Schweitzer Fachinformationen
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Wir lagen auf einer weißen Ledercouch, zwischen uns der Typ, dem die Couch gehörte. Seit einer gefühlten Ewigkeit mühten wir uns ab, von ihm eine ordentliche Erektion zu bekommen. Wir stöhnten um die Wette, zogen unsere Tops aus, schleiften mit steifen Brüsten über seine halb rasierten Wangen, aber es half nichts.
Dabei hatten wir den Abend so abenteuerdurstig begonnen. Als wir den heißen Typen im leicht aufgeknöpften Hemd sahen, der melancholisch über seine versilberten Schläfen streichelte, waren wir hin und weg. Elegant, geheimnisvoll und allein. Erst knutschte Tonya mit ihm, dann kam ich dazu und bald waren wir drei völlig betrunken von den Gin Tonics, die unser Bacchus literweise bestellte. Aus der entstandenen Dynamik heraus forderten wir ihn praktisch dazu auf, uns mit nach Hause zu nehmen, und er führte uns wie ein Sträfling murmelnd aus der Bar. Vielleicht erregte uns seine Passivität, die wir als Harmlosigkeit deuteten.
Wahrscheinlich mochte der Typ nicht, dass wir ihm Ja! Ja! in die Ohren schrien, oder er hatte einfach zu viele Tonics intus. Er sagte aber auch nichts, möglicherweise aus Angst, wir würden gleich wieder von vorne beginnen. Von unserem Feuer war mittlerweile kaum noch ein Glimmen übrig, das Spiel neigte sich dem Ende zu. Durst und Hunger drängten sich in den trunkenen Rausch.
»Uff, ich kann auch nicht mehr, übernimm du!«, sagte Tonya.
»Sag mal, wollen wir nicht einfach gehen?«
»Auch eine gute Idee. Ich muss nur kurz pinkeln.« Sie ging halb nackt auf Toilette, ihre vollen Brüste wackelten beim Gehen. Was für eine Verschwendung der Nacht, dachte ich. Der Typ lag immer noch einfach da wie der einbalsamierte Lenin und beobachtete, wie wir uns unsere Sachen zusammensuchten.
»Auf der Toilette hängt ein Frauenbademantel«, flüsterte Tonya.
»Tja, hoffentlich hat seine Frau heute mehr Erfolg als wir!«
Wir kicherten, zogen uns an und verschwanden. Ich wusste nicht mehr, ob der Typ noch etwas gesagt hatte. Ich hoffte nur, höflich genug gewesen zu sein, mich verabschiedet zu haben, vor allem, da wir uns nun so nahestanden. Vielleicht sollte ich mir seine Adresse notieren, um ihm Neujahrswünsche auszurichten.
Draußen war es noch dunkel, aber die Schneeräummaschinen krabbelten bereits über den Gehweg. Es musste fast Morgen sein. Ich schaute nach oben mit dem Wunsch, den breiten Himmel über mir in meine Lunge einzusaugen. Der Himmel wäre stark genug, den Alkohol zu vertreiben, hatte aber offensichtlich keine Lust dazu. Mir war sehr schwindelig. Tonya schaute auch zum Himmel auf, kippte dabei aber fast um. Eine blonde Locke klebte in ihrem Auge, ihre roten Backen und ihre Stirn glänzten vom Schweiß, oder vielleicht war es der Gin, der auf ihrer Haut verdunstete. Wir aßen ein bisschen Schnee von einer Fensterbank und wischten damit über unsere Gesichter. Dann schlurften wir in Richtung Metro und regten uns über den Typen auf. Was fiel ihm ein, uns mitzunehmen, wenn er eine Frau hatte, was war nur mit diesen Männern los, und warum war er so unfähig, uns richtig durchzunehmen?
Vor der Metro stellten wir fest, dass sie erst in einer halben Stunde aufmachen würde. Wir lehnten uns an eine Wand und stritten ein bisschen darüber, ob Kulitsch und Panettone das Gleiche seien. Dazu stellten wir auch noch fest, dass wir absolut kein Geld für irgendwas Essbares hatten, und ärgerten uns, bei dem Typen nicht lieber den Kühlschrank auseinandergenommen zu haben statt seiner Innereien.
Bald würden wir in irgendeiner Univorlesung dösen und die Nacht trotzdem als gelungen ansehen. Solange wir einander hatten, war der Rest der Welt für uns bloß ein zahnloser Hai.
Tonya sagte immer, wir seien sehr unterschiedlich. Sie fand mich zu chaotisch mit meinen Tagträumen. Mir würden Ruhe und Bescheidenheit fehlen. Man sollte fromm und fleißig seinen Zielen nachgehen und sich nicht zerstreuen wie eine Ziege auf dem Gemüseacker. Ein eigenes Haus, ein Labrador, der im Garten spielt, und eine Tasse Tee in den Händen, das würde ihr schon reichen. Für sie wäre es das gelungene Leben eines kleinen Menschen. Wie bei Graf Tolstoi, als er den Draht zur Welt komplett verloren hatte. Nur badete Tolstoi in seinen Adelstiteln, als er beschloss, den Rest seines Lebens mit dem Fangen von Glühwürmchen zu verbringen, während wir im Schlamm der nicht asphaltierten Straße badeten und das Einzige, was wir einfangen konnten, eine Erkältung war. Tonyas Vorstellung langweilte mich zu Tode. Denn ich hasste Häuser. Ein Haus steht meistens da, wo man es baut. Man ist gezwungen, immer dahin zurückzukehren. Mit dem Hund muss man auch noch spazieren gehen, meistens im Nichts, und als Dank stirbt er auch noch früher als man selbst. Ich könnte genauso gut mein eigenes Grab buddeln und daneben warten, bis mir gestattet würde, mich hineinzulegen. Das hätte mir noch gefehlt. Die reizende Ungewissheit für die trivialen Enttäuschungen des häuslichen Lebens aufzuopfern, und dann noch in einem Haus voller Hundehaare? Nein, danke. Ich beschloss, so lange unglücklich zu bleiben, wie es nur ging, denn das Glück brachte nichts als Trägheit und Stillstand, oder vielleicht sogar - Gott bewahre - ein Haus. Das konnte ich mir nicht leisten. Bewegung funktioniert nur dann, wenn man nicht wie ein Labrador vor sich hin glückt.
Hinter uns lag ein umtriebiges Studienjahr, in dem wir uns tierisch amüsiert hatten, und das dritte Semester fing gerade erst an. Dann, im Oktober, wurde Anna Politkowskaja ein paar Straßen von unserem Campus entfernt erschossen. Ziemlich ironisch, denn unser Studiengang hieß Politischer Journalismus.
Die Fakultät stellte den sogenannten putinistischen Glamour dar, einen Spiegel dieser satten, prosperierenden Epoche. Zum größten Teil studierten hier Kinder von Unternehmern, Managern und Regierungsbeamten. Die Aufnahmeprüfungen bestanden sie mit Schmiergeld, dabei hatten sie das Studium nicht mal nötig, eher hübschten sie damit ihren Lebenslauf auf, während die Fakultät sich wiederum mit den Namen ihrer Eltern aufhübschte. Sie verströmten eine Atmosphäre aus Müßiggang und Luxus, was jedoch nicht wie eine Veredelung, sondern eher wie eine Zwangsverglitzerung der gesamten Uni wirkte.
Freilich kreuzten sich unsere Wege kaum, sie lebten ja nicht in einem Wohnheim, zählten kein Geld und suchten keine Jobs. Stattdessen vergaben sie Jobs, mir zum Beispiel, als Nachhilfelehrerin. Denn arme, aber stolze Intelligenz gab es genug an unserer Fakultät. Sie fiel aber erst auf den zweiten Blick auf, sowohl unter den Studenten als auch den Professoren. Von der Korruption wussten alle, manche verurteilten sie, andere schwiegen aus Angst, was auf das Gleiche hinauslief. Neuankömmlinge wie ich und Tonya wussten am Anfang nicht mal, was für ein glamouröses Loch diese Fakultät darstellte. Wir wählten sie nur aufgrund ihrer guten Reputation, die eine Karriere in der internationalen Medienbranche versprach.
Wir wussten zwar, dass Medien zunehmend Probleme mit dem Staat bekamen, aber dass man so weit gehen würde, die Ikone des kritischen Journalismus zu erschießen, tagsüber, mitten in Moskau, in ihrem eigenen Haus, eröffnete eine neue Dimension der Unantastbarkeit unseres selbst ernannten Zaren. Diese Erkenntnis schockierte uns nicht weniger als der Mord selbst. Es war eine Sache, sich die Taschen mit Schmiergeld vollzustopfen, das gehörte in Russland zum Politikerdasein irgendwie dazu. Eine andere aber war es, wie Al Capone Personen des öffentlichen Lebens umzulegen. Die Polizei galt es längst zu meiden, ihr beim Vorbeigehen nicht in die Augen zu schauen und lieber mit dem Asphalt vorliebzunehmen, er war sowieso schöner anzusehen. Diese üblich gewordenen kollektiven Reaktionen der Menschen spiegelten sich in gebeugter Körperhaltung und versteinerten Gesichtsausdrücken wider. Es war die Angst, die man verinnerlicht hatte.
Wir waren zu jung, um patriotisch zu sein, und zu alt, um an den Triumph der Gerechtigkeit zu glauben. Die Perspektiven waren überschaubar. Wir könnten natürlich so weiterleben, als gäbe es keine Politik, stattdessen glamourös tun, in der visafreien Türkei Urlaub machen und Shoppingcenter durchstöbern. Wir könnten auch abwarten, ob es irgendwann wieder freie Wahlen, eine echte Opposition und keine Zensur mehr geben würde. Aber am besten würden wir nach Europa emigrieren, jetzt sofort, bevor es noch schlimmer würde, denn es könnte schlimmer werden. Russen flohen nicht zum ersten Mal, in jeder Generation gab es einen Massenexodus, man denke nur an die Bolschewiken vor hundert Jahren. Man sollte auch das Schicksal derjenigen nicht vergessen, die aus Liebe zum Vaterland eben nicht geflohen waren und als Dank, wie Mandelstam, Stalins Säuberungen zum Opfer fielen. In diesem Land, einem Fegefeuer für seine Einwohner, hat es nie ausgeschilderte Fluchtwege gegeben, höchstens eine unbeaufsichtigte poröse Mauer, durch die man verdunsten konnte. Und wir waren noch ätherisch genug dafür. Diese Entscheidung war die wichtigste in unserem noch kurzen Leben, und nachdem einen Monat später ein weiterer Regimekämpfer, Alexander Litwinenko, in London vergiftet wurde, hatten wir keine Zweifel mehr.
Wir stellten uns schon unser Leben in Europa vor, träumten davon, wie Djagilew alles Russische zur Mode zu machen, später vor dem Kamin Memoiren über die Verbannung aus dem Vaterland zu schreiben und im Testament von den Enkeln zu verlangen, unsere Asche im geliebten Birkenwald zu verstreuen.
Aber so leicht konnte man aus Russland nicht auswandern. Die Chancen auf ein Visum besangen sogar die berühmtesten Musiker, und zwar als einen unmöglichen Glücksfall. Ein Mensch, dem es gelang, ein Schengenvisum zu...
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