Schweitzer Fachinformationen
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»Wie geht es Ihnen dabei, Frau Winter?«
Mein Blick wanderte verständnislos zu der Therapeutin.
»Wobei?«, wollte ich wissen, weil sie mich mit ihrer Frage aus meinen Gedanken gerissen hatte.
»Damit, dass sich Davids Todestag bald jährt.«
Ich starrte die Frau ungläubig an. Was sollte ich auf diese bescheuerte Frage antworten? Ich hatte die Liebe meines Lebens vor einem Jahr, elf Monaten, sechzehn Tagen, vierzehn Stunden und ein paar Minuten verloren. Meinen Ehemann, meinen Traummann, meinen Seelenverwandten. Wie sollte es mir also gehen? Ich war eine neunundzwanzigjährige Witwe, was sich so falsch anhörte, wie es war. In diesem Alter ist man alles Mögliche - Single, verheiratet, vielleicht Mutter, aber Witwe ist man doch eher selten. Zumal es aus so heiterem Himmel dazu kam, dass ich den Umstand bis zum heutigen Tag nicht akzeptieren konnte. Seit der Beerdigung hatte ich nicht einmal die Kraft gefunden, Davids Grab zu besuchen, denn damit hätte ich anerkannt, dass er niemals mehr zu mir zurückkehren würde, und dazu war ich nicht bereit.
Frau Kunze rückte ihre Brille zurecht, etwas, was sie häufig tat, wenn sie die Geduld mit mir verlor, es aber nicht zeigen wollte. Sie blätterte durch ihre Notizen und sah mich dann wieder durchdringend an. »Ich sehe, Sie feiern in der kommenden Woche Ihren dreißigsten Geburtstag. Ist das ein Problem für Sie?«
Noch so eine bescheuerte Frage. Ich schüttelte innerlich den Kopf und fragte mich nicht zum ersten Mal, weshalb ich überhaupt noch herkam. Weder Frau Kunze noch die vier anderen Therapeuten hatten mir in irgendeiner Weise weiterhelfen können. Im Gegenteil - meistens fühlte ich mich noch schlechter, wenn ich die Praxis nach einer Therapiesitzung wieder verließ. Bloßgelegt und verletzt, so als hätten diese unsinnigen Fragen den Schorf von meiner Seele gekratzt, die nun erneut blutete. Trotzdem kam ich nicht umhin, über ihre Frage nachzudenken. Würde David noch leben, hätte er sich sicherlich etwas unglaublich Schönes für meinen Geburtstag einfallen lassen. Vielleicht wären wir verreist an einen exotischen, romantischen Ort, oder er hätte eine Überraschungsparty für mich geplant. Womöglich hätten wir aber auch ein Kind und würden - statt zu feiern - ein gemütliches Essen zu Hause zubereiten und uns danach leise lieben, damit wir das Baby nicht aufweckten. Wer weiß? Ich würde es nie erfahren, weil sich meine Zeitrechnung seit fast zwei Jahren in »vor dem Unfall« und »danach« aufteilte. Und alles, was »vor dem Unfall« möglich gewesen war, alle Träume und Chancen und Hoffnungen, waren im »Danach« der Erkenntnis gewichen, dass es nun für mich kein Morgen mehr gab. Ich hatte nur noch ein Gestern, weil alles Gute, Helle und Schöne in der Vergangenheit lag und mit David gestorben war.
»Frau Winter, möchten Sie unsere Sitzungen überhaupt fortführen? Sie kommen seit über zwei Monaten jede Woche her und schweigen mich eine Stunde lang an. Es bleibt selbstverständlich Ihnen überlassen, wie Sie die Zeit hier nutzen, aber ich sehe nicht, dass wir eine gemeinsame Gesprächsebene entwickeln.«
Wieder starrte Frau Kunze mich aus Augen an, die hinter ihrer riesigen Brille wie die einer Eule wirkten. Sie hatte recht, das alles brachte gar nichts.
Ohne ein weiteres Wort stand ich auf, nahm meine Jacke und ging. Frau Kunze rief mir noch etwas nach, doch ich verstand es nicht, weil meine Gedanken schon wieder in die falsche Richtung zu wandern drohten, nämlich zu der einen entscheidenden Frage: Wozu das alles noch? Ich zwang mich, gedanklich kehrtzumachen, und rannte die lange Treppe hinunter, um nur schnell fortzukommen von dieser schicken, sterilen Altbaupraxis und von Frau Kunze, die ich von Anfang an nicht gemocht hatte. Nur mir selbst und meiner Trauer konnte ich nicht entfliehen.
Vor der Tür erwartete mich ein trüber, regnerischer Tag, der Köln in all seiner einbetonierten Tristesse noch unschöner erscheinen ließ. Ich blickte auf die Uhr und stellte fest, dass es Zeit für meine Medikamente war. Vor dem Unfall war das Stärkste, das ich je zu mir genommen hatte, eine Aspirin-Tablette gewesen, und das auch nur dann, wenn ich extreme Kopfschmerzen hatte. Nach dem Unfall jedoch kam ich ohne Chemie kaum durch den Tag. Antidepressiva, Angstlöser, Schlafmittel - egal was, Hauptsache, es half, mich zumindest zeitweise zu betäuben. Zudem klammerte ich mich an eine gewisse Routine - einer der wenigen Ratschläge meiner Therapeutin, die ich zu beherzigen versuchte. Ich stand brav jeden Morgen um Punkt sieben Uhr auf, kochte Kaffee und deckte den Tisch für zwei, weil es mich davor bewahrte, schon am frühen Morgen Dinge zu akzeptieren, für die ich zuerst ein gewisses Maß an Koffein, Tabletten und Alltagsgefühl brauchte. Nach dem Frühstück ging ich duschen. Das war wichtig, denn eine Zeit lang hatte mir selbst dazu die Kraft gefehlt, was einen echten Tiefpunkt in meinem Leben nach dem Unfall markierte. Das wollte ich nicht noch einmal durchmachen, also duschte ich - Morgen für Morgen. Anschließend setzte ich mich an den Schreibtisch und übersetzte schlechte Liebesromane ins Deutsche, was meilenweit von meinen ursprünglichen Karriereplänen entfernt war, die »vor dem Unfall« mal vorgesehen hatten, dass ich bei einer renommierten Zeitung anfangen oder sogar ein eigenes Buch schreiben würde. Stattdessen suchte ich nach Synonymen für bebende Busen und pulsierende Glieder. Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet ich den ganzen Tag mit Schnulzen zubrachte, hatte ich doch im wahren Leben der Liebe gezwungenermaßen abgeschworen. Immerhin erlaubte mir der Job eine freie Zeiteinteilung sowie ein verschwindend geringes Maß an zwischenmenschlicher Interaktion, was mir sehr entgegenkam.
Ich arbeitete genau drei Stunden, dann aß ich einen Snack und ging einkaufen, was mir die Illusion erlaubte, so wie alle anderen zu sein. Niemand sah mir an, dass ich später allein an meinem Küchentisch sitzen, Zwiesprache mit einem Foto halten und zu viel Wein trinken würde. Ich ging gerne vormittags einkaufen, wenn weniger Familien unterwegs waren, denn »vor dem Unfall« hatten wir gerade beschlossen, auf Verhütung zu verzichten. Ein Baby wäre die Krönung unserer Liebe gewesen - eine perfekte kleine Mischung aus ihm und mir, die es nun niemals geben würde. Anschließend sah mein strikter Tagesplan vor, dass ich meine Einkäufe in den dritten Stock in meine viel zu große, viel zu teure Wohnung schleppte und verstaute und im Anschluss meine Mutter anrief, damit sie sich keine Sorgen machte. Um Punkt fünfzehn Uhr ging ich spazieren, weil alle sagten, dass frische Luft guttat. Ich war genau zwei Stunden unterwegs und kehrte um siebzehn Uhr nach Hause zurück, um mein einsames Abendessen vorzubereiten. Ich deckte nur für mich. Abends war das einfacher, denn David war zuletzt beruflich oft eingespannt gewesen und spät heimgekommen, sodass er sich nur noch Reste aus dem Kühlschrank in der Mikrowelle warm machte und nach dem Essen auf dem Sofa neben mir einschlief. Ich aß, dann räumte ich das einzelne Gedeck in die Spülmaschine, die nur alle drei bis vier Tage lief, weil ich so wenig Geschirr brauchte, dass es sich kaum lohnte, sie anzustellen. Wenn ich damit fertig war, konnte ich mich belohnen. Endlich. Ich konnte in meine alte Jogginghose steigen, meine Haare nach hinten zu einem unordentlichen Dutt auftürmen und mir ein großes Glas Wein einschenken. Auf dem Sofa erzählte ich David dann, wie langweilig mein Tag gewesen war, was meine Mutter am Telefon über Papa und seinen bevorstehenden Ruhestand berichtet hatte, und dann lachte ich mit ihm über den albernen Roman, den ich zurzeit übersetzen musste und der von Annabell und Lord Rupert handelte, die eine Zweckehe eingegangen waren, aber gerade ihre Leidenschaft füreinander entdeckten. Sein Foto lehnte dabei an der Rotweinflasche. Es war ein Bild von unserem letzten Urlaub in der Bretagne. David trug die scheußliche Radlerhose mit passendem Hemd, die Haare waren plattgedrückt vom Helm. Sein Rennrad stand im Hintergrund. Als Kulisse für den Schnappschuss hatten wir einen alten Leuchtturm gewählt, dessen Farbe abblätterte vom Wind und der salzigen Luft. Das Meer war dunkel und aufgepeitscht, und der Himmel schien am Horizont nahtlos ins Wasser überzugehen, was aussah, als wären einem Maler die Farben verlaufen.
David aber leuchtete. Seine Augen, sein Mund, alles an ihm sprühte vor Lebensfreude und Optimismus. Er hatte eine Hand gehoben wie zum Gruß, und ich konnte unseren Ehering sehen, der einen der wenigen Lichtstrahlen an diesem Tag reflektierte. Kurz nachdem das Foto entstanden war, hatte ein Blitz den dunklen Himmel zerrissen, und nach einem ohrenbetäubenden Donner hatte es angefangen zu schütten.
»Siehst du, ich habe doch gleich gesagt, wir sollten in der Pension bleiben!«, brüllte ich ihm über den prasselnden Regen hinweg zu, doch David lachte nur und schüttelte sich die Tropfen aus den Haaren, während er mich hinter sich herzog. So waren wir. David ging voran, und ich folgte ihm. Er war immer gut gelaunt, sein Glas stets halb voll, wohingegen ich meist ängstlich und vorsichtig und bedacht war. Vielleicht hatten wir genau deshalb so gut zusammengepasst, waren perfekt als Paar, wie zwei Hälften, die man zusammenfügt und ein Ganzes erhält.
Ich trank einen großen Schluck Wein und starrte auf sein Bild. Die Erinnerung an diesen gemeinsamen Urlaubstag war so schön und zugleich so schmerzhaft. Wir hatten uns am...
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