Schweitzer Fachinformationen
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Man steigt so lange auf, bis man auf einer Stufe ankommt, auf der man sich als inkompetent erweist. Mein größtes Versagen ist meine Mutter. Ich steige die Treppenstufen zu ihr in die sechste Etage hoch. Bei jedem Schritt spüre ich meine Gebärmutter. Meine inneren Organe fühlen August noch in sich. Es tut immer noch weh, obwohl schon Montagmorgen ist. Äußerlich ist trotz Mit-Fingern-Aufhalten und Handspiegel nichts zu erkennen. Vielleicht ist es ein Riss, eine Fissur. Oder eine Pilzinfektion? Ich würde gerne kurz mit dem Finger durch mein äußeres Organ blättern, gleich hier im Treppenhaus - wäre es nicht so vulgär. Mein Wildlederrock ist hochgeschlossen. Es wäre umständlich und grotesk. Wie der Anfang eines dieser MILF-Pornos. Um halb elf bin ich beim Gynäkologen angemeldet. Ich stecke den Schlüssel ins Schloss, drehe ihn um und trete in den Flur. Das Parkett knarrt.
»Mama?« Sie antwortet nicht, typisch. Ich habe plötzlich Bilder im Kopf. Schlaganfall, Sturz, Bein gebrochen, einen Zipfel Wurst verschluckt, Erstickung, Lebensgefahr, Sitzen im Krankenhausgang, Weinen, Schläuche, Maschinen, Trauerfeier.
»Maaamaa.«
Ich durchwandere den lichtdurchfluteten Flur der Altbauwohnung, stelle schnell den Kuchen auf den Küchentisch, lege die Tulpen, die Hörzu achtlos daneben, gehe ins Wohnzimmer. Mutter sitzt angezogen, ihre gelbe Strickjacke um die Schultern, in ihrem Lieblingssessel aus grünem Samt, isst wie eine alte bräsige Kuh Nudelsalat aus einer Tupperdose und schaut fern. Als ich reinkomme, sieht sie mich nicht an, sondern weiter zur hundertsten Wiederholung von Richter Alexander Hold. Scripted Reality, Junk Food, keine Bewegung - immerhin arbeitet sie fleißig an ihrem Ableben mit.
Ich seufze und setze mich auf den Hocker neben sie. Weil ich Gerichtsfernsehen nicht ertrage, schaue ich mich nach einer Aufgabe oder einem Anlass für Kritik um, aber eigentlich habe ich resigniert. Der gefüllte Aschenbecher auf dem eierschalenfarbenen gekachelten Beistelltisch widert mich an - auch der vollgestellte Tisch mit Notizblöcken, einer Vase mit vertrockneten Blumen, ihre pink gerahmte Lesebrille, eine leere Teekanne aus Glas mit zwei abgehangenen Beuteln Kräutertee, Rheuma-Creme in einem zerdrückten Metalltiegel. Das Messiehafte steckt meiner Mom in den Genen. Nachkriegsgeneration. Wir hatten ja nichts. Aber die Russen, sagte meine Großmutter immer, hätten sie nicht hungern lassen. Dass sie sich übergeben musste. So fettig war das Fleisch, das die Russen ihr gaben. Aber sie ließen keinen Deutschen in ihrer Besatzungszone hungern. Großmutter gab sich wie eine Dame von Welt, die Burda-Zeitschriften und Modemagazine las. Aber wenn ich als Kind meine Makkaroni nicht aufaß, bekam sie feuchte Augen. Das Trauma der Armut hat sie an meine Mutter weitergegeben. Jeder Schnipsel, der es zu ihr hineingeschafft hat, ist Kunst. Jede Papierblume, jeder Bilderrahmen, jede leere Parfümflasche, die Marienstatue mit der abgeblätterten Farbe, die Flickendecke, auf der schon vor dreißig Jahren meine Katze saß, alte Fahrkarten, jedes Objekt und jeder Müll ist es meiner Mutter wert, aufgehoben zu werden. Sie konserviert die Vergangenheit, sie denkt nicht mehr an die Zukunft. Sie lebt in einer Kathedrale aus kompostierten Emotionen, einem Gemischtwarenladen aus Selbstbetrug - die gerahmten Bilder, die Milchkanne aus ihrer Kindheit, das Silberbesteck aus ihrer gescheiterten Ehe sind tägliche Erinnerungsgehhilfen an das Gewesene.
Auf jedem ihrer leicht vergilbten Fotos, die überall in ihrer Wohnung hängen, sieht sie schön aus, aber nie ist sie auf einem älter als fünfundvierzig. Heute ist sie fünfundachtzig. Vierzig Jahre Erinnerungen, an die sie nicht erinnert werden möchte. Ich dagegen stehe auf vielen Fotos als Kind neben ihr, im gepunkteten Bikini-Oberteil, in einem karierten Kleid, und verziehe das Gesicht, weil ich in die Sonne blinzle oder gerade dabei bin, Essen runterzuschlucken. Bei der Auswahl ihrer Fotos, die es in einen Rahmen oder an den Kühlschrank schaffen, ist es wichtig, dass sie es ist, die gut aussieht, nicht ich. Nicht die anderen.
Sie hat ihren Ballast an mich weitergegeben, ihre Willkür, ihren Neid auf meine Jugend, vielleicht gebe ich jetzt meinen an Mona weiter, aber wer weiß das schon. Bei Frauen geht es nicht wie beim Theweleit'schen Soldatenkörper darum, dass ein Mann die Schläge seines Vaters an seinen Sohn weitergibt. Es ist die Missbilligung, das Kleinmachen, das von einer Frauengeneration zur nächsten wie durch eine feuchte Zimmerdecke trieft.
Seit der Pubertät macht sie mich klein, mit Blicken und Kommentaren. Als ich damals mit dreizehn Jahren blutend, unbefriedigt, mit unreiner Haut, Rückenschmerzen und von Erwartungsdruck zerfressen vor ihr stand. Ihre Tochter. Ich war nie gut genug. Jetzt sollte ich es meiner Mutter heimzahlen, nun sie bluten lassen. Weil ich es könnte. So will es der Generationenkonflikt. In einem Märchen der Gebrüder Grimm isst der alte Vater des Bauern nicht am Familientisch, sondern abseits hinter dem Ofen in der Ecke. Die Eltern ekeln sich davor, den alten Greis zu sehen, wie ihm die Suppe aus dem Mund läuft und er mit zittriger Hand Suppe auf das Tischtuch schüttet. Als er sein Schüsselchen eines Tages zerbricht, gibt ihm sein erwachsener Sohn einen Holznapf. Wenig später sieht der Bauer seinen Sohn dabei, wie er ein ähnliches Schälchen schnitzt. »Daraus sollen Mama und du essen, wenn ich groß bin.« Die Eltern weinen daraufhin aus Selbstmitleid. Am Abend sitzt der Großvater wieder mit am Tisch. Der Greis, der nicht in der Lage ist, für seinen Lebenserhalt aufzukommen, stellt immer mindestens eine finanzielle Belastung für die aktiven Mitglieder dar. Aber in Gesellschaften, in denen sozialdemokratische Grundsätze herrschen, weiß jeder reife Mensch, dass ihn morgen das erwartet, was er seinen Eltern darreicht oder zumutet. Das wusste schon Simone de Beauvoir, die trotz ihres intellektuellen Status wohl kein würdevolles Leben im Paris des 20. Jahrhunderts pflegte. Nachdem ihr Lebensgefährte Sartre tot war, erlosch auch ihr professionelles Wirken. Sie veröffentlichte nur noch ein Buch. Wie der Mensch seine Eltern behandelt, ist ein ewiges Abwägen aus Weitsicht, Egoismus, Wirtschaftlichkeit und der Zumutung, den alten, sabbernden Greis täglich beim Abendessen zu ertragen. Je größer der Kuchen der Erbschaft ist, an dem sie sich laben könnten, desto gerechter verteilen die Kinder ihn. Ein reicher Mann wird von seinen Nachkommen mit Hochachtung behandelt werden. Wöchentliche Anrufe, höfliche Testamentsbesprechungen unter den Geschwistern, ernsthaft besorgte Blicke, sobald sich der Gesundheitszustand des Alten verschlechtert. Mutter hat nichts zu vererben, aber mein schlechtes Gewissen, mich nicht um sie gekümmert zu haben, verdient sie nicht. So komme ich Woche für Woche.
Auch ich hoffe, im Alter von Mona würdig behandelt zu werden, würde ich Mama, ihre Omi, nicht besuchen, hätte ich keine Rechtfertigung, später dasselbe zu fordern.
Und so sitze ich mit brennendem Unterleib am Montagmorgen nach meinem Geburtstagswochenende auf diesem abgewetzten Hocker im Wohnzimmer meiner Mutter.
»Sie zeigen nur noch Türken und Schwarze im Fernsehen.«
Meine Mutter zappt durch die Programme. Ihr Altersrassismus ist schlimmer geworden.
»Ja, dann schalte doch um, wenn es dir nicht gefällt.«
»Es ist auf jedem Sender das Gleiche.«
Resigniert schaltet sie auf Phoenix, wo eine Guido-Knopp-Folge läuft. »Die Waffen-SS«. Mutter zappt jetzt nicht mehr.
Ich schweige, weil ich für heute aufgegeben habe. Es mag Gründe geben, warum die gesellschaftliche Teilhabe für ältere Menschen eingeschränkt ist. Die Empfänglichkeit für Populismus und Nazi-Porn im Alter ist nur einer von vielen.
Ich mustere ihre Haare. Auf den grauen Ansatz folgt ein orangener Hennaton, dann ein verwaschenes Braun. Würde sie mehr aus sich machen, könnte sie eine schöne alte Frau sein. Eine Gütige, die ihre Tochter, ihre Enkelin und deren Kind umarmt und Kekse backt. Aber Marlene Moosburger hat aufgegeben, stark zugenommen. Abends trinkt sie einen Demi Bordeaux, obwohl sie es vehement abstreitet. Ihre Haut ist blass, zerknittert, hell und durchsichtig wie Pergamentpapier, ihre Zähne sind gelb, ihr Zahnfleisch hellrosa, ihre Brüste unförmige Wülste unter der gelben Strickjacke. Wie leere Lederbeutel hängen sie bis zum Bauchnabel.
Ich werde nicht dick. Niemals. Und wenn ich mit sechzig nur noch Sashimi esse und Stevia-Cola trinken muss.
»Wann kommt Martha heute, Mama?«
»Ich denke, um zwei.« Mutter sieht nicht vom Fernseher auf.
Ich gehe in die Küche, hole den Kuchen und setze mich wieder neben sie. Er ist in eine Schachtel verpackt, zwei Stücke aus der Konditorei, altdeutscher Apfelkuchen. Ich öffne die Schachtel und halte sie meiner Mutter unter die Nase.
»Hier, ich habe dir Apfelkuchen mitgebracht.« Zeigte ich ihn ihr nicht, würde sie gar nicht realisieren, dass er da ist.
Meine Mutter würdigt die 3,90-Euro-Stücke von Dallmayr nur mit einem kurzen Blick.
»Sind da Haselnüsse drin, ich esse nämlich keine...
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