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Wenn es heute selbstverständlich erscheint, durch einen Anteil an Wählerstimmen die Tatsache zum Ausdruck zu bringen, dass »die Stimme der Mehrzahl für alle gilt« (Rousseau), verbirgt sich dahinter eine entscheidende Grundannahme: die Idee einer politischen Legitimität, die erst dann vollständig verwirklicht ist und ihrem Begriff entspricht, wenn aufseiten der Bürger einmütige Zustimmung herrscht. Nur dann kann die politische Macht beanspruchen, vollständig in der Gesellschaft verankert zu sein. Da die Demokratie den Einzelnen als Träger unveräußerlicher Rechte betrachtet, ist die Zustimmung aller die einzige unanfechtbare Garantie für die Achtung der Person. Dieser »individualistische« Einstimmigkeitsbegriff ist das Prinzip des Rechtsstaats. Die Institutionen von Rechtsstaat und allgemeinen Wahlen, die sich idealiter überlagern, definieren deshalb gemeinsam das demokratische System. Die für das Demokratieideal konstitutive Einstimmigkeitsforderung hat sich aber nicht auf dieses Postulat beschränkt. In einer eher anthropologischen Auffassung von Übereinstimmung wird die Gesellschaft selbst als ein korporatives Ganzes begriffen. Erst diese holistische Auffassung des individualistischrechtsförmigen Einstimmigkeitspostulats verleiht der elektoralen Legitimation der Regierenden ihren Sinn - eine ganzheitliche Sicht, die Einstimmigkeit zum inneren (moralischen, gesellschaftlichen und politischen) Wert erhebt. Die demokratischen Systeme haben das Mehrheitsprinzip als eine praktische Notwendigkeit eingeführt, weil die arithmetische Einstimmigkeit in der Praxis nicht zu verwirklichen war. Sie blieben aber gleichzeitig in der klassischen politischen Welt einer substantiellen Übereinstimmung gefangen. Nur ist diese nicht mehr im Sinne einer einfachen Äquivalenz zu begreifen. Der Mehrheitsbegriff hat eine arithmetische Bedeutung und entspricht keinem anthropologischen Sachverhalt. Das führt zu einem unterschwelligen Widerspruch, der am Verständnis von elektoraler Legitimität nagt. Ein kurzes Eintauchen in die klassische Welt der Einstimmigkeit kann das Problem deutlich machen.
In der Antike galt eine vereinte und befriedete Gesellschaft als politisches Ideal. Homonoia, die Göttin der Eintracht, wurde in den griechischen Stadtstaaten verehrt, in der lateinischen Welt errichtete man den Concordia Tempel.17 Politische Teilhabe bedeutet in diesen Welten zunächst, als Mitglied einer Gemeinschaft aufzutreten, indem man Zugehörigkeit bekundet und sich als Teil von Institutionen darstellt. Das ist in Rom der Sinn der bekannten Formel SPQR - Senatus populusque romanus. Sie bedeutet, dass Volk und Senat eins sind, was aber nichts mit einem Mandat oder Abgeordnetenstatus zu tun hat. »Repräsentation« gibt es nur unter der Voraussetzung einer Identifikation. Man kann also nur an einem Ganzen, einer Totalität partizipieren und deshalb keine Politik betreiben, die eine Spaltung zum Ausdruck bringt. Daher rührt die zentrale Bedeutung der Akklamation. In den Akklamationen des Volkes manifestiert sich in Rom das Ideal des Konsensus, der in den Städten wie im gesamten Reich herrschen soll. So besiegeln sie auf kommunaler Ebene häufig die Verabschiedung der Dekrete zu Ehren von Notabeln und Euergeten.18 Zahlreiche Inschriften zeugen von der postulatio populi, dem Willen des Volkes, und die Formel postulante populo findet sich in vielen Incipitzeilen. Oft fanden diese »Einstimmigkeitsrituale« im Theater oder Amphitheater statt. Und die Menge und die Notabeln spielten in diesem Stück ihre jeweilige Rolle. Sah jene sich geschätzt und anerkannt, indem sie sich bekunden sollte, so bedurften diese zu ihrer Legitimation der Zustimmungsrufe.19 In einer emotionalen Form wurde damit eine informelle Ökonomie des Politischen in Szene gesetzt, ein symbolischer Austausch (auf der Ebene von Anerkennungs- und Ehrenbezeugungen) wie auch ein materieller (auf der Ebene verteilter Zuwendungen), der durch die Zustimmungsrufe feierlich besiegelt wurde. Die Zustimmung (oder, im Ausnahmefall, die Ablehnung) konnte aber in diesem Rahmen nie partiell, sondern immer nur pauschal erfolgen. Die Billigung des Volkes sollte allenfalls einen Aushandlungsprozess besiegeln, dessen Ergebnisse nie formell festgehalten wurden, nur instinktiv in den Köpfen präsent waren. In der Terminologie der heutigen politischen Soziologie herrschte damals ein »Scheinkonsens«.20 Die »Wahl«, wenn man diesen Begriff weiter verwenden will, sollte also keinen Einschnitt markieren, keinen neuen Politikzyklus einleiten, sie sollte nur einen Zustand bekräftigen und das gute Funktionieren des Gemeinwesens bezeugen.
Solche »Einstimmigkeitsrituale« gab es auch andernorts, besonders in der germanischen und gallischen Welt. Zutiefst beeindruckt hatten sie Caesar und Tacitus, die im »Gallischen Krieg« und in der »Germania« ausführlich darauf eingehen. Beide beschrieben jene Versammlungen bewaffneter Männer, die ihre Zustimmung zu einem Vorschlag ihrer Stammesfürsten lautstark durch das Schwenken ihrer Speere zum Ausdruck brachten und umgekehrt durch Murren einen Vorschlag verwarfen, der ihnen missfiel.21 Auch hier ist es die versammelte Menge als solche, die zustimmt. Es ging in dieser Welt nie darum, die Stimmen zu zählen. Die Volksversammlung ist in diesem Falle nur eine Form, den Zusammenhalt der Gruppe zu prüfen und zu bekräftigen, zugleich eine Feier der Einheit zwischen dem Fürsten und dem Volk (die germanischen Begriffe für »König« gehen auf kin, »Volk«, und auch auf das Wort zur Bezeichnung des Stammes zurück). Darüber hinaus wird diese Einheit religiös gefestigt. Dem Stammesführer werden übernatürliche Kräfte zugeschrieben, die die Gemeinschaft mit ihren Göttern verbindet.22 Dadurch bekamen die Kriegerversammlungen eine sakrale Bedeutung, die mit ihrer »politischen« Dimension untrennbar verbunden war. Die Priester spielten dabei eine zentrale Rolle. Sie eröffneten die Beratung und übten als Hüter des Stammesfriedens eine gewisse Zwangsgewalt über die Gruppe aus. Wurde die Übereinstimmung durch offenen Dissens getrübt, deutete man dies sofort als böses Vorzeichen, als bedrohliche Störung der sozialen Ordnung, die es schnellstens zu beseitigen galt.
In diese antike Kultur der Einstimmigkeits-Partizipation ordnete sich auch die Kirche der ersten Jahrhunderte ein. Die frühchristlichen Gemeinden wollten das verwirklichen, was ihnen im kommunalen Leben der damaligen Zeit als noch unentwickeltes Ideal erschien.23 Durch die Verehrung einer in drei Personen verkörperten Gottesidee wollten sie eine Einheit bezeugen. Der Versammlung der Gläubigen wurde deshalb von der Kirche eine aktive Rolle bei der Regelung ihrer Angelegenheiten zuerkannt. Mit ihrem starken Gleichheitssinn hatten sich diese ganz auf sich selbst zurückgezogenen Gemeinden spontan auf der Basis eines gemeinschaftlichen Zusammenwirkens organisiert, noch bevor sich strengere Hierarchien ausbildeten. Die christliche Welt sollte in diesem Geist dazu beitragen, ein ganzes Vokabular der Deliberation und Partizipation zu verbreiten. Interessanterweise taucht in diesem Rahmen erstmals der Begriff der allgemeinen Wahl auf, um das Einvernehmen der Gemeinde zu bezeichnen.24 Diese Urchristen waren es auch, die als Ausdruck ihres Strebens nach echter Kommunion den Begriff der unanimitas prägten.
Schon im 1. Jahrhundert hatten die Apostel auf Wahlen zurückgegriffen, um die verschiedenen, auch kleineren Gemeindeämter zu besetzen. Die Bischofswahl wiederum verbreitet sich mit dem Abtreten der ersten apostolischen Generationen, deren Einfluss auf die Gläubigen gewissermaßen natürlich und unstrittig war.25 Ihr Prinzip wird dann formell bestätigt. So verkündet Papst Coelestin I. zu Beginn des 5. Jahrhunderts die Regel: »Niemand darf gegen den Willen des Volkes zum Bischof bestellt werden.« Sie wird von seinen Nachfolgern immer wieder bekräftigt. Man sollte aber den Begriff der electio in diesem Zusammenhang nicht falsch verstehen. Es gibt weder Kandidaten noch Stimmzettel, weder Wahlurnen noch eine Auszählung der Stimmen. Die Wahl vollzieht sich plebe praesente, im Beisein des Volkes, mit dessen Zustimmung, in seinem Einvernehmen. Sie ist ein Ritual der Kommunion, drückt das Vertrauen der Gemeinschaft gegenüber demjenigen aus, der sie führen soll, wird aber nicht durch bestimmte Verfahren geregelt. Die uns zugänglichen Berichte über derartige Wahlen betonen vor allem den in der Gruppe herrschenden Geist und machen deutlich, dass die Gemeinde zur Bestätigung der Wahl oder des Vorschlags eines engeren Kreises von Geistlichen zusammenkommt, der vorher Gelegenheit hatte, »das Terrain zu sondieren«. Die Versammlung äußert sich per Akklamation, zum Beispiel mit den...
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