Besitz und geh .«
Wohin? Auf keinen Fall zurück nach Miami, so viel stand fest. Du läufst ja doch bloß wieder weg.
Tja, so sieht's aus - na und? Natürlich lief sie weg. Jeder Mensch, der halbwegs bei Verstand war, würde die Beine in die Hand nehmen, wenn er von einem mörderischen Ex-Häftling verfolgt wurde, der sie bereits mehr als einmal fast getötet hatte.
Manch einer war der Ansicht, dass sie sich nicht wundern dürfe. Wer versuchte, Sexualstraftäter zu therapieren, begab sich automatisch in Gefahr. Und manch einer behauptete sogar, ihr lägen die Täter mehr am Herzen als die Opfer.
Aber die Leute irrten sich. Sie wussten nicht, was sie getan hatte, um zu verhindern, dass die Täter weitere Opfer fanden. Keiner wusste, was sie riskiert hatte.
Vor vier Jahren war Peter Combs in dem Glauben auf sie losgegangen, sie habe ihn bei seinem Bewährungshelfer verpetzt, weil er eine Therapiesitzung bei ihr geschwänzt hatte, die zu seinen Auflagen zählte. Faith schauderte bei dem Gedanken, wozu dieser miese Scheißkerl vermutlich fähig gewesen wäre, hätte er gewusst, dass ihre Rolle bei seiner erneuten Inhaftierung weit über die simple Meldung von Fehlzeiten hinausgegangen war. Aber in Anbetracht des Katz-und-Maus-Spiels, das er seit seiner Entlassung mit ihr trieb, und der Tatsache, dass er ihr nicht nur nachstellte, sondern inzwischen bereits viermal versucht hatte, sie umzubringen, wusste er es womöglich doch. Oder er hatte es sich zusammengereimt.
Automatisch schob sie die Hand in die Jackentasche und spürte das kalte Metall der Walther PK380, ohne die sie seit fast vier Jahren nicht mehr vor die Tür ihrer Wohnung in Miami gegangen war. Die Polizei war keine Hilfe gewesen, also hatte sie kurzerhand selbst für ihre Sicherheit gesorgt.
Sie war ein vernünftiger Mensch. Sie war vorbereitet. Aber sie hatte auch Angst. Und ich bin es so leid, immer Angst zu haben.
Plötzlich fiel ihr auf, dass sie den Blick gesenkt hatte, und sie hob trotzig das Kinn. Ja, sie war weggelaufen. Und sie war ausgerechnet zu dem Ort geflohen, den sie beinahe genauso fürchtete wie den, den sie hinter sich gelassen hatte. Was sich auch jetzt noch genauso verrückt anhörte wie vor zwei Tagen, als sie aus Miami geflüchtet war. Aber es war ihre einzige Chance gewesen. Von jetzt an wird keiner mehr meinetwegen sterben.
Sie hatte so viel von ihrer Habe in den Jeep gepackt, wie hineinpasste, und alles andere zurückgelassen - auch ihre Stelle als Psychotherapeutin und den Namen, unter dem sie ihre Karriere aufgebaut hatte. Ein notariell beglaubigter Namenswechsel, der laut Gericht unter eine Vertraulichkeitsklausel fiel, hatte dafür gesorgt, dass Faith Frye nicht mehr existierte.
Faith Corcoran war ein unbeschriebenes Blatt. Sie konnte ganz von vorne beginnen. Niemand in Miami - Freund oder Feind - wusste von diesem Haus. Niemand wusste, dass ihre Großmutter gestorben war, also konnte es auch niemand Peter Combs verraten. Er würde niemals auf den Gedanken kommen, sie hier zu suchen.
Sie hatte sogar einen neuen Job, eine anständige Stelle in der Personalabteilung einer Bank in der Innenstadt von Cincinnati. Ihre Kollegen würden Anzüge tragen und über Kalkulationen brüten. Sie würde ein festes Einkommen und zum ersten Mal in ihrem Leben Sozialleistungen beziehen. Der größte Vorteil in ihren Augen aber war die Sicherheit, die eine Bank bot, falls ihre Maßnahmen, Faith Frye abzuschütteln, nicht effektiv genug gewesen waren.
Unwillkürlich wanderten ihre Fingerspitzen zu ihrem Hals. Obwohl die Wunde längst verheilt war, erinnerte sie die zurückgebliebene Narbe immer daran, wozu der Mann, der sie jagte, imstande war. Doch immerhin lebte sie noch. Gordon dagegen nicht.
Schuldgefühle und Trauer stiegen in ihr auf und schnürten ihr die Kehle zu. Oh, Gordon, es tut mir so leid. Ihr ehemaliger Chef hatte das Pech gehabt, direkt neben ihr zu stehen, als man das Feuer auf sie eröffnete. Nun war Gordons Frau Witwe, und seine Kinder mussten ohne Vater aufwachsen.
Sie hatte Gordon nicht zurückholen können. Aber sie konnte alles in ihrer Macht Stehende tun, dass so etwas nie wieder geschah. Wenn Combs sie nicht fand, konnte er weder ihr noch jemandem, der zufällig in ihrer Nähe war, etwas antun. Der Tod ihrer Großmutter hatte ihr eine Zuflucht verschafft, die sie nie mehr gebraucht hatte als jetzt.
Das Haus war ein echtes Geschenk. Dass es außerdem ihr ältester Alptraum war, hielt sie nicht davon ab, das Geschenk anzunehmen. Also zwang sie ihre Füße, sich in Bewegung zu setzen, ging bis zur Tür, zog den Schlüssel aus ihrer Tasche und steckte ihn ins Schloss.
Doch die Tür öffnete sich nicht. Nach dem dritten Versuch dämmerte ihr langsam, dass der Schlüssel nicht passte. Der...
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